Ein berühmter italienischer Tenor wird während der Aufführung von Puccinis "Tosca" auf offener Bühne erschossen.
Die Kinder des Täters, die Zwillinge Patrice und Patricia, reisen nach Berlin, um zu verstehen, wie es zu dieser Tat kommen konnte. Schicht für Schicht legen sie die Beweggründe frei, die ihren Vater, einen legendären Klavierstimmer und glücklosen Opernkomponisten, zur Waffe greifen ließen. Jahre zuvor waren sie vor ihrer inzestuösen Liebe in verschiedene Hemisphären geflohen. Ihr Wiedersehen und die zunächst unbegreifliche Tat des Vaters führen dazu, daß sie ihre Sprachlosigkeit beenden und aufschreiben, wie sie ihre einstige Intimität erlebt haben. Ein befreiender Prozeß des Erinnerns beginnt.
Die Kinder des Täters, die Zwillinge Patrice und Patricia, reisen nach Berlin, um zu verstehen, wie es zu dieser Tat kommen konnte. Schicht für Schicht legen sie die Beweggründe frei, die ihren Vater, einen legendären Klavierstimmer und glücklosen Opernkomponisten, zur Waffe greifen ließen. Jahre zuvor waren sie vor ihrer inzestuösen Liebe in verschiedene Hemisphären geflohen. Ihr Wiedersehen und die zunächst unbegreifliche Tat des Vaters führen dazu, daß sie ihre Sprachlosigkeit beenden und aufschreiben, wie sie ihre einstige Intimität erlebt haben. Ein befreiender Prozeß des Erinnerns beginnt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.1998Ein Dakapo für das Verbotene
Kopfmusik: Pascal Merciers "Der Klavierstimmer"
Die heilende Wirkung des Erzählens ist keine Erfindung des nervenkranken Wiens. Was auf Freuds Couch eine "talking cure" hieß, versprach die Literatur früher und ebenso rezeptfrei. Pascal Merciers Roman "Der Klavierstimmer" gehört zu diesem Genre der Lebensbeichte, das die Absolution in die eigene Schreibhand nimmt. Der Leser steckt in der Rolle des Seelenvoyeurs. Er darf dem Sünder in die Seiten schauen. Für den Schreiber ist die Darstellung der Vergangenheit schon ihre Bewältigung. Erfüllt er das selbstauferlegte Gebot der Ehrlichkeit, winkt ihm zum Lohn ein neues Leben. In dem Maße, wie er die Seiten füllt, wird sein Vorleben zu einem unbefleckten weißen Blatt. Die Niederschrift ist der Befreiungsschlag aufs Papier, das Versprechen einer sentimentalisch mißverstandenen Hermeneutik, daß Verstehen und Verzeihen eins seien.
Auch die Geschwister Patrice und Patricia Délacroix, einander ähnlich über ihre Zwillingsnatur hinaus, schließen einen "Pakt des Erzählens". Vierzehn Hefte werden es am Ende sein, nach denen sich ihre Geburt wiederholt, weil sie endlich frei voneinander sind. Abwechselnd liest man ihre Konfessionen, die auf den Ton stiller Verzweiflung festgelegt sind. Langsam ersteht aus diesen Tiefenbohrungen in die Zeit das Panorama einer Familie, in der die Krankheit zum Tode erblich war.
Den Vater verfolgt der Alptraum einer Waisenhausjugend bis in die unbewußte Geste. Obwohl mit Disziplin der Armut entronnen und nun ein angesehener Klavierstimmer, kann er die Last der traurigen Herkunft nicht abschütteln. Er komponiert Opern, um die Anerkennung der ihm gleichgültigen Mitmenschen zu erzwingen; keine wird aufgeführt. Jeder verlorenen Wettbewerb treibt ihn tiefer in die Erfolglosigkeit seines Lebens hinein.
Seine Frau ist eine Balletteuse, der ein Unfall die Hüfte zerschmetterte. Seitdem lebt sie von Morphium und mit einer Vergangenheit, die noch weniger heil als ihre Knochen ist. Wie ihr Mann um das Lebensglück betrogen, hat der Schuldige bei ihr ein konkretes Gesicht, und seiner wird täglich gedacht, weil nur die Wollust des Hasses den Schmerz in Körper und Seele beruhigt. Die Flucht der Zwillinge vor den elterlichen Hysterien gebiert das Ungeheuer einer Intimität, mit der sie das Unglück ihrer Geburtstrennung rückgängig machen möchten. Sie pflegen ihre Verschmelzungsphantasien, bis das Begehren sie über die Tabugrenze in den Inzest zieht. Seit dieser Vereinigung ist die Welt nicht groß genug, um Abstand zwischen sie zu legen. Das Exil wählen sie als Selbstbestrafung, ohne den Erinnerungen zu entkommen. Erst in der Katastrophe des Berliner Elternhauses und im Wiedersehen nach sechs Jahren entdecken sie die Schreibtherapie. Sie wird zu einem zweiten Abschied voneinander, nach dem sie mit den Eltern auch ihre Schuld beerdigen können. Es ist der Stift, der Familienbande endgültig durchtrennt. "Der Klavierstimmer" wählt die Oper nicht nur als Ort der Handlung, sondern bereitet den Leidensarien der Figuren auch ihre Bühne. Dieser Roman macht sich der Oper gleich, weil er sein Gattungsmerkmal: die individuelle Beobachtung des Psychischen, durch das mythologische Ritual ersetzt. Die Figuren leiden nicht an ihrer Seele, sondern an der Wiederkehr des Gleichen. Der Inzest stößt den Kindern nicht zu, sondern vollzieht sich an ihnen als genealogischer Fluch. Schon die Mutter hatte sich des eigenen Vaters vergeblich erwehrt. Das Erlittene gibt sie an den Sohn wie einen Auftrag weiter. Die bürgerliche Familie wiederholt das Schicksal eines griechischen Geschlechts. Der Bürger bannt die Gefahr, indem er sie mit den Namen des Mythos beschwört. Entlastet von der Einmaligkeit, erlaubt sich das Verbotene ein mythisches Dakapo.
Das Buch ist klug, denn es weiß um seine Selbstbedienung an der Weltliteratur; Bildungsbürgerlichkeit teilen die Figuren mit ihrem Autor. Zu trotzig fordert der Vater dem Leben Gerechtigkeit ab, als daß er die Wahl seines letzten Opernstoffes, Kleists "Michael Kohlhaas", dem Zufall zuschieben könnte. Zu theatralisch ist das mörderische Finale mit dem Schuß von der Loge, als daß der Leser sich nicht auf dem philosophischen Trampelpfad durch Schein und Sein wähnte. Wie die Figuren sich im Opernstoff bewußt entlasten, so erleichtert sich der Autor im versteckten Zitat. Den Inzest aus Wagners "Walküre" parodierte schon Thomas Mann in den Wallungen des "Wälsungenblut". Wenn Merciers Zwillinge einander an den Händen halten, ist das nicht die kleinste Ähnlichkeit mit dem Vorgänger. Die Literatur produziert ihre eigenen Verwandtschaften. Den Fluch aber muß nicht länger teilen, wer gut von ihm erzählen kann.
Seitdem Pascal Mercier sein Maskenpseudonym abnahm und unter dem eigenen Namen des Philosophieprofessors Peter Bieri auf der Literaturbühne spielt, mutet die Vielschichtigkeit seiner Romane zwangsläufig an. Wer im Alltag vom Denken nicht lassen kann, wird beim Schreiben sich nicht davon erholen wollen. Deshalb fiel schon bei seinem ersten Roman "Perlmanns Schweigen" die Versessenheit auf, mit der die Sätze sich selbst auf den Sprachleib rückten.
"Der Klavierstimmer" macht diese Beharrlichkeit des Erstlings zur kleinen Tradition. Zur Kunst wird er, weil er das Verschmelzungssyndrom seiner Figuren im suggestiven Satzfluß wiederholt. Deshalb ist die Länge des Romans Teil seiner Artistik. Deshalb weiß er auch um die mögliche Schuld, dem Leser die Regression: die Identifikation mit den Beichtstimmen, angeboten zu haben. Mehrfach fällt im Text das Wort vom "melodramatischen Kitsch", wenn das Leben sich verantwortungsmüde der Oper unterwirft. Mercier-Bieri wagt diesen ernüchternden Hieb nur, um der Schönheit seiner Sätze nicht selbst zu verfallen. Kitsch ist das Menetekel, welches auf der Kulissenwand allzu großer Gefühle aufleuchtet. Der Autor hat es gleich seinen Figuren dort lesen können. Indem er davon erzählen kann, entledigt er sich seiner. Zur Souveränität dieses Buches gehört, die latente Unterstellung von Kitsch vorweggenommen zu haben. THOMAS WIRTZ
Pascal Mercier: "Der Klavierstimmer". Roman. Albrecht Knaus Verlag, München 1998, 509 S., geb., 46,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kopfmusik: Pascal Merciers "Der Klavierstimmer"
Die heilende Wirkung des Erzählens ist keine Erfindung des nervenkranken Wiens. Was auf Freuds Couch eine "talking cure" hieß, versprach die Literatur früher und ebenso rezeptfrei. Pascal Merciers Roman "Der Klavierstimmer" gehört zu diesem Genre der Lebensbeichte, das die Absolution in die eigene Schreibhand nimmt. Der Leser steckt in der Rolle des Seelenvoyeurs. Er darf dem Sünder in die Seiten schauen. Für den Schreiber ist die Darstellung der Vergangenheit schon ihre Bewältigung. Erfüllt er das selbstauferlegte Gebot der Ehrlichkeit, winkt ihm zum Lohn ein neues Leben. In dem Maße, wie er die Seiten füllt, wird sein Vorleben zu einem unbefleckten weißen Blatt. Die Niederschrift ist der Befreiungsschlag aufs Papier, das Versprechen einer sentimentalisch mißverstandenen Hermeneutik, daß Verstehen und Verzeihen eins seien.
Auch die Geschwister Patrice und Patricia Délacroix, einander ähnlich über ihre Zwillingsnatur hinaus, schließen einen "Pakt des Erzählens". Vierzehn Hefte werden es am Ende sein, nach denen sich ihre Geburt wiederholt, weil sie endlich frei voneinander sind. Abwechselnd liest man ihre Konfessionen, die auf den Ton stiller Verzweiflung festgelegt sind. Langsam ersteht aus diesen Tiefenbohrungen in die Zeit das Panorama einer Familie, in der die Krankheit zum Tode erblich war.
Den Vater verfolgt der Alptraum einer Waisenhausjugend bis in die unbewußte Geste. Obwohl mit Disziplin der Armut entronnen und nun ein angesehener Klavierstimmer, kann er die Last der traurigen Herkunft nicht abschütteln. Er komponiert Opern, um die Anerkennung der ihm gleichgültigen Mitmenschen zu erzwingen; keine wird aufgeführt. Jeder verlorenen Wettbewerb treibt ihn tiefer in die Erfolglosigkeit seines Lebens hinein.
Seine Frau ist eine Balletteuse, der ein Unfall die Hüfte zerschmetterte. Seitdem lebt sie von Morphium und mit einer Vergangenheit, die noch weniger heil als ihre Knochen ist. Wie ihr Mann um das Lebensglück betrogen, hat der Schuldige bei ihr ein konkretes Gesicht, und seiner wird täglich gedacht, weil nur die Wollust des Hasses den Schmerz in Körper und Seele beruhigt. Die Flucht der Zwillinge vor den elterlichen Hysterien gebiert das Ungeheuer einer Intimität, mit der sie das Unglück ihrer Geburtstrennung rückgängig machen möchten. Sie pflegen ihre Verschmelzungsphantasien, bis das Begehren sie über die Tabugrenze in den Inzest zieht. Seit dieser Vereinigung ist die Welt nicht groß genug, um Abstand zwischen sie zu legen. Das Exil wählen sie als Selbstbestrafung, ohne den Erinnerungen zu entkommen. Erst in der Katastrophe des Berliner Elternhauses und im Wiedersehen nach sechs Jahren entdecken sie die Schreibtherapie. Sie wird zu einem zweiten Abschied voneinander, nach dem sie mit den Eltern auch ihre Schuld beerdigen können. Es ist der Stift, der Familienbande endgültig durchtrennt. "Der Klavierstimmer" wählt die Oper nicht nur als Ort der Handlung, sondern bereitet den Leidensarien der Figuren auch ihre Bühne. Dieser Roman macht sich der Oper gleich, weil er sein Gattungsmerkmal: die individuelle Beobachtung des Psychischen, durch das mythologische Ritual ersetzt. Die Figuren leiden nicht an ihrer Seele, sondern an der Wiederkehr des Gleichen. Der Inzest stößt den Kindern nicht zu, sondern vollzieht sich an ihnen als genealogischer Fluch. Schon die Mutter hatte sich des eigenen Vaters vergeblich erwehrt. Das Erlittene gibt sie an den Sohn wie einen Auftrag weiter. Die bürgerliche Familie wiederholt das Schicksal eines griechischen Geschlechts. Der Bürger bannt die Gefahr, indem er sie mit den Namen des Mythos beschwört. Entlastet von der Einmaligkeit, erlaubt sich das Verbotene ein mythisches Dakapo.
Das Buch ist klug, denn es weiß um seine Selbstbedienung an der Weltliteratur; Bildungsbürgerlichkeit teilen die Figuren mit ihrem Autor. Zu trotzig fordert der Vater dem Leben Gerechtigkeit ab, als daß er die Wahl seines letzten Opernstoffes, Kleists "Michael Kohlhaas", dem Zufall zuschieben könnte. Zu theatralisch ist das mörderische Finale mit dem Schuß von der Loge, als daß der Leser sich nicht auf dem philosophischen Trampelpfad durch Schein und Sein wähnte. Wie die Figuren sich im Opernstoff bewußt entlasten, so erleichtert sich der Autor im versteckten Zitat. Den Inzest aus Wagners "Walküre" parodierte schon Thomas Mann in den Wallungen des "Wälsungenblut". Wenn Merciers Zwillinge einander an den Händen halten, ist das nicht die kleinste Ähnlichkeit mit dem Vorgänger. Die Literatur produziert ihre eigenen Verwandtschaften. Den Fluch aber muß nicht länger teilen, wer gut von ihm erzählen kann.
Seitdem Pascal Mercier sein Maskenpseudonym abnahm und unter dem eigenen Namen des Philosophieprofessors Peter Bieri auf der Literaturbühne spielt, mutet die Vielschichtigkeit seiner Romane zwangsläufig an. Wer im Alltag vom Denken nicht lassen kann, wird beim Schreiben sich nicht davon erholen wollen. Deshalb fiel schon bei seinem ersten Roman "Perlmanns Schweigen" die Versessenheit auf, mit der die Sätze sich selbst auf den Sprachleib rückten.
"Der Klavierstimmer" macht diese Beharrlichkeit des Erstlings zur kleinen Tradition. Zur Kunst wird er, weil er das Verschmelzungssyndrom seiner Figuren im suggestiven Satzfluß wiederholt. Deshalb ist die Länge des Romans Teil seiner Artistik. Deshalb weiß er auch um die mögliche Schuld, dem Leser die Regression: die Identifikation mit den Beichtstimmen, angeboten zu haben. Mehrfach fällt im Text das Wort vom "melodramatischen Kitsch", wenn das Leben sich verantwortungsmüde der Oper unterwirft. Mercier-Bieri wagt diesen ernüchternden Hieb nur, um der Schönheit seiner Sätze nicht selbst zu verfallen. Kitsch ist das Menetekel, welches auf der Kulissenwand allzu großer Gefühle aufleuchtet. Der Autor hat es gleich seinen Figuren dort lesen können. Indem er davon erzählen kann, entledigt er sich seiner. Zur Souveränität dieses Buches gehört, die latente Unterstellung von Kitsch vorweggenommen zu haben. THOMAS WIRTZ
Pascal Mercier: "Der Klavierstimmer". Roman. Albrecht Knaus Verlag, München 1998, 509 S., geb., 46,90 DM.
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"Pascal Merciers 'Der Klavierstimmer' in einer Neuausgabe, kompakt und kuschelig in Volleinen, ist ebenso schön." Freundin
"Sprachkraft, psychologische Glaubwürdigkeit und inhaltliche Ernsthaftigkeit sind, Ingredienzen eines Buches, welches ich nicht nur Künstlern als äusserst lesenswert empfehlen möchte."