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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Was nach dem Tsunami der Gier übrig blieb: Jim Nisbet zeigt mit "Der Krake auf meinem Kopf", wie gut er den Spagat zwischen E und U beherrscht. Er ist der Meister des intellektuellen Schundromans.
Wenn man sich 4514 Anza Street, Ecke 36. Avenue auf Google Maps ansieht, fehlen zwar die im Buch erwähnten Wacholderbäume in Korkenzieherform, aber ansonsten hat man einen guten Eindruck von der Durchschnittlichkeit, der mittelschichtigen Aufgeräumtheit der Gegend. Hier wohnt im Roman von Jim Nisbet der Massenmörder Eritrion "Ari" Torvald, ein Mann, der sich selbst in der Nachfolge von "de Sade, Gilles Morgan, Gilles de Rais, John Wayne Gacy, Ted Bundy" sieht. Ein Folterer, der den Prozess der langsamen Abschlachtung seiner bislang siebzehn Opfer mit mehreren Kameras dokumentiert, dazu in einem Tagebuch jeden Fall akribisch dokumentiert.
Den Bestialitäten dieses Ari Torvald schauen wir als Leser indes nur auf rund einem Fünftel des Romans zu, und das genügt für normal besaitete Leser vollkommen. Mehr Innenleben eines kranken Hirns muss nicht sein, auch das gehört zur Erzählökonomie Nisbets, der ohnehin dazu neigt, mit seinen Einfällen großzügig umzugehen. Allein der nur knapp eingeführte Kneipenwirt Padraic Mousaief, "ein von Natur aus zorniger Mensch", taugte als Hauptfigur eines anderen Romans.
Also lässt es Nisbet erst einmal gemütlich beginnen, und gemütlich heißt in einem Drogenrausch. Ivy, ein begnadeter Schlagzeuger und Konsument von Teerheroin, bekommt Besuch von einem ehemaligen Mitmusiker namens Curly Watkins. Ein Hüne an Gestalt, tingelt Curly als Gitarrist durch Kneipen, lebt von der Hand in den Mund. Seine Vergangenheit bedauert er ebenso wie das Kraken-Tattoo, das seinen rasierten Schädel dominiert.
Beide Männer verbindet ein Verhältnis zu Lavinia, einer Ostküsten-Prinzessin, die vorübergehend im Drogenhafen San Francisco vor Anker gegangen ist. Lavinia hat Köpfchen, ist aber zu benebelt, um rechtzeitig die Bremse zu ziehen bei einer Aktion, mit der sich die knappe Kasse füllen soll, um für Ivy Kaution zahlen zu können. Beim Geldeintreiben für einen dubiosen Instrumentenhändler stolpern Curly und Lavinia buchstäblich über eine Leiche und landen am Ende in einem Verlies, in dem sie als Schlachtopfer das Lebenswerk von Torvald krönen sollen. Doch der Meister des Schreckens ist ausgelaugt.
Der 1947 geborene Schriftsteller und Möbeltischler Jim Nisbet ragt turmhoch aus dem Genre hervor, weil er auf sehr eigentümliche Weise Pulp mit Hochkultur verbindet. Seine zugedröhnten Protagonisten sind gebildete Leute, sie haben stets ein Zitat auf den Lippen und beherrschen die Kunst der schlagfertigen Dialogs. Sie kennen Thomas Grays "Elegie, geschrieben auf einem Dorfkirchhof" ebenso wie Paul Valérys "Der Friedhof am Meer"; sie haben Frank Norris gelesen, dessen Roman "The Octopus" 1901 Furore machte - der Krake, das war damals die Eisenbahn. Man reflektiert über Marx, Bach, Ferdinand Sor und Dostojewski: "Ich dachte an Raskolnikov, der auf Seite 106 von ,Verbrechen und Strafe' einen Mord begeht und die nächsten sechshundertneununddreißig Seiten damit zubringt, sich deswegen selbst in den Wahnsinn zu treiben."
Die Kunst Nisbets besteht darin, diese an sich inkompatiblen Lebenswelten zu einem Cocktail zu vermischen, der im Kopf des Lesers Bilder freisetzt, die man lange nicht leicht vergisst, das war auch in "Tödliche Injektion" und "Dunkler Gefährte" (F.A.Z. vom 24. Mai 2011) schon zu bewundern. Als Meister der Figurenzeichnung zeigt er sich oft in scheinbar Nebensächlichem wie dem Hosenanzug von Lavinias gestrenger Mutter: "Ob Talmi oder nicht, die kleinen farbigen Steine und die goldene Fassung funkelten auf dem Abhang ihres Busens wie die fernen Lichter eines Urlaubsortes in den Bergen."
Nicht zu vergessen der staubtrockene Humor, der gelegentlich an Chandler erinnert. "Trotz des Wandels im Zuge des Fortschritts ist San Francisco insgesamt ein großartiger Ort für eine Möwe." Für eine Möwe wohl, für jene Bankkunden, deren amerikanischer Traum in der Immobilienblase der nuller Jahre zerplatzte, eher nicht. Denn Nisbet mikroskopiert nicht nur abblätternden Lack und morsche Dachpappe, er ist stets auch Kritiker einer Gesellschaft, deren Auswüchse ihm gegen den Strich gehen, hier ist es jener "Tsunami der Gier", der über das Land hinwegfegte und ganze Stadtviertel leer hinterließ, die nun zum Aufmarschgelände für Drogendealer und Schießwütige werden.
"Wie können wir hier sitzen und Drogen konsumieren, jetzt, wo wir wissen, dass tatkräftige, talentierte, intelligente und finanzstarke Leute entschlossen sind, uns und unsere Lebensweise zu zerstören?", sagt Livinia in einem hellen Moment. So wird der Roman auch zum Abgesang auf San Francisco. Nur Nostalgiker, die diesem Sehnsuchtsort hinterherlaufen, haben nicht begriffen, dass es die Stadt längst nicht mehr gibt. Sie ist "zu neunzig Prozent untergegangen zugunsten einer prächtigen Insel der Topimmobilien".
Als Curly zu sich kommt, beginnt für ihn ein langer Aufbruch in eine neue Zeit, und für den Roman ein melancholischer Ausklang. Da zeigt Nisbet mit seiner cleveren Komposition, wie man Suspense, Horror und Entwicklungsroman kombinieren kann. Mit Empfehlungen ist das so eine Sache, manchmal wollen sie einfach nicht funktionieren. Lothar Matthäus hat einmal gesagt: "Ich habe mich bereits in Interviews für den Umweltschutz und weltweiten Frieden ausgesprochen. Aber es hat anscheinend nichts genützt." Die deutsche Krimigemeinde sei hiermit ermuntert, Autor, Verlag und Rezensenten dieses Schicksal zu ersparen.
HANNES HINTERMEIER
Jim Nisbet: "Der Krake auf meinem Kopf". Roman. Aus dem Amerikanischen von Ango Laina und Angelika Müller. Pulpmaster Verlag, Berlin 2014. 320 S., br., 14,90 [Euro].
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