Von Vätern und Söhnen, Lava und Lichterketten. Ein Postbote auf Lanzarote, der um seinen Sohn kämpft, ein seltsamer Tisch, der ein dunkles Familiengeheimnis aus dem Spanischen Bürgerkrieg birgt, und ein blauer Ball, der über die Insel der hundert Vulkane bis nach Afrika rollt: Moritz Rinke entfacht in seinem zweiten Roman mit unvergleichlicher Tragikomik und schier atemberaubender Erzählkunst ein Feuerwerk an Geschichten. In seinem kleinen Postbüro in Yaiza sortiert Pedro Fernández García seit Erfindung des Internets keine Briefe mehr, sondern nur noch Werbesendungen. So hat er unendlich viel Zeit, um am Hafen Café con leche zu trinken, seinem Sohn Miguel alles über historische Vulkanausbrüche zu erzählen und den Geheimnissen seiner Familie auf den Grund zu gehen. Was hat sein Großvater in den dreißiger Jahren in Spanisch-Marokko gemacht? Wer war der mysteriöse Deutsche, bei dem er angestellt war? Als sich Pedros große Liebe Carlota von ihm trennt und mit Miguel nach Barcelona zieht, wird es plötzlich still in seinem Leben. Auch sein Freund Tenaro, ein arbeitsloser Fischer ohne Boot, der angeblich mit Hemingway verwandt ist, kann ihn nicht aufheitern. Und dann sitzt da auf einmal ein Mann in seiner Küche, Amado, ein Flüchtling, der auf Lanzarote die Freiheit gesucht und ein Gefängnis vorgefunden hat. Pedro, Tenaro und Amado beschließen, Miguel zurückzuholen. Sie schmieden einen wahnwitzigen Plan - und merken, wie viel es zu gewinnen gibt, wenn alles verloren scheint.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Emilia Kröger geht gern mit Moritz Rinke und seinem zwischen Vergangenheit und Gegenwart schwebenden Protagonisten auf Abenteuerfahrt. Die Geschichte des beruflichen und privaten Abstiegs eines Postboten auf Lanzarote verbindet Rinke laut Kröger geschickt mit der spanischen Geschichte und ihren Abgründen. Indem der Protagonist Familienforschung betreibt, stößt er auf verstörende Verbindungen zwischen Familien- und Zeitgeschichte, die ihn veranlassen, sein Leben zu ändern, erklärt Kröger. Formal überzeugt sie der Roman durch seine starke Bildlichkeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2021Mach’s wie
Messi
Moritz Rinkes zweiter Roman ist vor allem
ein Jungs-Ding über Männerfreundschaft,
Vaterliebe und Fußball
VON CHRISTINE DÖSSEL
Wer noch nie auf Lanzarote war, fühlt sich nach der Lektüre von Moritz Rinkes neuem Roman ganz gut vertraut mit der Kanareninsel, ihren weißen Dörfern und schwarzen Stränden. Er erfährt von dem ockergelb-rötlichen Staub, den der Ostwind aus der Sahara herüberbläst, lernt den Unterschied zwischen „Blocklava“ und „Stricklava“, und dass man den feinkörnigen Lava-Ascheboden „Picón“ nennt. Er kann sich ein Bild machen von den Feuerbergen von Timanfaya, dem Famara-Kliff mit der Kapelle obendrauf und den südlichen Ajaches-Bergen mit dem Atalaya-Vulkan. Überhaupt die ganzen Vulkane mit ihren plastischen Namen – der schöne Hans, der schwarze Brüller –, sie kommen alle zur Geltung.
Der in Berlin lebende Dramatiker und Schriftsteller Moritz Rinke hat seit vielen Jahren ein Haus auf der Insel, zieht sich zum Schreiben dahin zurück, spricht mit den Leuten. Nun hat er einen Roman nicht nur auf, sondern auch über Lanzarote und die dortigen „Vulkanmenschen“ geschrieben, es ist sein zweiter – nach „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ von 2010 –, er trägt den kapriziösen Titel „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García“. Dieser Pedro Fernández García ist nicht etwa ein Abenteuerheld, wie man vermuten könnte, sondern ein einfacher Postbote, angestellt bei der königlichen Post Spaniens wie auch schon sein Vater und sein Großvater. Nur dass es zu deren Zeit noch ein hohes analoges Briefaufkommen gab, wohingegen der Zusteller in Zeiten der Digitalisierung vom „postfeindlichen Klickklickklick und Wischwischwisch“ zunehmend überflüssig gemacht wird. Er fährt zwar noch täglich mit seiner Dienst-Honda seine Touren, aber Pedro hat außer schnöder Werbung immer weniger Post auszutragen. Weshalb er seine Zeit gerne bei einem Café con leche verbringt und hinterher mit den Tankbelegen trickst.
Das Post-Setting wurde von Rinke geschickt gewählt, so kann er von der Internet-Moderne und deren Rationalisierungsmaßnahmen erzählen; kann uns Leser aber auch mit seinem Titelhelden über die Insel brausen und deren raue Schönheit wahrnehmen lassen. Außerdem ist die Post ein romantisches Sujet, dessen viele Verweise, etwa auf alte, nie zugestellte Liebesbriefe oder auf prominente Vertreter der Zunft – wie den jungen Abraham Lincoln – der Autor nostalgisch auskostet.
Dass bis zu seinem Tod 2010 der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago auf Lanzarote lebte, spielt ebenfalls eine Rolle (der Roman spielt zwischen 2009 und 2010). Und wer jetzt sofort an „Il postino“ denkt, den 1994 auf der italienischen Insel Procida gedrehten Film von Michael Radford nach einem Roman von Antonio Skármeta, in dem der chilenische Dichter Pablo Neruda einem Briefträger zu seiner Liebe verhilft, dem sei versichert: Da ist nichts abgekupfert. Rinke spricht diese Analogie selber an. Und überhaupt, liebestraurige Postboten und glorifizierte Schriftsteller kommen auf so mancher Insel vor. Wobei José Saramago in Rinkes Roman unerreichbar bleibt, da er von einer strengen Haushälterin abgeschirmt wird. Nicht aber des Nobelpreisträgers Pudel, den Pedro und sein Jugendfreund Tenaro entführen – eine der nonchalanten Torheiten dieses Duos, das ein bisschen an Don Quijote und Sancho Pansa erinnert. Der Fischer Tenaro ist in Zeiten überfischter Meere ohne Arbeit, aber voller Ideen. Ständig ersinnt er aberwitzige Geschäftsmodelle.
Das alles also ist Thema: die Insel, die Globalisierung, die Post, die Männerfreundschaft, die Liebe. Vor allem die Liebe. Gemeint ist nicht die Liebe zwischen Mann und Frau – davon weiß Rinke erstaunlich wenig zu erzählen –, sondern die zwischen Vater und Sohn. Der kleine Miguel ist zwar nicht Pedros leibliches Kind, aber er liebt den Jungen abgöttisch, kümmert sich um Erziehung, Hausaufgaben, Bespaßung. Er ist einer dieser fürsorglichen Hausmänner, während Miguels Mutter Carlota, deren größter Vorzug offenbar die optische Ähnlichkeit mit Penélope Cruz ist, Karriere im Hotel Crystal Palace macht. Nun ja, zumindest arbeitet sie dort Tag und Nacht, und erst, als sie ihn verlässt, schnallt der gutmütige, nicht gerade als großes Licht eingeführte Pedro, dass Carlota eine Affäre mit ihrem Chef Bruno hat. Mit diesem betreibt sie fortan ein Boutique-Hotel in Barcelona, und den siebenjährigen Miguel nimmt sie mit. Sodass der Romanheld erst mal ein depressiver Selbstmordkandiat ist.
Aber dann passiert so viel im Leben des Pedro Fernández García, dass der Tod gar keine Chance und der Autor ganz schön viel zu arrangieren hat. Da ist zunächst der aus Afrika geflüchtete Amado, der im entscheidenden Moment wie ein rettender Engel in der Küche sitzt. Wirkt er erst wie ein durch zu viel „Kongogras“ in der vorangegangenen Bar-Nacht herbei halluziniertes Hirngespinst, wird sehr schnell klar: Nein, der ist echt! Amado ist in seiner ganzen Märchenhaftigkeit Rinkes Repräsentationsfigur für die auf Lanzarote gestrandeten Asylsuchenden aus Afrika – und für die Flüchtlingskrise im Allgemeinen. Denn die darf natürlich nicht fehlen in einer Geschichte, die 2009/10 auf einem Post-Außenposten der Festung Europa spielt.
Wobei der aus Äquatorialguinea stammende Amado ein echter Vorzeigeflüchtling ist: Spanisch sprechend, Akademiker, ein Mann mit Geist und Ausstrahlung. Er stellt sich als Präsident des „Landes der Wartenden“ vor, eines Flüchtlingslagers zwischen den Welten in der Enklave Melilla. Amado lehrt Pedro, dass „die Gleichgültigkeit die gefährlichste Form der Rohheit“ ist. Fußball liebt er auch, was ihn endgültig zum Freund und zu einem Rinke-Musterprotagonisten macht, und den Roman zu einem Jungs-Ding.
Der Fußball, Rinkes große Leidenschaft – er ist Torjäger der deutschen Autorennationalmannschaft –, rollt geradezu leitmotivisch durch die Geschichte, auch über ein Feld aus Ballkitsch und Klischees. Er verbindet Vater und verlorenen Sohn und die Männer sowieso, die alle an den einen Gott glauben: Lionel Messi. Er, der „im Schuss die Welt anhält“, ist der heimliche Held des Romans und steht bei einem „Clásico“ – FC Barcelona gegen Real Madrid –, seinen Supermann. Tor!
Dieses Spiel im Stadion Camp Nou ist Teil des Plans, mit dem Pedro und Tenaro den kleinen Miguel aus Barcelona zurückholen wollen. Was ihnen dabei alles unterläuft, zählt zu jenen Eulenspiegeleien, die das Buch auch zu einem Schelmenroman machen. Ein spitzbübisch-kindliches Gemüt schlägt sich hier mit Fabulierlust nieder. Introspektion ist nicht so sehr Rinkes Fall, aber er kann und liebt Dialoge. Und Situationskomik. Man merkt, wie sich der Autor an seinen Erfindungen und Formulierungen delektiert; wie es ihm Freude macht, seine etwas schlichten Helden durch Pleiten, Pech und Pannen und die Segnungen des – seinerzeit noch relativ neuen – Smartphones zu führen, aber auch durch die Höhen und Kabbeleien echter Männerfreundschaft. Die hat hier genauso sentimentale Züge wie Pedros Vaterliebe.
Rinkes Erzählung hat einen (männer)romantischen Retro-Touch. Aber auch einen problemumfassenden All-inclusive-Willen. Deshalb muss schon auch noch Spaniens faschistische Vergangenheit mit rein. Und die Verstrickung mit Nazi-Deutschland, festgemacht an einem schwer auf dem Roman lastenden Möbel-Erbstück von Pedros Großvater aus „deutscher Eiche“. Dazu gibt es ausführliche Exkurse und Internetrecherche-Ergebnisse – wie ohnehin Wikipedia auf den 436 Seiten viele Infospuren hinterlassen hat. So erringt dieser überfrachtete Roman literarisch zwar keinen Meisterschaftstitel. Aber, um in der Sprache des Fußballs zu bleiben: Er dribbelt munter und wendig ins Finale.
Introspektion ist nicht
so sehr Rinkes Fall, aber er
kann und liebt Dialoge
Moritz Rinke: Der
längste Tag im Leben des Pedro Fernández García.
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2021.
448 Seiten, 24 Euro.
Höhepunkt bei Moritz Rincke und im göttlichen Fußball sowieso: Lionel Messi mit Christiano Ronaldo beim Clásico, hier im Jahr 2016.
Foto: Alex Caparros; getty
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Messi
Moritz Rinkes zweiter Roman ist vor allem
ein Jungs-Ding über Männerfreundschaft,
Vaterliebe und Fußball
VON CHRISTINE DÖSSEL
Wer noch nie auf Lanzarote war, fühlt sich nach der Lektüre von Moritz Rinkes neuem Roman ganz gut vertraut mit der Kanareninsel, ihren weißen Dörfern und schwarzen Stränden. Er erfährt von dem ockergelb-rötlichen Staub, den der Ostwind aus der Sahara herüberbläst, lernt den Unterschied zwischen „Blocklava“ und „Stricklava“, und dass man den feinkörnigen Lava-Ascheboden „Picón“ nennt. Er kann sich ein Bild machen von den Feuerbergen von Timanfaya, dem Famara-Kliff mit der Kapelle obendrauf und den südlichen Ajaches-Bergen mit dem Atalaya-Vulkan. Überhaupt die ganzen Vulkane mit ihren plastischen Namen – der schöne Hans, der schwarze Brüller –, sie kommen alle zur Geltung.
Der in Berlin lebende Dramatiker und Schriftsteller Moritz Rinke hat seit vielen Jahren ein Haus auf der Insel, zieht sich zum Schreiben dahin zurück, spricht mit den Leuten. Nun hat er einen Roman nicht nur auf, sondern auch über Lanzarote und die dortigen „Vulkanmenschen“ geschrieben, es ist sein zweiter – nach „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“ von 2010 –, er trägt den kapriziösen Titel „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García“. Dieser Pedro Fernández García ist nicht etwa ein Abenteuerheld, wie man vermuten könnte, sondern ein einfacher Postbote, angestellt bei der königlichen Post Spaniens wie auch schon sein Vater und sein Großvater. Nur dass es zu deren Zeit noch ein hohes analoges Briefaufkommen gab, wohingegen der Zusteller in Zeiten der Digitalisierung vom „postfeindlichen Klickklickklick und Wischwischwisch“ zunehmend überflüssig gemacht wird. Er fährt zwar noch täglich mit seiner Dienst-Honda seine Touren, aber Pedro hat außer schnöder Werbung immer weniger Post auszutragen. Weshalb er seine Zeit gerne bei einem Café con leche verbringt und hinterher mit den Tankbelegen trickst.
Das Post-Setting wurde von Rinke geschickt gewählt, so kann er von der Internet-Moderne und deren Rationalisierungsmaßnahmen erzählen; kann uns Leser aber auch mit seinem Titelhelden über die Insel brausen und deren raue Schönheit wahrnehmen lassen. Außerdem ist die Post ein romantisches Sujet, dessen viele Verweise, etwa auf alte, nie zugestellte Liebesbriefe oder auf prominente Vertreter der Zunft – wie den jungen Abraham Lincoln – der Autor nostalgisch auskostet.
Dass bis zu seinem Tod 2010 der portugiesische Literaturnobelpreisträger José Saramago auf Lanzarote lebte, spielt ebenfalls eine Rolle (der Roman spielt zwischen 2009 und 2010). Und wer jetzt sofort an „Il postino“ denkt, den 1994 auf der italienischen Insel Procida gedrehten Film von Michael Radford nach einem Roman von Antonio Skármeta, in dem der chilenische Dichter Pablo Neruda einem Briefträger zu seiner Liebe verhilft, dem sei versichert: Da ist nichts abgekupfert. Rinke spricht diese Analogie selber an. Und überhaupt, liebestraurige Postboten und glorifizierte Schriftsteller kommen auf so mancher Insel vor. Wobei José Saramago in Rinkes Roman unerreichbar bleibt, da er von einer strengen Haushälterin abgeschirmt wird. Nicht aber des Nobelpreisträgers Pudel, den Pedro und sein Jugendfreund Tenaro entführen – eine der nonchalanten Torheiten dieses Duos, das ein bisschen an Don Quijote und Sancho Pansa erinnert. Der Fischer Tenaro ist in Zeiten überfischter Meere ohne Arbeit, aber voller Ideen. Ständig ersinnt er aberwitzige Geschäftsmodelle.
Das alles also ist Thema: die Insel, die Globalisierung, die Post, die Männerfreundschaft, die Liebe. Vor allem die Liebe. Gemeint ist nicht die Liebe zwischen Mann und Frau – davon weiß Rinke erstaunlich wenig zu erzählen –, sondern die zwischen Vater und Sohn. Der kleine Miguel ist zwar nicht Pedros leibliches Kind, aber er liebt den Jungen abgöttisch, kümmert sich um Erziehung, Hausaufgaben, Bespaßung. Er ist einer dieser fürsorglichen Hausmänner, während Miguels Mutter Carlota, deren größter Vorzug offenbar die optische Ähnlichkeit mit Penélope Cruz ist, Karriere im Hotel Crystal Palace macht. Nun ja, zumindest arbeitet sie dort Tag und Nacht, und erst, als sie ihn verlässt, schnallt der gutmütige, nicht gerade als großes Licht eingeführte Pedro, dass Carlota eine Affäre mit ihrem Chef Bruno hat. Mit diesem betreibt sie fortan ein Boutique-Hotel in Barcelona, und den siebenjährigen Miguel nimmt sie mit. Sodass der Romanheld erst mal ein depressiver Selbstmordkandiat ist.
Aber dann passiert so viel im Leben des Pedro Fernández García, dass der Tod gar keine Chance und der Autor ganz schön viel zu arrangieren hat. Da ist zunächst der aus Afrika geflüchtete Amado, der im entscheidenden Moment wie ein rettender Engel in der Küche sitzt. Wirkt er erst wie ein durch zu viel „Kongogras“ in der vorangegangenen Bar-Nacht herbei halluziniertes Hirngespinst, wird sehr schnell klar: Nein, der ist echt! Amado ist in seiner ganzen Märchenhaftigkeit Rinkes Repräsentationsfigur für die auf Lanzarote gestrandeten Asylsuchenden aus Afrika – und für die Flüchtlingskrise im Allgemeinen. Denn die darf natürlich nicht fehlen in einer Geschichte, die 2009/10 auf einem Post-Außenposten der Festung Europa spielt.
Wobei der aus Äquatorialguinea stammende Amado ein echter Vorzeigeflüchtling ist: Spanisch sprechend, Akademiker, ein Mann mit Geist und Ausstrahlung. Er stellt sich als Präsident des „Landes der Wartenden“ vor, eines Flüchtlingslagers zwischen den Welten in der Enklave Melilla. Amado lehrt Pedro, dass „die Gleichgültigkeit die gefährlichste Form der Rohheit“ ist. Fußball liebt er auch, was ihn endgültig zum Freund und zu einem Rinke-Musterprotagonisten macht, und den Roman zu einem Jungs-Ding.
Der Fußball, Rinkes große Leidenschaft – er ist Torjäger der deutschen Autorennationalmannschaft –, rollt geradezu leitmotivisch durch die Geschichte, auch über ein Feld aus Ballkitsch und Klischees. Er verbindet Vater und verlorenen Sohn und die Männer sowieso, die alle an den einen Gott glauben: Lionel Messi. Er, der „im Schuss die Welt anhält“, ist der heimliche Held des Romans und steht bei einem „Clásico“ – FC Barcelona gegen Real Madrid –, seinen Supermann. Tor!
Dieses Spiel im Stadion Camp Nou ist Teil des Plans, mit dem Pedro und Tenaro den kleinen Miguel aus Barcelona zurückholen wollen. Was ihnen dabei alles unterläuft, zählt zu jenen Eulenspiegeleien, die das Buch auch zu einem Schelmenroman machen. Ein spitzbübisch-kindliches Gemüt schlägt sich hier mit Fabulierlust nieder. Introspektion ist nicht so sehr Rinkes Fall, aber er kann und liebt Dialoge. Und Situationskomik. Man merkt, wie sich der Autor an seinen Erfindungen und Formulierungen delektiert; wie es ihm Freude macht, seine etwas schlichten Helden durch Pleiten, Pech und Pannen und die Segnungen des – seinerzeit noch relativ neuen – Smartphones zu führen, aber auch durch die Höhen und Kabbeleien echter Männerfreundschaft. Die hat hier genauso sentimentale Züge wie Pedros Vaterliebe.
Rinkes Erzählung hat einen (männer)romantischen Retro-Touch. Aber auch einen problemumfassenden All-inclusive-Willen. Deshalb muss schon auch noch Spaniens faschistische Vergangenheit mit rein. Und die Verstrickung mit Nazi-Deutschland, festgemacht an einem schwer auf dem Roman lastenden Möbel-Erbstück von Pedros Großvater aus „deutscher Eiche“. Dazu gibt es ausführliche Exkurse und Internetrecherche-Ergebnisse – wie ohnehin Wikipedia auf den 436 Seiten viele Infospuren hinterlassen hat. So erringt dieser überfrachtete Roman literarisch zwar keinen Meisterschaftstitel. Aber, um in der Sprache des Fußballs zu bleiben: Er dribbelt munter und wendig ins Finale.
Introspektion ist nicht
so sehr Rinkes Fall, aber er
kann und liebt Dialoge
Moritz Rinke: Der
längste Tag im Leben des Pedro Fernández García.
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2021.
448 Seiten, 24 Euro.
Höhepunkt bei Moritz Rincke und im göttlichen Fußball sowieso: Lionel Messi mit Christiano Ronaldo beim Clásico, hier im Jahr 2016.
Foto: Alex Caparros; getty
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.2022Vaterlose Gesellen
Moritz Rinkes neuer Roman erzählt von einem Postboten auf Lanzarote und den Geistern der Vergangenheit
Globalisierung und Digitalisierung erzählen neben Erfolgs- auch immer wieder Abstiegsgeschichten: von Arbeitsplatzverlusten und Standortverlagerungen. Der Roman "Der längste Tag im Leben von Pedro Fernández García" von Moritz Rinke kann auch als eine solche gelesen werden. Der titelgebende Protagonist ist Postbote auf Lanzarote, das sinkende Briefaufkommen hat dazu geführt, dass Pedros Beruf immer bedeutungsloser wird. Der Arbeitsnachweis für das Ministerium ist seine Tankabrechnung, also fährt Pedro mit seiner Dienst-Honda Tag für Tag ans nördlichste Ende der Insel, um dort einen Café con leche zu trinken. Während er sich mit dem Abstellgleis zufriedengibt, drängt seine Frau Carlota ihn, einen neuen Beruf zu suchen. Der tief verwurzelte Konflikt zwischen den beiden führt schließlich dazu, dass Carlota ihn mit dem gemeinsamen Sohn Miguel verlässt, um in Barcelona ein modernes Leben zu führen.
Nach der Trennung von Frau und Sohn entkoppelt sich Pedro völlig von der Gegenwart. Seine Verzweiflung kompensiert er mit einer Flucht in die Vergangenheit; durch den ganzen Roman hinweg wird so neben Pedros Geschichte auch die seines Vaters und Großvaters sowie die von Spanien und Lanzarote erzählt. Pedros Erinnern ist dabei oft an räumliche Auslöser geknüpft, seine Postrouten und bestimmte Straßen, wie die, die "für den Besuch von General Franco gebaut worden" war, sind es, die ihn abschweifen lassen. Die passende Metapher für dieses Erzählverfahren, dass die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart omnipräsent macht, liefert Pedro gleich selbst mit: "Er starrte eine Weile auf die Lichter seiner Kindheit in der Ferne, und die Bilder von damals stiegen wie Geister vor ihm auf."
Diese Bilder von damals kreisen hauptsächlich um Vater und Großvater: Letzterer war nach dem Zweiten Weltkrieg der erste Postbote auf Lanzarote gewesen, sein Wohnhaus das Postamt. Pedros Vater und dann auch Pedro selbst haben Beruf und Haus übernommen, zusammen mit dem wohl wichtigsten Familienerbstück, einem Schreibtisch - "ein Geschenk vom Sultan, dessen elektrische Anlagen der Großvater im Palast gewartet hatte". Doch Pedro stößt auf ein Messingschild unter der Tischplatte, eine Widmung für Johannes Bernhardt von Hermann Göring: "Viva la Unternehmen Feuerzauber! Heil Hitler". Damit tun sich für Pedro die Abgründe der eigenen Familiengeschichte auf: "Wieso war der Sultantisch nicht mehr aus marokkanischem Thujaholz - wie es in seiner Kindheit immer geheißen hatte -, sondern plötzlich aus deutscher Eiche?"
Der alte Schreibtisch wird zum Symbol für die Vergangenheit, die Pedro nicht loslässt, auch dann nicht, wenn er beginnt, sie zu verstehen. Die Verwobenheit von Familien- und Zeitgeschichte spiegelt sich in dem Möbel wider; als Pedro schließlich mit einer Axt auf den Tisch losgeht, um mit der Vergangenheit abzuschließen, gelingt ihm die Zerstörung nicht. Es sind große Symbole wie dieses, die den Roman durchziehen, und auch wenn sie selten sind, machen sie die Stärke von Rinkes Erzählen aus, ebenso wie die schlichte, aber pointierte Metaphorik, die der Autor seinen Figuren in den Mund legt. Diese Sprache passt zu ihnen und ihrer Entwicklung: Während Pedro anfangs noch etwas wortkarg und gefühlskalt ist, als fühlte er sich unwohl dabei, die Hauptfigur des Romans zu sein, wird seine Sprache im Laufe der Handlung bildhafter. Wenn er im Radio-Jahresrückblick hört, "dass in der Antarktis eine Eisplatte von der Größe Madrids infolge der Erderwärmung abgebrochen war", so lautet sein eigener Jahresrückblick kurz darauf, dass "eine riesige Fläche von der Größe Madrids aus dem eigenen Leben herausbrach".
Schließlich ist es die Begegnung mit Amado, einem Wissenschaftler für spanische Literatur, die Pedros Denken noch bildhafter macht und die dazu führt, dass er seinen Schmerz um den Verlust des Sohnes verarbeiten kann. Amado ist auf der Flucht aus Äquatorialguinea und taucht eines Tages einfach in Pedros Haus auf. Zwischen den beiden und Pedros altem Schulfreund Tenaro, einem arbeitslosen Fischer, entsteht eine tiefe Verbindung durch die gemeinsame Begeisterung für Fußball und die scheinbare Ausweglosigkeit ihrer Situationen: "Der eine ohne Sohn, völlig am Ende. Der andere ohne Job, ohne Fische, ohne das Meer, nur mit einem Joint. Und der dritte ohne Papiere, nur mit irgendwelchen Gedichten."
Die Erkenntnis, dass auch ihre Vaterlosigkeit ein verbindendes und für alle drei Männer belastendes Element ist, bringt Pedro schließlich dazu, für ein gemeinsames Leben mit seinem Sohn Miguel zu kämpfen. Und so begibt er sich mit Unterstützung seiner beiden Freunde auf ein Abenteuer zwischen Lanzarote und Barcelona, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Und Moritz Rinke schafft es, den Leser auf dieses Abenteuer mitzunehmen. EMILIA KRÖGER
Moritz Rinke: "Der längste Tag im Leben von Pedro Fernández García". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 448 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Moritz Rinkes neuer Roman erzählt von einem Postboten auf Lanzarote und den Geistern der Vergangenheit
Globalisierung und Digitalisierung erzählen neben Erfolgs- auch immer wieder Abstiegsgeschichten: von Arbeitsplatzverlusten und Standortverlagerungen. Der Roman "Der längste Tag im Leben von Pedro Fernández García" von Moritz Rinke kann auch als eine solche gelesen werden. Der titelgebende Protagonist ist Postbote auf Lanzarote, das sinkende Briefaufkommen hat dazu geführt, dass Pedros Beruf immer bedeutungsloser wird. Der Arbeitsnachweis für das Ministerium ist seine Tankabrechnung, also fährt Pedro mit seiner Dienst-Honda Tag für Tag ans nördlichste Ende der Insel, um dort einen Café con leche zu trinken. Während er sich mit dem Abstellgleis zufriedengibt, drängt seine Frau Carlota ihn, einen neuen Beruf zu suchen. Der tief verwurzelte Konflikt zwischen den beiden führt schließlich dazu, dass Carlota ihn mit dem gemeinsamen Sohn Miguel verlässt, um in Barcelona ein modernes Leben zu führen.
Nach der Trennung von Frau und Sohn entkoppelt sich Pedro völlig von der Gegenwart. Seine Verzweiflung kompensiert er mit einer Flucht in die Vergangenheit; durch den ganzen Roman hinweg wird so neben Pedros Geschichte auch die seines Vaters und Großvaters sowie die von Spanien und Lanzarote erzählt. Pedros Erinnern ist dabei oft an räumliche Auslöser geknüpft, seine Postrouten und bestimmte Straßen, wie die, die "für den Besuch von General Franco gebaut worden" war, sind es, die ihn abschweifen lassen. Die passende Metapher für dieses Erzählverfahren, dass die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart omnipräsent macht, liefert Pedro gleich selbst mit: "Er starrte eine Weile auf die Lichter seiner Kindheit in der Ferne, und die Bilder von damals stiegen wie Geister vor ihm auf."
Diese Bilder von damals kreisen hauptsächlich um Vater und Großvater: Letzterer war nach dem Zweiten Weltkrieg der erste Postbote auf Lanzarote gewesen, sein Wohnhaus das Postamt. Pedros Vater und dann auch Pedro selbst haben Beruf und Haus übernommen, zusammen mit dem wohl wichtigsten Familienerbstück, einem Schreibtisch - "ein Geschenk vom Sultan, dessen elektrische Anlagen der Großvater im Palast gewartet hatte". Doch Pedro stößt auf ein Messingschild unter der Tischplatte, eine Widmung für Johannes Bernhardt von Hermann Göring: "Viva la Unternehmen Feuerzauber! Heil Hitler". Damit tun sich für Pedro die Abgründe der eigenen Familiengeschichte auf: "Wieso war der Sultantisch nicht mehr aus marokkanischem Thujaholz - wie es in seiner Kindheit immer geheißen hatte -, sondern plötzlich aus deutscher Eiche?"
Der alte Schreibtisch wird zum Symbol für die Vergangenheit, die Pedro nicht loslässt, auch dann nicht, wenn er beginnt, sie zu verstehen. Die Verwobenheit von Familien- und Zeitgeschichte spiegelt sich in dem Möbel wider; als Pedro schließlich mit einer Axt auf den Tisch losgeht, um mit der Vergangenheit abzuschließen, gelingt ihm die Zerstörung nicht. Es sind große Symbole wie dieses, die den Roman durchziehen, und auch wenn sie selten sind, machen sie die Stärke von Rinkes Erzählen aus, ebenso wie die schlichte, aber pointierte Metaphorik, die der Autor seinen Figuren in den Mund legt. Diese Sprache passt zu ihnen und ihrer Entwicklung: Während Pedro anfangs noch etwas wortkarg und gefühlskalt ist, als fühlte er sich unwohl dabei, die Hauptfigur des Romans zu sein, wird seine Sprache im Laufe der Handlung bildhafter. Wenn er im Radio-Jahresrückblick hört, "dass in der Antarktis eine Eisplatte von der Größe Madrids infolge der Erderwärmung abgebrochen war", so lautet sein eigener Jahresrückblick kurz darauf, dass "eine riesige Fläche von der Größe Madrids aus dem eigenen Leben herausbrach".
Schließlich ist es die Begegnung mit Amado, einem Wissenschaftler für spanische Literatur, die Pedros Denken noch bildhafter macht und die dazu führt, dass er seinen Schmerz um den Verlust des Sohnes verarbeiten kann. Amado ist auf der Flucht aus Äquatorialguinea und taucht eines Tages einfach in Pedros Haus auf. Zwischen den beiden und Pedros altem Schulfreund Tenaro, einem arbeitslosen Fischer, entsteht eine tiefe Verbindung durch die gemeinsame Begeisterung für Fußball und die scheinbare Ausweglosigkeit ihrer Situationen: "Der eine ohne Sohn, völlig am Ende. Der andere ohne Job, ohne Fische, ohne das Meer, nur mit einem Joint. Und der dritte ohne Papiere, nur mit irgendwelchen Gedichten."
Die Erkenntnis, dass auch ihre Vaterlosigkeit ein verbindendes und für alle drei Männer belastendes Element ist, bringt Pedro schließlich dazu, für ein gemeinsames Leben mit seinem Sohn Miguel zu kämpfen. Und so begibt er sich mit Unterstützung seiner beiden Freunde auf ein Abenteuer zwischen Lanzarote und Barcelona, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Und Moritz Rinke schafft es, den Leser auf dieses Abenteuer mitzunehmen. EMILIA KRÖGER
Moritz Rinke: "Der längste Tag im Leben von Pedro Fernández García". Roman.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021. 448 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Besonders einfühlsam gelingt [Rinke] die anrührende, psychologisch fein grundierte Beziehung zwischen Vater und Sohn.« Peter von Becker Der Tagesspiegel 20211114
Rezensent Benedikt Herber mag den zweiten Roman von Moritz Rinke, wenn auch nicht in Gänze. Zunächst lässt sich der Kritiker gern mit nach Lanzarote nehmen, an der Seite des Postboten Pedro, der trotz Affären Frau und Sohn liebt und vor allem damit hadert, dass die Digitalisierung den guten alten Brief zunehmend verdrängt. Irgendwann dreht Pedro ein wenig ab, gefährdet bei einem Trip nach Fuertaventura das Leben seines Sohnes und wird daraufhin von seiner Frau verlassen, resümiert Herber. Was das Buch für den Rezensenten ausmacht, ist neben der berührenden Vater-Sohn-Geschichte, das Feuerwerk an rasanten Dialogen und "Wortwitz". Auf die zahlreichen Exkurse, etwa zu Lionel Messi, Hermann Görings Eichentisch oder Flüchtlingsleichen an Strandpromenaden hätte der Kritiker indes verzichten können.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH