"Wir kennen die Welt nicht, in der wir leben". Sein Leben lang hat Ernst Forsthoff (1902-1974) sich als heroischen Realisten dargestellt. Geprägt vom jungkonservativen Widerstand gegen die Weimarer Republik, im Einflußfeld Carl Schmitts und Ernst Jüngers sozialisiert und durch sein kurzzeitiges Eintreten für den "totalen Staat" Hitlers lebenslang belastet, wurde Forsthoff später zu einem der bedeutendsten deutschen Juristen und Staatsdenker des 20. Jahrhunderts. Die Zerstörung des bürgerlichen Paradigmas im Öffentlichen Recht durch die "elementaren Mächte" der Moderne wurde seit der epochemachenden Schrift über "Die Verwaltung als Leistungsträger" aus dem Jahr 1938 zu seinem Lebensthema. Er gilt als Entdecker der staatlichen "Daseinsvorsorge" und als scharfsinniger Verfechter eines formalen, institutionenbezogenen Rechtsstaatsbegriffs. Aber Forsthoffs Werk enthält viel mehr als Dogmengeschichte, es ist ein Schlüssel zur politischen Ideen- und Verfassungsgeschichte seiner Zeit. Florian Meinels grundlegende werkgeschichtliche Untersuchung fragt nach verborgenen Bedeu-tungsschichten: Nach den geistigen Einflüssen, die in diesem Werk wirksam gewesen sind, nach den rechtsphilosophischen und politischen Überzeugungen, die es tragen, nach der Auffassung vom Ethos des Juristen. Dies geschieht auf der Basis einer Fülle neuer Quellen, insbesondere des bisher unbekannten Nachlasses Forsthoffs. In der systematischen Rekonstruktion von Forsthoffs Denken wird seine bisher kaum bekannte Rechtsphilosophie aus den Jahren des Zweiten Weltkrieges in ihren Zusammenhängen sichtbar, seine Naturrechtskritik und seine von der Sprache ausgehende Begründung einer Rechtsphilosophie der Institutionen. Der Kern des fundamentalen Paradigmenwechsel zum "Leistungsstaat" lag für Forsthoff in der strukturellen Auflösung der bürgerlichen Distanz zwischen Individuum und Staat in der modernen industriellen Gesellschaft. Um diese Aufhebung der rechtlichen Subjektivität kreist sein gesamtes Werk. Forsthoffs Frage war die ungelöste Verfassungsfrage des 20. Jahrhunderts.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Florian Meinels große Studie zum Werk von Ernst Forsthoff
Ein wahrhaft großer Jurist zeichne sich durch Tugenden wie geschichtliches Bewusstsein, Vertrauen in die Verlässlichkeit der Normalität, festes Staatsethos und unverstellte, freie Vaterlandsliebe aus, würdigte Ernst Forsthoff im Januar 1967 seinen Heidelberger Amtsvorgänger und ungleichen Freund Gerhard Anschütz zum hundertsten Geburtstag. Knapp fünfundvierzig Jahre später erinnert Florian Meinel auf der Schlussseite seiner Biographie des Staats- und Verwaltungsrechtslehrers Ernst Forsthoff an dessen Tugendkanon. Wenige Zeilen zuvor heißt es über den Laudator, dessen eigene, von radikaler Skepsis gegenüber der Entwicklung der Bundesrepublik getrübte Perspektive habe sich damals auf zwei Pole verengt: Erinnerung und Polemik.
Wenn Meinel seine Abhandlung nicht mit polemischen Attacken des Juristen schließt - von denen der Autor an anderen Stellen seines Buchs umfangreiches Zeugnis gibt - sondern mit nachdenklichen Erinnerungen des späten Forsthoff, so spricht daraus gewiss auch Respekt des Doktoranden Meinel für den "in seiner Generation . . . bedeutendste(n) Vertreter des Öffentlichen Rechts in Deutschland". Vor allem aber wird in den fast elegischen Schlussakkorden Meinels noch einmal deutlich, wie ernst es dem Autor damit ist, Forsthoffs staats- und verwaltungsrechtliche Auseinandersetzung mit den Umbrüchen im zwanzigsten Jahrhundert zu durchdringen und dabei auch Bedeutungsschichten unter der Oberfläche polemischer Tiraden des Rechtsprofessors freizulegen.
Für sein ambitioniertes Vorhaben einer "entwicklungsgeschichtlichen Deutung der Ideenwelt Forsthoffs" hat Meinel großes Lob bekommen, auch von renommierten Staatsrechtslehrern und Forsthoff-Kennern wie Hans-Hugo Klein und Michael Stolleis. Außergewöhnlich ist Meinels "Forsthoff" schon wegen des intensiven Quellenstudiums. So ist es Meinel gelungen, für seine Arbeit umfassenden Zugang zu Forsthoffs Nachlass zu bekommen; ein Privileg, welches die Familie bis dahin niemandem gewährt hatte. Sensationen, die das Bild Forsthoffs revolutioniert hätten, förderte die Durchsicht freilich nicht zutage.
Der junge Forsthoff wird zunächst geprägt durch den konservativen, national gesinnten Vater, einen evangelischen Pfarrer und eifrig publizierenden Theologen, der während des zeitweiligen Bündnisses des Protestantismus mit dem Nationalsozialismus höhere Ämter innehatte. Es folgt Forsthoffs "Entscheidung für den totalen Staat", wie Meinel das Kapitel über das Bekenntnis des jungen Staatsrechtlers zum Nationalsozialismus, in Anlehnung an dessen propagandistische Schrift "Der totale Staat" von 1933 nennt. Diesem ersten entwicklungsgeschichtlichen Teil der Biographie schließt sich ein Abschnitt über Forsthoff den Verwaltungsrechtswissenschaftler und "Entdecker" der Leistungsverwaltung an. Zu dieser herausragenden Rolle Forsthoffs ist Meinel eine Analyse gelungen, die eine gewisse Sprödigkeit ihres Stoffes durch das lebhafte, zuweilen bewundernde Interesse an der bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistung des Verwaltungsrechtlers beim Paradigmenwechsel zur Daseinsvorsorge überwindet.
Nach dem ausgedehnten Ausflug ins Verwaltungsrecht blickt Meinel zunächst wieder zurück auf das Jahr 1935. Enttäuscht und abgestoßen von der Entwicklung des Nationalsozialismus bemüht sich Forsthoff um Neuorientierung - eine Suche, die abermals in Enttäuschung mündet. Denn von dem politischen Ideal, das dem Staatsrechtler für Nachkriegsdeutschland vorschwebte, einem dezentralisierten Verwaltungsstaat auf genossenschaftlicher Grundlage, war die parlamentarisch-rechtsstaatliche Neuordnung Deutschlands weit entfernt. Wenngleich Forsthoffs Vorstellungen von Meinel als "restaurativ" kritisiert werden, wehrt der Autor sich entschieden gegen Deutungen, als Staatsrechtler habe sich Forsthoff im Grunde nur auf die Bewahrung traditioneller Bestände beschränkt. Die Rolle des "harmlosen Nostalgiker(s)", die man ihm damit zugewiesen habe, werde Forsthoffs Einfluss auf die staatsrechtliche Diskussion der fünfziger und sechziger Jahre nicht gerecht. Obwohl oder vielleicht auch gerade weil Forsthoff das Grundgesetz "mit dem kalten Blick des Ungläubigen" betrachtet habe, sei er als einer der gefragtesten Rechtsgutachter und Regierungsberater seines Fachs an den Kontroversen über den Sozialstaat und die Verfassungsauslegung beteiligt gewesen.
Aber je mehr sich Forsthoffs Blick auf die heranwachsende sozialstaatliche Industriegesellschaft verdüsterte; je stärker er technischen Fortschritt als Bedrohung wahrnahm und die Rolle des Staates und der Rechtswissenschaften gefährdet sah; je wütender er gegen die "Situationsjurisprudenz" des Bundesverfassungsgerichts polemisierte und je ohnmächtiger er sich gegenüber alldem fühlte, desto mehr geriet Forsthoff dann tatsächlich zum Außenseiter. Über dieses letztlich vergebliche Ringen des Staatsrechtlers mit der neuen Verfassungswirklichkeit ist in dem vierten und letzten Teil von Meinels Werkbiographie zu lesen.
Charakteristisch für das Buch ist, in welcher Breite und Tiefe Meinel das Denken und Werk des Juristen Forsthoff ausleuchtet - und sich dabei als ausgezeichneter Kenner der Verfassungs- und Ideengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts erweist, der sorgfältig intellektuelle Strömungen und gesellschaftliche Entwicklungen analysiert, zahlreiche Verbindungslinien und Parallelen zwischen Forsthoff und anderen Gelehrten zu ziehen weiß und zugleich ein sicheres Gespür für intellektuelle Nuancen, Abgrenzungen und Differenzen hat.
Meinels scharfer Blick für Veränderungen und Unterschiede kennzeichnet auch seine Analyse zum Verhältnis zwischen Ernst Forsthoff und Carl Schmitt. Mehr als eine - wenngleich für höchst wichtig erachtete - Nebenrolle gesteht der Autor dem Lehrer Schmitt freilich nicht zu. Schmitt wird von ihm nur sporadisch einbezogen, etwa um das unterschiedliche Denken und Verhalten der beiden Juristen im Nationalsozialismus und beim späteren Umgang mit der eigenen nationalsozialistischen Verstrickung hervorzuheben.
Meinel akzentuiert aber auch "geradezu gegensätzliche" staatsrechtliche Auffassungen in jenen Jahren, in denen Forsthoff den 1933 abgebrochenen Kontakt zu Schmitt wiederaufgenommen hatte. Zuspitzend schreibt der Autor, Schmitt sei "ein Theoretiker der Gegenrevolution" gewesen, Forsthoffs Ideal dagegen "das Gegenteil einer Revolution". Knapp und kühn folgert Meinel: "Forsthoff war ein Konservativer, Schmitt nicht."
Aber inwieweit hat das Denken Forsthoffs, der sich doch selbst mehr und mehr als letzter Jurist in der industriellen Gesellschaft empfand, für die Gegenwart noch Bedeutung? Die juristischen Lebensideen Forsthoffs, die Suche nach Sinnstiftung für Staat, Gesellschaft und Rechtswissenschaft in der modernen Massendemokratie erklärt Meinel für gescheitert. Und große Debatten, die Forsthoff geprägt habe, seien "historisch, um nicht zu sagen: antiquarisch". Gleichwohl bleiben aktuelle Fragen und Probleme mit Forsthoffs Werk verknüpft: Die Idee der Daseinsvorsorge, die heutzutage unter dem Stichwort Gewährleistungsstaat diskutiert wird; der Einfluss von Partikularinteressen im modernen Gewand des Lobbyismus; das Ringen des Staates um Gestaltungsmacht in der technisierten Massengesellschaft, das durch Europäisierung und Globalisierung noch komplizierter geworden ist; und schließlich die andauernde Debatte über die Rolle des Bundesverfassungsgerichts zwischen Recht und Politik. Meinels Buch ist deshalb nicht nur eine historische Abhandlung. Es schärft zugleich den Blick für alte und neue Herausforderungen des modernen Verfassungsstaates.
KATJA GELINSKY.
Florian Meinel: "Der Jurist in der industriellen Gesellschaft". Ernst Forsthoff und seine Zeit.
Akademie Verlag, Berlin 2011. 557 S., geb., 79,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH