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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Marion Karausche eindrucksvolles Debüt erzählt vom Abgrund unter uns
Das Telefon klingelt morgens um sechs. Marlen, mit ihrer deutschen Familie in Marokko lebend, Marlen gefriert das Blut. Sie ahnt, dass dieser Anruf etwas Schlimmes für sie alle bringt. Sie redet sich ein, da habe sich doch nur jemand verwählt und bleibt liegen. Das Telefon verstummt. Aber beim zweiten Klingeln springt Marlen aus dem Bett und weiß: Das gilt ihr, und das wird schlimm. Sie erwartet so einen Anruf schon lange, einen Anruf, der endlich Klarheit darüber bringt, wo ihr seit Monaten verschwundener Sohn Kai geblieben ist und ob er überhaupt noch lebt.
Der Anruf kommt aus einer psychiatrischen Klinik in Deutschland. Ihr Sohn wurde eingeliefert, nachdem er auf der Straße sein Auto und seine Habseligkeiten angezündet hatte. Die Polizei brachte ihn, der sichtlich verwirrt war und auch gewalttätig wurde, in die Klinik.
Und Marlen ist fast erleichtert: einfach weil Kai lebt. Sein Platz am Tisch ist schon lange leer. Der begabte, fröhliche, studierende Sohn war nach einem Urlaub mit Freunden zunächst monatelang nicht zurückgekommen, dann stand er plötzlich verändert und abweisend fremd vor der Tür, ernst, unnahbar, schloss sich von da an in sein Zimmer ein, wollte mit der Familie nichts mehr zu tun haben. Brach das Studium ab.
Was war passiert? War es ein Drogenrausch ohne Zurück? Eine schleichende Krankheit? War eine Sekte im Spiel? Die Klinik, in der er nun gelandet ist, diagnostiziert Schizophrenie, die Mutter will es nicht glauben. Sie fliegt sofort nach Deutschland, ist erschüttert über ihr verwahrlostes, in der Klinik sediertes und fixiertes Kind und überlegt, ob es Vorzeichen gegeben hatte.
Mit sechzehn hatte er sich seine schönen Locken abschneiden und eine Glatze rasieren lassen. Pubertärer Übermut? Jetzt nachträglich scheint alles ein erstes Krankheitssymptom zu sein, und behutsam erzählt Marion Karausche in ihrem erschütternden Debütroman in zwei Richtungen: Sie tastet sich in Marlens Vergangenheit zurück, in deren eigene Jugend und Familie, sie erzählt von den vielen familiären Schicksalsschlägen, von der Arbeitswut und den cholerischen Ausbrüchen des Vaters, den zahl- und wahllosen Affären der depressiven Mutter, von ihrer eigenen Bulimie, und sie erzählt hart an Marlens Gegenwart und an Kais immer mehr zerstörtem Leben entlang.
Gibt es da frühe Risse, unselige Zusammenhänge? Oder passiert so was einfach, dass jemand plötzlich, ja: ver-rückt wird? Die Familie droht daran zu zerbrechen, Martin, der Vater, versteinert in Hilflosigkeit, und für Marlen gilt nun nichts anderes mehr als dieser kranke Sohn, in dessen Nähe sie wie auch immer zu bleiben versucht.
Unter dieser Geschichte läuft eine andere mit: die Erfahrung mit einer solchen Krankheit in einem Land wie dem unseren. Der „Verrückte“, der sich nicht der Norm entsprechend verhält, wird aufgegriffen, in die Klinik gebracht, ruhig gestellt. Lange darf man das gegen seinen Willen aber nicht machen, denn da tut sich ein ethisches Dilemma auf: der Konflikt zwischen Fürsorgepflicht auf der einen und Patientenautonomie auf der anderen Seite.
Aber wie autonom ist denn ein so kranker, verwirrter Mensch noch? Wenn er sich und andere nicht direkt gefährdet, wird er nach einiger Zeit wieder entlassen, ermahnt, seine Pillen zu nehmen, was er natürlich nicht tut. Dem zugeteilten, überforderten Betreuer weicht Kai aus und landet bei den Obdachlosen, den Drogensüchtigen auf der Straße, verfällt weiter. Marlen, die Mutter, sucht ihn, findet ihn immer wieder, mietet eine kleine Wohnung, lebt mit ihm, bis er wieder untertaucht.
Wirklich helfen kann sie ihm nicht, ihn nur – irgendwie – am Leben halten, was er gar nicht immer will. Er redet oft vom Sterben.
Dem Buch ist ein Satz der amerikanischen Verhaltensforscherin Sarah Blaffer Hrdy vorangestellt: „Eine Mutter kann nur so glücklich sein wie ihr unglücklichstes Kind.“
Karausche fühlt sich tief in diese Mutter ein, die ihr Kind zu verstehen und ihm zu helfen versucht, einem Kind, das ein erwachsener Mann ist, der sein eigenes Leben leben will, wie elend auch immer. Und sie leidet unter den Ratschlägen, die wohlmeinende Freunde geben: mal richtig deutlich mit Kai reden! Mal energisch durchgreifen! Da muss man doch was machen können, ihm die Medikamente ins Essen schmuggeln? Es muss doch einen Psychiater geben…? Marlen versucht es in ihrer Qual sogar bei einem Heiler. Aber es gibt Elend, dem nicht beizukommen ist.
Dieses eindrucksvoll erzählte Debüt thematisiert, was bei solchen psychischen Krankheitsfällen, plötzlichen Unfällen an den Rändern unserer Gesellschaft geschieht oder nicht geschieht: ein Mensch, zu dessen Krankheitsbild es gehört, die eigene Psychose nicht zu erkennen und sich also jeder Behandlung zu verschließen, ist: verloren. Richter entscheiden immer gegen die Freiheitsberaubung und die Zwangseinweisung, was nach den Erfahrungen mit Richtern in der Nazizeit gut und richtig ist. Aber der Patient, den man sich selbst überlässt, durchläuft Höllen und geht drauf. Außer, vielleicht, er hat eine Mutter wie Marlen. Sie bleibt an seiner Seite, bis er sich, noch einmal mit ihr nach Hause zurückgekehrt, eines Tages mit einem langen Brief verabschiedet, von allen und allem: Er müsse gehen, wolle frei sein, man solle ihn für immer ziehen lassen.
Fast gibt Marlen sich da selbst auf. Fast. Der Schluss bleibt offen, aber ist hier Hoffnung möglich? Es ist ein bewegendes Buch, das uns unsere Hilflosigkeit vorführt, wenn ein Mensch derart aus den gewohnten Normen fällt.
ELKE HEIDENREICH
Marion Karausche ist Dolmetscherin und Übersetzerin.
Foto: Tom Schneider
Marion Karausche:
Der leere Platz. Roman. Kein & Aber, Zürich 2021. 272 Seiten, 22 Euro.
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