Dürfen die Armen wütend sein, dürfen die an den Rand Gedrängten sich ihre Rechte erkämpfen, notfalls mit Gewalt? Luther sprach ihnen im Zuge der Bauernkriege dieses Recht ab, ein anderer Reformator jedoch schlug sich auf ihre Seite und prägte die beiden Jahre des Aufstands entscheidend. Der Drucker, Utopist, Brandredner und Theologe Thomas Müntzer hatte nicht weniger als einen Sturz der Obrigkeit im Sinn – mit religiösen wie ganz und gar weltlichen Argumenten stellte er sich dem ausbeuterischen Feudalsystem entgegen. Der Preis für seinen Mut war hoch: Für seine sozialrevolutionären Ideen wurde er bereits zwei Jahre nach Beginn der Aufstände enthauptet, doch sein Drängen nach Gerechtigkeit hat ebenso überlebt wie das Selbstverständnis der oberen Klassen, mit dem sie ihre Privilegien rechtfertigen. Vuillard setzt dieser außergewöhnlichen historischen Figur ein fulminantes literarisches Denkmal und beweist mit seiner temporeichen Schilderung der Aufstände, dass Müntzers Kampf nicht zu Ende, die Wut der Armen nicht erloschen und die in der Gesellschaft tief verwurzelte Ungerechtigkeit noch lange nicht beseitigt ist.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.03.2020Unter riesigen Wolkenmassen
Zwei Jahrhunderte, drei Schauplätze, hundert Seiten:
Eric Vuillard erzählt von Thomas Müntzer und dem „Krieg der Armen“
VON GUSTAV SEIBT
Nun also Thomas Müntzer und der Bauernkrieg, dazu die Vorläufer John Wyclif (1330 bis 1384) und Jan Hus (1370 bis 1415): Im fünften seiner historischen Kurzromane greift Éric Vuillard ins späte Mittelalter zurück und gelangt bis an die Schwelle der Neuzeit. Der Prediger und Ketzer Thomas Müntzer wurde nach der vernichtenden Niederlage der deutschen Bauern bei Frankenhausen in Thüringen enthauptet, am 27. Mai 1525. Er war damals 36 Jahre alt.
Knapp zwei Jahrhunderte mit drei Schauplätzen – England, Böhmen und Mitteldeutschland – umspannt „Der Krieg der Armen“. Sein Buch hat knapp einhundert Seiten. Damit überbietet Vuillard das Verhältnis von Textmenge und dargestellter Zeit noch ein weiteres Mal. Seine bisherigen Geschichtserzählungen galten unter anderen dem Ersten Weltkrieg (vier Jahre), dem Anschluss Österreichs an Deutschland mit seiner Vorgeschichte (fünf Jahre) und der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 (ein Tag mit einer Vorgeschichte von mehreren Monaten). Und immer bewegte sich das Format in Novellenlänge, nicht mehr als 150 Seiten.
Diese Bücher liest man in zwei bis drei Stunden, die erzählte Zeit ist im Vergleich dazu riesenhaft. Das ist erstaunlich, fast wunderbar, vor allem weil Vuillards Texte ihre Leser immer wieder mit der Suggestion von Gegenwärtigkeit, Nahsicht, sogar Augenzeugenschaft fesseln.
Ein Steuereintreiber löst im mittelalterlichen England einen Aufstand aus, weil er eine Bauerntochter vergewaltigt hat. Vuillard erzählt das klassisch-szenisch: „Er verlangt die Steuer, aber das junge Mädchen kann nicht zahlen, sie haben kaum genug zum Leben. Da reißt der Einnehmer ihr das Kleid vom Leib, wirft sie auf einen Strohsack und bezahlt sich selbst. Sie ist fünfzehn. Sie ist hübsch. Sie ist der Wert schlechthin. Doch die Sprösslinge der Armen sind nichts wert. Ihre Lippen sind jetzt blau, sie friert; sie stolpert über den mit Brombeerhecken gesäumten kleinen Weg; von Weitem sieht der Vater sie. Riesige Wolkenmassen streifen die Wipfel der Bäume.“
Das Kürzeste darin ist die sozialhistorische Information („die Sprösslinge der Armen sind nichts wert“), genauso wichtig und eindrücklicher ist das Wetter, ein in diesem Zusammenhang ahistorischer Begleitumstand – „riesige Wolkenmassen“ kann es in jeder Epoche geben. Auch das Bühnenbild der Szene – Strohsack, Brombeerhecken – erzeugt nur einen vagen Eindruck von Ländlichkeit, um mitzuteilen: Wir sind in der Vormoderne.
Die Szene wird im historischen Präsens erzählt wie fast das gesamte Buch. Sie ist bildhaft und nah, mühelos überspringt sie die 650 Jahre, die uns Leser von ihr trennen. Doch Vuillard kann nicht nur Szene, er kann auch Metapher und Allegorie, und auch diese haben die Kraft der Unmittelbarkeit. Solche Mittel erlauben es ihm, säkulare Großprozesse mit wenigen Sätzen in den Blick zu nehmen. So beschreibt er die Erfindung des Buchdrucks, die zentrale mediengeschichtliche Voraussetzung der Reformation und der Rolle von Thomas Müntzer als Publizist: „Fünfzig Jahre zuvor war eine glühende Masse ausgeflossen, von Mainz durch das ganze übrige Europa, war zwischen die Hügel jeder Stadt, zwischen die Buchstaben sämtlicher Namen geflossen, über die Regenrinnen, durch die Windungen jedes einzelnen Gedankens; und jeder Buchstabe, jeder Ideenzipfel, jedes Satzzeichen war in ein Stück Metall eingegangen. Man verteilte sie in einer Holzschublade. Die Hände wählten eines aus, und noch eins, und so entstanden Wörter, Zeilen und Seiten. Sie wurden in Tinte getaucht, und eine ungeheuerliche Kraft presste die Lettern langsam auf das Papier.“
Das ist großartig, weil es die unerhörte Neuartigkeit der Drucktechnik fühlbar macht, die kommunikative Gewalt, die von ihr ausging. Bücher, die bisher in mühsamer Handarbeit abgeschrieben werden mussten, entstehen durch bewegliche Lettern und Druckstöcke mit fabrikartiger Geschwindigkeit: „Das wurde dutzende und aberdutzende Male wiederholt, bis die Blätter viermal, achtmal oder sechzehnmal gefaltet wurden. Sie wurden in die richtige Reihenfolge gebracht, zusammengeklebt, genäht und in Leder gebunden. Daraus wurde ein Buch. Die Bibel. Innerhalb von drei Jahren entstanden so einhundertundachtzig davon, während ein Mönch in derselben Zeit nur eine einzige abgeschrieben hätte. Und die Bücher vermehrten sich wie Würmer in einem Körper.“
Erlebte Rede, wörtliche Zitate, Landschaftsbilder, immer wieder Meteorologie und Metaphern, das sind Vuillards Mittel, die trotz der Abstraktion erfordernden Kürze seiner Texte den Eindruck von leiblicher Nähe erzeugen. Der Zeitrhythmus dieser Erzählform gleicht einem immer neuen blitzartigen Heranzoomen.
Die meisten historischen Romane sind enorm umfangreich, sie gefallen sich im Auspinseln von Umständen und Szenerien. Es gibt kaum ein erzählerisches Genre, das traditionell so viele Beschreibungen mit sich schleppt, schließlich muss eine ganze versunkene Welt auf die Bühne gehoben werden. Auch erzählerische Historie verfährt nicht wesentlich anders, sie erhebt nur den Anspruch, kein einziges Anschauungsdetail, das sie aus der Flut der Quellen schöpft, zu erfinden. Gelegentlich nimmt sich der Erzähler Zeit zu Zwischenbemerkungen und kleinen Leseranreden, einer Art Durchatmen in der bedrängenden Fülle von Bildern.
Nur, woher kennt man das, diese Bilderfülle, die Überwältigungsästhetik auf engem Raum? Der deutschsprachige Leser darf hier, erst zögernd, dann mit heiterer Entschiedenheit den Namen Stefan Zweig aussprechen. Sternstunden der Menschheit! Die historischen Miniaturen, die Zweig unter diesem Titel gesammelt hat – es wurde sein erfolgreichstes Buch überhaupt –, sind sogar noch kürzer als Vuillards Kleinromane.
„Am 5. September 1823 rollt ein Reisewagen langsam die Landstraße von Karlsbad gegen Eger zu: der Morgen schauert schon herbstlich kühl, scharfer Wind geht durch die abgeernteten Felder, aber blau spannt sich der Himmel über der geweiteten Landschaft. In der Kalesche sitzen drei Männer, der großherzoglich sachsen-weimarische Geheimrat v. Goethe (wie ihn die Kurliste in Karlsbad rühmend verzeichnet) und die beiden Getreuen (…).“ Stefan Zweig verwendet bis zur Lachhaftigkeit übereinstimmend jene erzählerischen Mittel, die auch Éric Vuillard mobilisiert: Wetterkulissen, Szene, erlebte Rede, Metapher und Allegorie. Man hat es offenbar mit Universalien vergegenwärtigenden historischen Erzählens zu tun, überall anwendbar, womöglich in Schreibkursen lehrbar.
Zweigs Stil ist im Duktus ein wenig altmodischer, die Sätze weniger parataktisch reihend, weniger hämmernd als die Vuillards; das ändert aber nichts an der grundlegenden Übereinstimmung bei den Veranschaulichungsmitteln, vor allem nicht am Überwiegen der Anschauung über die Reflexion im Erzählen der beiden sonst so weit voneinander entfernten Autoren.
Zur Sache von Vuillards neuem Buch wäre noch anzufügen, dass sein Müntzer-Bild der marxistischen Tradition entstammt, die Hauptautoritäten sind unübersehbar Friedrich Engels und Ernst Bloch. Mit heutiger historischer Wissenschaft hat das nichts zu tun. So scheint er zu glauben, dass die spätmittelalterliche Armutsbewegung ein Produkt des „Volks“ war – in Wahrheit entstammte sie den Bettelorden, und damit immer noch der minoritären gelehrten Schriftkultur. Aber wer will mit einem historischen Bildersaal positivistisch rechten? Éric Vuillard produziert handwerklich perfekt gestaltete Plakatwände, nicht mehr, nicht weniger.
Éric Vuillard: Der Krieg der Armen. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 100 Seiten, 16 Euro.
Der Zeitrhythmus gleicht
einem immer neuen
blitzartigen Heranzoomen
Woher kennt man eigentlich
diese Bilderfülle, die
Überwältigungsästhetik?
Thomas Müntzer, der Prediger wider die Obrigkeit, spricht zu bewaffneten Bauern.
Foto: sz Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zwei Jahrhunderte, drei Schauplätze, hundert Seiten:
Eric Vuillard erzählt von Thomas Müntzer und dem „Krieg der Armen“
VON GUSTAV SEIBT
Nun also Thomas Müntzer und der Bauernkrieg, dazu die Vorläufer John Wyclif (1330 bis 1384) und Jan Hus (1370 bis 1415): Im fünften seiner historischen Kurzromane greift Éric Vuillard ins späte Mittelalter zurück und gelangt bis an die Schwelle der Neuzeit. Der Prediger und Ketzer Thomas Müntzer wurde nach der vernichtenden Niederlage der deutschen Bauern bei Frankenhausen in Thüringen enthauptet, am 27. Mai 1525. Er war damals 36 Jahre alt.
Knapp zwei Jahrhunderte mit drei Schauplätzen – England, Böhmen und Mitteldeutschland – umspannt „Der Krieg der Armen“. Sein Buch hat knapp einhundert Seiten. Damit überbietet Vuillard das Verhältnis von Textmenge und dargestellter Zeit noch ein weiteres Mal. Seine bisherigen Geschichtserzählungen galten unter anderen dem Ersten Weltkrieg (vier Jahre), dem Anschluss Österreichs an Deutschland mit seiner Vorgeschichte (fünf Jahre) und der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 (ein Tag mit einer Vorgeschichte von mehreren Monaten). Und immer bewegte sich das Format in Novellenlänge, nicht mehr als 150 Seiten.
Diese Bücher liest man in zwei bis drei Stunden, die erzählte Zeit ist im Vergleich dazu riesenhaft. Das ist erstaunlich, fast wunderbar, vor allem weil Vuillards Texte ihre Leser immer wieder mit der Suggestion von Gegenwärtigkeit, Nahsicht, sogar Augenzeugenschaft fesseln.
Ein Steuereintreiber löst im mittelalterlichen England einen Aufstand aus, weil er eine Bauerntochter vergewaltigt hat. Vuillard erzählt das klassisch-szenisch: „Er verlangt die Steuer, aber das junge Mädchen kann nicht zahlen, sie haben kaum genug zum Leben. Da reißt der Einnehmer ihr das Kleid vom Leib, wirft sie auf einen Strohsack und bezahlt sich selbst. Sie ist fünfzehn. Sie ist hübsch. Sie ist der Wert schlechthin. Doch die Sprösslinge der Armen sind nichts wert. Ihre Lippen sind jetzt blau, sie friert; sie stolpert über den mit Brombeerhecken gesäumten kleinen Weg; von Weitem sieht der Vater sie. Riesige Wolkenmassen streifen die Wipfel der Bäume.“
Das Kürzeste darin ist die sozialhistorische Information („die Sprösslinge der Armen sind nichts wert“), genauso wichtig und eindrücklicher ist das Wetter, ein in diesem Zusammenhang ahistorischer Begleitumstand – „riesige Wolkenmassen“ kann es in jeder Epoche geben. Auch das Bühnenbild der Szene – Strohsack, Brombeerhecken – erzeugt nur einen vagen Eindruck von Ländlichkeit, um mitzuteilen: Wir sind in der Vormoderne.
Die Szene wird im historischen Präsens erzählt wie fast das gesamte Buch. Sie ist bildhaft und nah, mühelos überspringt sie die 650 Jahre, die uns Leser von ihr trennen. Doch Vuillard kann nicht nur Szene, er kann auch Metapher und Allegorie, und auch diese haben die Kraft der Unmittelbarkeit. Solche Mittel erlauben es ihm, säkulare Großprozesse mit wenigen Sätzen in den Blick zu nehmen. So beschreibt er die Erfindung des Buchdrucks, die zentrale mediengeschichtliche Voraussetzung der Reformation und der Rolle von Thomas Müntzer als Publizist: „Fünfzig Jahre zuvor war eine glühende Masse ausgeflossen, von Mainz durch das ganze übrige Europa, war zwischen die Hügel jeder Stadt, zwischen die Buchstaben sämtlicher Namen geflossen, über die Regenrinnen, durch die Windungen jedes einzelnen Gedankens; und jeder Buchstabe, jeder Ideenzipfel, jedes Satzzeichen war in ein Stück Metall eingegangen. Man verteilte sie in einer Holzschublade. Die Hände wählten eines aus, und noch eins, und so entstanden Wörter, Zeilen und Seiten. Sie wurden in Tinte getaucht, und eine ungeheuerliche Kraft presste die Lettern langsam auf das Papier.“
Das ist großartig, weil es die unerhörte Neuartigkeit der Drucktechnik fühlbar macht, die kommunikative Gewalt, die von ihr ausging. Bücher, die bisher in mühsamer Handarbeit abgeschrieben werden mussten, entstehen durch bewegliche Lettern und Druckstöcke mit fabrikartiger Geschwindigkeit: „Das wurde dutzende und aberdutzende Male wiederholt, bis die Blätter viermal, achtmal oder sechzehnmal gefaltet wurden. Sie wurden in die richtige Reihenfolge gebracht, zusammengeklebt, genäht und in Leder gebunden. Daraus wurde ein Buch. Die Bibel. Innerhalb von drei Jahren entstanden so einhundertundachtzig davon, während ein Mönch in derselben Zeit nur eine einzige abgeschrieben hätte. Und die Bücher vermehrten sich wie Würmer in einem Körper.“
Erlebte Rede, wörtliche Zitate, Landschaftsbilder, immer wieder Meteorologie und Metaphern, das sind Vuillards Mittel, die trotz der Abstraktion erfordernden Kürze seiner Texte den Eindruck von leiblicher Nähe erzeugen. Der Zeitrhythmus dieser Erzählform gleicht einem immer neuen blitzartigen Heranzoomen.
Die meisten historischen Romane sind enorm umfangreich, sie gefallen sich im Auspinseln von Umständen und Szenerien. Es gibt kaum ein erzählerisches Genre, das traditionell so viele Beschreibungen mit sich schleppt, schließlich muss eine ganze versunkene Welt auf die Bühne gehoben werden. Auch erzählerische Historie verfährt nicht wesentlich anders, sie erhebt nur den Anspruch, kein einziges Anschauungsdetail, das sie aus der Flut der Quellen schöpft, zu erfinden. Gelegentlich nimmt sich der Erzähler Zeit zu Zwischenbemerkungen und kleinen Leseranreden, einer Art Durchatmen in der bedrängenden Fülle von Bildern.
Nur, woher kennt man das, diese Bilderfülle, die Überwältigungsästhetik auf engem Raum? Der deutschsprachige Leser darf hier, erst zögernd, dann mit heiterer Entschiedenheit den Namen Stefan Zweig aussprechen. Sternstunden der Menschheit! Die historischen Miniaturen, die Zweig unter diesem Titel gesammelt hat – es wurde sein erfolgreichstes Buch überhaupt –, sind sogar noch kürzer als Vuillards Kleinromane.
„Am 5. September 1823 rollt ein Reisewagen langsam die Landstraße von Karlsbad gegen Eger zu: der Morgen schauert schon herbstlich kühl, scharfer Wind geht durch die abgeernteten Felder, aber blau spannt sich der Himmel über der geweiteten Landschaft. In der Kalesche sitzen drei Männer, der großherzoglich sachsen-weimarische Geheimrat v. Goethe (wie ihn die Kurliste in Karlsbad rühmend verzeichnet) und die beiden Getreuen (…).“ Stefan Zweig verwendet bis zur Lachhaftigkeit übereinstimmend jene erzählerischen Mittel, die auch Éric Vuillard mobilisiert: Wetterkulissen, Szene, erlebte Rede, Metapher und Allegorie. Man hat es offenbar mit Universalien vergegenwärtigenden historischen Erzählens zu tun, überall anwendbar, womöglich in Schreibkursen lehrbar.
Zweigs Stil ist im Duktus ein wenig altmodischer, die Sätze weniger parataktisch reihend, weniger hämmernd als die Vuillards; das ändert aber nichts an der grundlegenden Übereinstimmung bei den Veranschaulichungsmitteln, vor allem nicht am Überwiegen der Anschauung über die Reflexion im Erzählen der beiden sonst so weit voneinander entfernten Autoren.
Zur Sache von Vuillards neuem Buch wäre noch anzufügen, dass sein Müntzer-Bild der marxistischen Tradition entstammt, die Hauptautoritäten sind unübersehbar Friedrich Engels und Ernst Bloch. Mit heutiger historischer Wissenschaft hat das nichts zu tun. So scheint er zu glauben, dass die spätmittelalterliche Armutsbewegung ein Produkt des „Volks“ war – in Wahrheit entstammte sie den Bettelorden, und damit immer noch der minoritären gelehrten Schriftkultur. Aber wer will mit einem historischen Bildersaal positivistisch rechten? Éric Vuillard produziert handwerklich perfekt gestaltete Plakatwände, nicht mehr, nicht weniger.
Éric Vuillard: Der Krieg der Armen. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 100 Seiten, 16 Euro.
Der Zeitrhythmus gleicht
einem immer neuen
blitzartigen Heranzoomen
Woher kennt man eigentlich
diese Bilderfülle, die
Überwältigungsästhetik?
Thomas Müntzer, der Prediger wider die Obrigkeit, spricht zu bewaffneten Bauern.
Foto: sz Photo
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2020Müntzer, der Idealist
Linksdemokratische Gänsehautliteratur von Éric Vuillard
Nach "Die Tagesordnung" (2017 ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt) nimmt sich Éric Vuillard wieder ein "deutsches" Thema vor. Dieses Mal ist es allerdings nicht ein nur wenige Jahrzehnte zurückliegendes Ereignis wie der Pakt der Großindustrie mit einem gewissen "böhmischen Gefreiten", sondern ein zeitlich weit entferntes Geschehen: "Der Krieg der Armen" behandelt die Figur Thomas Müntzer (1489 bis 1525) und den Bauernkrieg in Thüringen.
Die Erzählung beginnt mit der Hinrichtung von Müntzers Vater durch den Grafen zu Stolberg um 1500 und durchläuft dann rasch die Lebensstationen ihres Helden: "Schließlich studierte er in Leipzig, wurde Pfaffe in Halberstadt, in Braunschweig, dann irgendwo Propst, und nach einer ganzen Reihe von Kalamitäten mit dem gemeinen Volk der Lutheranhänger kroch er 1520 aus seinem Loch, zum Prediger ernannt in Zwickau." Vuillards Fokus liegt auf den letzten fünf Jahren, 1520 bis 1525, in denen Müntzer unter anderem in Zwickau, Prag, vor allem aber in Allstedt, Mühlhausen und Frankenhausen wirkte. Der auch von Luther verurteilte Spiritualist und Apokalyptiker wurde mitsamt seinem Bauernheer in der Schlacht bei Frankenhausen vernichtend geschlagen; der "Theologe der Revolution" (Ernst Bloch) wurde eingekerkert und wie sein Vater hingerichtet.
Müntzer ist eine der Ikonen frühneuzeitlicher Rebellion und gerade als sozial orientierter, autoritätskritischer Widerpart zu Luther eine beliebte Figur der sozialistischen Geschichtsschreibung. Als solcher ist er auch Gegenstand von Kritik, und Vuillard verteidigt seinen "leidenschaftlichen Idealisten", der "von der Medizin verspottet" würde. Wie dem auch sei, "Der Krieg der Armen" bestätigt eine Wende im Werk des 1968 in Lyon geborenen Vuillard, die er mit einem Roman zur Französischen Revolution eingeleitet hat: Während Romane wie "Kongo" (2012) oder "Traurigkeit der Erde" (2014) von der Unterwerfung der Welt durch den Okzident erzählten, inszenierte "14. Juli" (2016) den Sturm auf die Bastille aus Sicht der Teilnehmer, unternahm also eine Inszenierung des Volkes, das Geschichte macht. Einfache, auch grobe Gestalten werden zu Handelnden heroischer Größe, ein epischer Atem durchzieht den Text - linksdemokratische Gänsehautliteratur.
Nun also thüringische Bauern und der Visionär Müntzer. Es überrascht nicht, dass Vuillard als Vorbilder nicht die französischen Jacquerien des Spätmittelalters heranzieht, sondern religiös motivierte Revolten in England seit John Wyclif. Das freilich nimmt Raum in Anspruch, weitere zwölf von insgesamt gerade sechzig Seiten Text - das Bändchen ist definitiv zu dünn, zu kursorisch geraten. "Der Krieg der Armen" wirkt seltsam abstrakt, es fehlen wichtige Lebensetappen und jene dichten Szenen, die, wenn sie gelingen, den Charme von Vuillards historischen Romanen ausmachen.
Dieses Historiendrama steht im Zeichen großer Vorbilder, deren Einfluss seit Vuillards Hinwendung zum Volk noch spürbarer ist: Victor Hugo und Jules Michelet, der historische Roman und die romanhafte Historie in ihrer romantischen Ausprägung. Wie sie suchen Vuillards Texte epische Größe, der sich von Massenszenen nährt, von Teilen fürs Ganze, von Personifikationen, in denen ein Mann den Willen des Volkes inkarniert: "Ja, Müntzer ist gewalttätig, Müntzer faselt. Er ruft hier und jetzt zum Reich Gottes auf, ein Ausbund an Ungeduld. Ja, so sind die Empörten, eines schönen Tages quellen sie aus dem Kopf der Völker wie die Gespenster aus den Wänden."
Ebenso wichtig, wenn nicht entscheidender ist der Einsatz von Kontrasten und Symmetrien (Lästerzungen würden sagen: von Schwarzweißdenken) - böse Fürsten gegen gute Bauern. Das alles organisiert Vuillard in Szenen von dramatischer, ja theatralischer Beredsamkeit, die bisweilen ins Deklamatorische abrutschen, sicher jedoch einer bewusst und massiv eingesetzten Redekunst verpflichtet sind. Das muss man mögen, aber nicht zufällig ist Victor Hugo, der die rhetorische Emphase des Ancien Régime in die romantische Moderne gerettet hat, heute noch einer der meistgelesenen Autoren Frankreichs. Vuillard tut einiges, um ein zeitgenössisches Pendant zu Hugo zu werden, diesmal mit etwas weniger Erfolg, mangels Masse.
NIKLAS BENDER
Éric Vuillard: "Der Krieg der Armen". Roman.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 66 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Linksdemokratische Gänsehautliteratur von Éric Vuillard
Nach "Die Tagesordnung" (2017 ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt) nimmt sich Éric Vuillard wieder ein "deutsches" Thema vor. Dieses Mal ist es allerdings nicht ein nur wenige Jahrzehnte zurückliegendes Ereignis wie der Pakt der Großindustrie mit einem gewissen "böhmischen Gefreiten", sondern ein zeitlich weit entferntes Geschehen: "Der Krieg der Armen" behandelt die Figur Thomas Müntzer (1489 bis 1525) und den Bauernkrieg in Thüringen.
Die Erzählung beginnt mit der Hinrichtung von Müntzers Vater durch den Grafen zu Stolberg um 1500 und durchläuft dann rasch die Lebensstationen ihres Helden: "Schließlich studierte er in Leipzig, wurde Pfaffe in Halberstadt, in Braunschweig, dann irgendwo Propst, und nach einer ganzen Reihe von Kalamitäten mit dem gemeinen Volk der Lutheranhänger kroch er 1520 aus seinem Loch, zum Prediger ernannt in Zwickau." Vuillards Fokus liegt auf den letzten fünf Jahren, 1520 bis 1525, in denen Müntzer unter anderem in Zwickau, Prag, vor allem aber in Allstedt, Mühlhausen und Frankenhausen wirkte. Der auch von Luther verurteilte Spiritualist und Apokalyptiker wurde mitsamt seinem Bauernheer in der Schlacht bei Frankenhausen vernichtend geschlagen; der "Theologe der Revolution" (Ernst Bloch) wurde eingekerkert und wie sein Vater hingerichtet.
Müntzer ist eine der Ikonen frühneuzeitlicher Rebellion und gerade als sozial orientierter, autoritätskritischer Widerpart zu Luther eine beliebte Figur der sozialistischen Geschichtsschreibung. Als solcher ist er auch Gegenstand von Kritik, und Vuillard verteidigt seinen "leidenschaftlichen Idealisten", der "von der Medizin verspottet" würde. Wie dem auch sei, "Der Krieg der Armen" bestätigt eine Wende im Werk des 1968 in Lyon geborenen Vuillard, die er mit einem Roman zur Französischen Revolution eingeleitet hat: Während Romane wie "Kongo" (2012) oder "Traurigkeit der Erde" (2014) von der Unterwerfung der Welt durch den Okzident erzählten, inszenierte "14. Juli" (2016) den Sturm auf die Bastille aus Sicht der Teilnehmer, unternahm also eine Inszenierung des Volkes, das Geschichte macht. Einfache, auch grobe Gestalten werden zu Handelnden heroischer Größe, ein epischer Atem durchzieht den Text - linksdemokratische Gänsehautliteratur.
Nun also thüringische Bauern und der Visionär Müntzer. Es überrascht nicht, dass Vuillard als Vorbilder nicht die französischen Jacquerien des Spätmittelalters heranzieht, sondern religiös motivierte Revolten in England seit John Wyclif. Das freilich nimmt Raum in Anspruch, weitere zwölf von insgesamt gerade sechzig Seiten Text - das Bändchen ist definitiv zu dünn, zu kursorisch geraten. "Der Krieg der Armen" wirkt seltsam abstrakt, es fehlen wichtige Lebensetappen und jene dichten Szenen, die, wenn sie gelingen, den Charme von Vuillards historischen Romanen ausmachen.
Dieses Historiendrama steht im Zeichen großer Vorbilder, deren Einfluss seit Vuillards Hinwendung zum Volk noch spürbarer ist: Victor Hugo und Jules Michelet, der historische Roman und die romanhafte Historie in ihrer romantischen Ausprägung. Wie sie suchen Vuillards Texte epische Größe, der sich von Massenszenen nährt, von Teilen fürs Ganze, von Personifikationen, in denen ein Mann den Willen des Volkes inkarniert: "Ja, Müntzer ist gewalttätig, Müntzer faselt. Er ruft hier und jetzt zum Reich Gottes auf, ein Ausbund an Ungeduld. Ja, so sind die Empörten, eines schönen Tages quellen sie aus dem Kopf der Völker wie die Gespenster aus den Wänden."
Ebenso wichtig, wenn nicht entscheidender ist der Einsatz von Kontrasten und Symmetrien (Lästerzungen würden sagen: von Schwarzweißdenken) - böse Fürsten gegen gute Bauern. Das alles organisiert Vuillard in Szenen von dramatischer, ja theatralischer Beredsamkeit, die bisweilen ins Deklamatorische abrutschen, sicher jedoch einer bewusst und massiv eingesetzten Redekunst verpflichtet sind. Das muss man mögen, aber nicht zufällig ist Victor Hugo, der die rhetorische Emphase des Ancien Régime in die romantische Moderne gerettet hat, heute noch einer der meistgelesenen Autoren Frankreichs. Vuillard tut einiges, um ein zeitgenössisches Pendant zu Hugo zu werden, diesmal mit etwas weniger Erfolg, mangels Masse.
NIKLAS BENDER
Éric Vuillard: "Der Krieg der Armen". Roman.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Matthes & Seitz, Berlin 2020. 66 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main