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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Alexander Thiele legt eine flott geschriebene Einführung in die Verfassungsgeschichte der Neuzeit vor
Seiner Entstehung aus einem Podcast macht der vorliegende Band alle Ehre. Alexander Thiele plaudert sich gefällig durch die Jahrhunderte vom Ancien Régime bis zum Grundgesetz. Er will dadurch interessierten Laien und Studierenden der Rechts- und Geschichtswissenschaft einen ersten Einstieg in die neuzeitliche Verfassungsgeschichte ermöglichen. Zwischendurch schweift der Autor aktualisierend ab, und der Leser erfährt nebenbei, was Thiele über die Parité, den Brexit, Donald Trump oder die Europäische Union denkt. Diese Aktualisierungen sind nicht selten durchaus instruktiv, wenn Thiele etwa bei der Darstellung des preußischen Verfassungskonflikts auf die parallelen Budgetkonflikte zwischen Präsident und Kongress in den Vereinigten Staaten und den gelegentlichen "government shutdowns" verweist.
Innovation ist Thieles Sache allerdings nicht. Ausgerüstet mit einem starken Verfassungsbegriff nach Dieter Grimm, der die umfassende Herrschaftsbegründung in einem Staat durch ein rechtsförmiges Dokument in den Vordergrund stellt, mustert er die Verfassungsgeschichte durch und findet dort einige wenige in seinem Sinne begriffsgemäße Verfassungen (Vereinigte Staaten, Grundgesetz) und viele andere, bei denen dieses oder jenes Merkmal (noch) fehlt. Schon aufgrund der zugrunde gelegten Begrifflichkeit läuft Thieles Verfassungsgeschichte nicht nur chronologisch, sondern auch teleologisch auf das Grundgesetz zu.
Das Ancien Régime interessiert den Autor zwar durchaus sozialgeschichtlich, aber die Rolle der damaligen "leges fundamentales" wird gar nicht erst behandelt. Zum französischen Absolutismus fällt ihm kaum mehr als das schulbuchmäßige Wort "L'État c'est moi" ein. Im Grunde fängt die eigentliche Verfassungsgeschichte für Thiele erst mit der amerikanischen und französischen Revolution an. Diese werden näher dargestellt, bevor der Autor nach Passagen zum britischen "Sonderfall" in eine konventionelle deutsche Verfassungsgeschichte einsteigt. Von kurzen und durchaus anregenden Seitenblicken auf die Einigung Italiens und manchen außereuropäischen Beispielen wie Haiti abgesehen, beschäftigt sich der Autor ab der Zeit um 1800 nur noch mit der deutschen Entwicklung. Hier marschiert er durch die erwartbaren Stationen von den preußischen Reformen über Vormärz, Revolution von 1848, Reichsgründung und Kaiserreich, Weimar und Nationalsozialismus hin zur Bundesrepublik mit einem Kurzauftritt der DDR-Verfassungen.
Vieles, was ausgeführt wird, ist bekannt und richtig. Manches ist aber auch schlicht falsch und deutet darauf hin, dass der Autor sich die jeweiligen Epochen nicht selbst erarbeitet hat. So berichtet Thiele etwa, in der französischen Verfassung vom September 1791, die er in den September 1789 verlegt, sei festgelegt gewesen, dass die Minister aus dem Parlament stammen mussten. Das Gegenteil war aber der Fall, weil die Nationalversammlung aus Angst vor der königlichen Regierung die Unvereinbarkeit von Parlamentsmandat und Regierungsamt beschloss. Zum preußischen Verfassungskonflikt heißt es, Bismarck habe auch während der Konfliktzeit weiter Steuern eingenommen, obwohl das verfassungswidrig gewesen sei. Die preußische Verfassung von 1850 sah aber ausdrücklich die Kontinuität der Steuererhebung und damit der Staatseinnahmen vor. Was im Verfassungskonflikt fehlte, war allein das Budget und damit die Ermächtigung, Ausgaben zu tätigen. Wilhelm I. wird bei Thiele am 18. Januar 1871 zum Kaiser "gekrönt". In Versailles hat aber lediglich eine Kaiserproklamation stattgefunden; Krönungen und eine Reichskrone als physisches Objekt gab es im Bismarckreich hingegen nicht. Mehrfach wird behauptet, die kollegiale Kabinettsregierung sei bereits in der Zeit der konstitutionellen Monarchie entstanden. Davon kann aber keine Rede sein. Die schwierige Stellung einer Regierung, die rechtlich nur das Vertrauen des Monarchen, nicht aber des Parlaments brauchte, verhinderte damals vielmehr gerade, dass sich kollegiale Kabinette herausbildeten.
Thieles Blick auf die deutsche Verfassungsgeschichte ist insgesamt harmonistisch. Er schreibt eine Art "Whig history", die im Grundgesetz gipfelt, wenn auch mit einem dunklen Fleck zwischen 1933 und 1945. Die spezifischen Probleme der föderalen Ordnung unter den Bedingungen eines österreichisch-preußischen Duopols in der ersten und der preußischen Hegemonie seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geraten kaum in den Blick. Ebenso wenig interessiert sich Thiele näher für den schwierigen Weg zur Parlamentarisierung oder die längerfristigen Eigenheiten des deutschen Parteiensystems. Besonders auffällig ist diese harmonisierende Deutung in seinen Passagen zum deutschen Kaiserreich. So zutreffend der Autor hervorhebt, dass Reichsleitung und Reichstag letztlich zur Zusammenarbeit gezwungen waren, so wenig überzeugt die Behauptung, bereits unter Bismarck habe die Parlamentarisierung des Reiches begonnen, die am Ende des Ersten Weltkriegs nur noch formalisiert worden sei.
Hier fehlt jede Unterscheidung zwischen Einflussgewinn des Parlaments und Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem. Wenn dieser Prozess schon unter Bismarck begonnen haben soll, ist unerklärlich, warum während des gesamten Kaiserreichs kein Parlamentarier Reichskanzler wurde und der Kaiser sogar noch im Krisenjahr 1917 einen unbekannten preußischen Finanzbeamten zum Nachfolger Bethmann-Hollwegs ernennen konnte. Das wachsende Spannungsverhältnis zwischen der fortschreitenden Demokratisierung über das allgemeine Männerwahlrecht bei Reichstagswahlen und der geringen parlamentarischen Kompromissfähigkeit der entstehenden Massenparteien gerät bei Thiele gar nicht erst in den Blick. So richtig es ist, vergleichend darauf hinzuweisen, dass auch Staaten wie Amerika eine schwierige Demokratiegeschichte haben, so wenig sollte das daran hindern, die spezifisch deutschen Entwicklungsprobleme zu erfassen. Insgesamt fällt auf, dass sich Thieles Blick, der am Anfang des Buches noch sozialgeschichtlich geöffnet ist, im Lauf der Darstellung immer mehr verengt, bis er in der Bundesrepublik schließlich hauptsächlich noch über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spricht.
Alexander Thiele hat ein gut lesbares Schulbuch für erwachsene Leser vorgelegt. Es ist kein substanzieller Beitrag zur Verfassungsgeschichte, aber eine dem Zeitgeist entsprechende Einstiegslektüre. CHRISTOPH SCHÖNBERGER
Alexander Thiele: "Der konstituierte Staat". Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit.
Campus Verlag, Frankfurt am Main/ New York 2021. 463 S., br., 29,95 Euro.
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