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Zig Chinesen und kein Kontrabass: Tilman Rammstedts brachial komischer und tief humaner, bachmannpreisgekrönter Roman ist eine Reise ins China des Herzens, wo die fröhliche Wiedergeburt regiert.
Von Oliver Jungen
Bei uns macht das der Frosch. Leiter rauf, Leiter runter, immer schlecht gelaunt. In China ist die Wettervorhersage Sache Pu-tais, zu deutsch: Hanfsack. Hanfsack spaziert übers Land, so unbesorgt, dass es eine Lust ist. Schläft er auf Brücken, wird es sonnig; trägt er Holzsandalen, kommt Regen. Was ihn vom Frosch unterscheidet: Die Meteorologie ist bloß ein Hobby, denn eigentlich hat Hanfsack eine ganz andere Mission. Hanfsack lacht. Lacht, dass es nur so bebt, weil sein gewaltiger Bauch dabei auf die Erde trommelt. Lacht sich einen Ast, einen Baum, einen ganzen Maulbeerwald. Durch alle Dörfer lacht er, hochgradig ansteckend, zieht erst weiter, wenn niemand mehr widersteht.
China ist da, wo alles andere aufhört. Es war schon da, bevor alles andere angefangen hat. China besteht aus Porzellan, aus Hüten, aus Papier, aus hüpfenden Schirmschatten, ist ein evolutionsgeschichtlicher Rülpser, ein pränatales Schnauben des Weltgeistes, der noch in keinen Spiegel geschaut hat. China ist überall, unter allem, hinter allem, ist das All selbst, wenn es sich kugelt vor Lachen, ist die Blüte der Kirsche, der Bauch des Buddhas, eine einzige Überforderung: "Man will ,Entschuldigung' sagen können, man will ,Nein, das daneben' sagen können, man will sich auskennen und Straßenschilder verstehen." China ist irgendwo in uns. Selbst im Frosch. Denn egalitär ist China ja auch, weil alles egal ist: "Wei-Dynastie, Sui-Dynastie, Tang-Dynastie, Hong-Dynastie, ganze Jahrhunderte purzelten durcheinander und waren mir vollkommen gleichgültig." Was soll heißen, es gibt seit Pu Yí keinen chinesischen Kaiser mehr? Es gibt dort gar nichts anderes als Kaiser, und einer steht gerade vor uns, beileibe kein unbedeutender, sondern ein unermesslicher, einer, der nicht altert, der so prallvoll mit Lebensübermut ist, dass er es sich sogar leisten kann, vorübergehend tot zu sein, nicht nur tot, sondern: tot im Westerwald.
Im Nebenberuf ist der Kaiser von China ein einarmiger Großvater, was man in diesem Fall getrost als "GV" abkürzen darf, denn seine Potenz scheint unerschöpflich. Er ist reines Glutamat: Mit diebischer Freude schnappt er seinem Lieblingsenkel die Freundinnen weg, bis dann, eines späten Tages, der Enkel dem Großvater die junge Geliebte ausspannt. Aber ist dem wirklich so? Vermacht der alte Weise sie ihm nicht vielmehr? Und schließt die Augen, wenn die beiden jungen Menschen sich vereinen, wozu sie offenbar nur in seinem Blickfeld in der Lage sind? Franziska heißt die Freundin des Helden, die eben noch seine Großmutter war, Keith heißt er selbst, einen Namen, den Franziska nicht in den Mund nimmt, lieber nennt sie ihn "Kapunkt", "Mick", "hin und wieder auch ,Dingens', was sie lustiger fand als ich". Keith hockt tagelang unter seinem Schreibtisch, Franziska zertrümmert Gegenstände, das Standesamt scheint eine Art Fluchtpunkt zu sein, während der Großvater einerseits tot im Westerwald liegt und andererseits quicklebendig durch China tingelt.
Aber was heißt schon einerseits und andererseits, wo doch alles eins ist, Yin und Yang. Nur was, bitte schön, ist hier los? Alles ist los, ist gelöst, explodiert in unserer Hand wie ein Chinaböller. Befreit regnen die Zeitungsschnipsel auf uns herab. Der Held, scheint es, steht nicht viel anders da als wir. Komplexität muss reduziert werden, mit dieser Hochzeit zum Beispiel - "dann wären immerhin Tatsachen geschaffen, das würde es einfacher machen". Und so einfach ist es: Tilman Rammstedts Roman ist ein Tempel, ein Affenzirkus, eine Liebeserklärung an die Phantasie, weil die Phantasie eine Liebeserklärung an das Leben ist. "Der Kaiser von China" ist ein Buch, das uns die richtige Station verpassen lässt, die richtige Bahn, die richtige Stadt, alles scheinbar Richtige, den Schlaf, den Einkauf, das Kino-Rendezvous, die Deadline; ein Roman, aus dem wir nicht aussteigen können, nicht bei diesem Tempo, der uns hochreißt, mitreißt, wegreißt, weit fort, und der uns erschüttert, weil wir plötzlich, Tränen lachend, hinter der irrwitzigen, kalligraphisch verzierten Fassade eine tiefe und freundliche Wahrheit erblicken, weil ein Buddha in seinem Inneren sitzt, Pu-tai selbst, der immer Wiedergeborene, Sonne und Regen im Hanfsack. Ein ganz und gar undeutsches Buch ist das, das nicht nur jeden Preis verdient, sondern bereits zwei bedeutende gewonnen hat, bevor es überhaupt erschienen ist. Ins Klagenfurter Seriositätenkabinett, diesen Porzellanladen, brach Rammstedt mit der Wucht einer Elefantenhorde ein.
Worum geht es denn nun? Um scheinbar Alltägliches: Eine gemeinsame Reise schenken die Enkel dem alleinerziehenden Großvater, die natürlich doch wieder am Lieblingsenkel Keith hängenbleibt. Der aber beginnt sich zu sperren, als der Wunsch China lautet. Großvater greift zum großväterlichen Universalargument: "Ich sterbe", wobei Keith längst davon überzeugt ist, dass er das niemals tun wird: "Sein Ehrgeiz, nicht zu sterben, wurde nach und nach zu einer ausgewachsenen Obsession. Alle paar Tage mussten wir mit ihm zum Friedhof, wo er dann Grab um Grab abschritt und triumphierend ,Jünger', ,Viel jünger', ,Fast gleich alt' rief." Wie sagte schon Bazon Brock: "Der Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören." Wütend wird Buddha Großvater nie, aber energisch, als der Enkel eine Fliege erschlagen hat, die ihn nervte: "Bei uns wird niemand erschlagen, weil er nervt." Keith also kommt Franziska näher. Sie verjubeln das Reisegeld, die Reise verschiebt sich, der Großvater, immer kränklicher nun doch, verschwindet, und Keith versteckt sich schlechten Gewissens unter dem Tisch. Postkarten aus China erreichen ihn, einem ganz eigenen China: "Das Bild des dicken goldenen Mannes war aus irgendeinem Reiseprospekt herausgerissen und notdürftig über eine Gratispostkarte geklebt worden, eine Ecke hatte sich bereits gelöst, ein Eisbär kam darunter zum Vorschein." Dann der Anruf, der den Tod des Großvaters im Westerwald mitteilt. Keith, der unter dem dominanten Großvater stets gelitten hat, nur kleinste Siege errang, wenn er ihn etwa in "Pete's Metal Eck" mitnahm, will diesen Tod aber doch nicht hinnehmen. Die Identifikation schiebt er hinaus. Stattdessen greift er zum Stift. Während er dem Großvater nur wenig mitzuteilen hat, acht Worte genau ("Lieber Großvater, du bist tot. Viele Grüße, Keith"), schreibt er seinen Geschwistern Briefe, in denen er von der gemeinsamen China-Reise berichtet. Wie diese Ebene, die ja innerhalb des Romans zugestanden erfundene, nun allmählich den Roman unterläuft und übernimmt, Tatsachen schafft, das ist so konsequent wie kunstvoll. Viele Aspekte der scheinbar echten Handlung - aber was soll da echter sein? - werden aufgenommen und neu interpretiert. Am beeindruckendsten wohl die weit ausholende Erzählung über Großvaters frühe Liebe Lian und wie diese zum Verlust seines Arms geführt hat. Eine wahnwitzige und selten zärtliche Liebesgeschichte blüht da lotoshaft vor uns auf: Lian ist ein weiches, gefühlvolles, todgeweihtes Monstrum. Der Großvater füttert sie mit "wagenradgroßen Pfannkuchen, ganzen Schubkarren voller Kartoffeln". Sie erleben das größte Liebesglück. Er will nicht, dass Lian stirbt, worauf diese antwortet, sie wolle auch nicht, dass er sterbe; das verspricht ihr der Großvater.
Eine Entschlossenheit fährt da in Keith, die ihn unter dem Tisch hervorjagt. Dann endlich, mitten in der Pathologie, bricht es aus ihm heraus, geschieht die Wandlung des Keith Stapperpfennig zum Chinesen: "Auf einmal musste ich anfangen zu lachen, ich konnte gar nicht mehr damit aufhören, die Tränen liefen mir die Wangen hinunter . . . dann prustete es wieder aus mir heraus, mein ganzer Körper bebte, meine Bauchmuskeln schmerzten, und ich war unglaublich erschöpft, und ich war unglaublich erleichtert." Tilman Rammstedts Roman ist eine einzige Verbeugung vor der Metaphysik der Komik. So nah ist man lange nicht an China herangekommen, das echte, poetische.
- Tilman Rammstedt: "Der Kaiser von China". Roman. DuMont Verlag, Köln 2008. 192 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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