Annette Mingels‘ großer Roman übers Älterwerden und das Schwinden aller Sicherheiten
Carl Kruger ist einsam. Fast sechzig Jahre war der emeritierte Chemieprofessor mit Helen verheiratet. Obwohl die Ehe schon lange zerrüttet war, trifft Helens Tod ihn bis ins Mark. Darum willigt er ein, als seine Tochter Lisa ihn zu einer Reise in die alte Heimat überredet. Doch der Besuch in Ostdeutschland und Polen verläuft anders, als der Wahlamerikaner erwartet. Konfrontiert mit einer Welt im Umbruch, stellt sich Carl die Frage: ist er, der »alte weiße Mann«, überhaupt angekommen in diesem Jahrhundert?
Annette Mingels' so kluger wie berührender Roman erzählt vom Schwinden aller Sicherheiten am Ende eines langen Lebens und von sehr heutigen Konflikten zwischen den Generationen. Psychologisch genau, mit virtuoser Leichtigkeit und meisterhaft im Ton.
Carl Kruger ist einsam. Fast sechzig Jahre war der emeritierte Chemieprofessor mit Helen verheiratet. Obwohl die Ehe schon lange zerrüttet war, trifft Helens Tod ihn bis ins Mark. Darum willigt er ein, als seine Tochter Lisa ihn zu einer Reise in die alte Heimat überredet. Doch der Besuch in Ostdeutschland und Polen verläuft anders, als der Wahlamerikaner erwartet. Konfrontiert mit einer Welt im Umbruch, stellt sich Carl die Frage: ist er, der »alte weiße Mann«, überhaupt angekommen in diesem Jahrhundert?
Annette Mingels' so kluger wie berührender Roman erzählt vom Schwinden aller Sicherheiten am Ende eines langen Lebens und von sehr heutigen Konflikten zwischen den Generationen. Psychologisch genau, mit virtuoser Leichtigkeit und meisterhaft im Ton.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Kluge Fragen zum Altern stellt dieser Roman von Annette Mingels, lobt Rezensentin Rose-Maria Gropp: Protagonist ist der über achtzigjährige Carl Kruger, der früher mal ein echter "Homme à femmes" war und heute nur noch als "alter weißer Mann" gilt. Nach dem Tod seiner Frau reist Carl gemeinsam mit der zwischenzeitlich sehr entfremdeten Tochter von Amerika nach Zoppot, seine Geburtsstadt. Er wird dort auf eine Weise mit sich selbst konfrontiert, die ihn für die Kritikerin deutlich sympathischer macht. Auch wenn Gropp das Gefühl hat, dass die Autorin ihre Figur bisweilen ein wenig überfrachtet, zeigt sie ihr doch Sensibilität im Umgang mit dem Altern und dem nahen Tod - die "Chance zur Versöhnlichkeit" nimmt Gropp mit der Lektüre gerne wahr.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Sie schreibt klar, unprätentiös, fast verhalten und dringt durch ihre Sprache zum Wesenskern eines Menschen vor, der bei aller emotionalen Unfähigkeit immer seine Art Erfüllung suchte.« WDR 3, "Lesestoff", Jutta Duhm-Heitzmann.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.12.2023Alter, weißer Jedermann
Annette Mingels widmet dem Antitypen unserer Zeit, dem eitlen,
egomanen Familienvater, einen ganzen Roman. Ist er noch zu ertragen?
Wer hat sich nicht schon mal gewundert, dass andere Leute jemanden leiden können, den man selbst verabscheut? Annette Mingels’ Helden zum Beispiel muss man nicht mögen. Carl Kruger, eigentlich Krüger, emeritierter Professor für Chemie in Princeton, denkt, während er in seinem ereignislosen Alltag nach seiner sterbenskranken Frau Helen sieht, zurück an Zeiten, als ihn Studentinnen umschwärmten und er sie verführen konnte, ohne dass es ihm geschadet hätte. Wie in früheren Büchern zeichnet die Schriftstellerin Annette Mingels auch in „Der letzte Liebende“ Haarrisse und Bruchstellen eines Lebenslaufs nach.
Sie lässt sich damit auf das Seelenleben eines Typus ein, des rücksichtslosen, zur Einsicht unfähigen Egoisten, unter dem psychologischen Ratgebern zufolge heute viele Menschen leiden. Zumal, wenn sie so einen als Elternteil haben. Carl stellt sich vor, wie seine Tochter Lisa „auf einem Klappstuhl neben Helens Liege sitzt, wie sie plaudern, immer derselben Auffassung, wenn es um ihn ging. Nach Meinung seiner Tochter war er ein hoffnungsloser Fall. Er war der Grund für das jahrzehntelange Unglück ihrer Mutter, das sich wie Gift in die feinsten Verästelungen der Familie ausgebreitet hatte. Er war vielleicht sogar der Grund für das hier: ihre Krankheit. Auf jeden Fall jedoch für das Scheitern von Lisas eigener Ehe.“
Tatsächlich gab es da eine längere Liebschaft Carls mit einer Frau namens Renée, die Helen den endgültigen Schlag versetzt hat. Carl geht darüber hinweg, mit der Leichtigkeit eines Siegertyps, der nicht zurückblickt auf das, was er vielleicht angerichtet haben könnte. Der sich nie einer Schuld bewusst ist, der höchstens die Lage analysiert. Er hält seine Weste stets für weiß. Das Elend der Krankheit seiner Frau, das er mitansieht, erreicht ihn nicht.
Je deutlicher sich herausstellt, dass Annette Mingels’ Leserschaft diesen Carl nicht wird mögen können, desto genauer lässt sie uns seine Empfindungen verstehen. Sie konfrontiert uns mit menschlicher Ambivalenz, stellt dar, wie nett einer wirken kann, trotz seiner charakterlichen Haltlosigkeit. Mingels formuliert das nicht abstrakt, sondern zeigt, wie wenig Anteil Carl am Leben seiner Frau und Tochter genommen hat.
Erst spät im Roman kommt heraus, dass das Paar Lisa adoptiert hat. Manches zeigt sich in unscheinbaren Gesten: Er bringt seiner Frau einen Kaffee mit einem Keks, wie immer, isst den Keks auf dem Weg selber, und bescheidet ihr: „Du isst ihn doch nie. Aber ich kann dir gerne einen holen.“
Der Zeitraum des Romans umfasst ein Jahr. Nachdem Helen gestorben ist, reist Carl mit Lisa und deren Sohn Collin zu den Orten in Ostdeutschland und Polen, von wo er mit seinen älteren Brüdern und der Mutter nach dem Krieg vertrieben wurde, während sein Vater sich nach der Kriegsgefangenschaft in eine neue Beziehung nach Minsk abgesetzt hatte. Womöglich liegt hier ein Trauma Carls begraben und wir sehen ihn diesmal als Opfer.
Noch vor dem Mauerbau flüchtete der junge Carl aus Ostdeutschland nach West-Berlin und konnte dort ein freies Leben beginnen, ein Studium seiner Wahl, eine blendende akademische Karriere in den USA. Seine Brüder werden inzwischen von der Staatssicherheit in die Mangel genommen und beruflich benachteiligt. Hermann, ein etwas verschrobener Einzelgänger mit autistischen Zügen, führt ein unscheinbares Leben. Zum Tod von Carls Frau schreibt er ihm eine Trauerpostkarte für einen Hund – das Komische daran erschließt sich Carl nicht.
Den anderen Bruder, Konrad, findet Carl im Rollstuhl wieder. Er ist ein in Krankheit und Verbitterung hart gewordener SED-Anhänger. Carl überlegt zwar, ob ihm seine Brüder etwas übel genommen haben könnten. Dass er sich selbst etwas vorzuwerfen haben könnte, hat aber keinen Platz in seinem Weltbild. Auch da gelingt es Annette Mingels aber, ihren Helden trotz seiner Selbstbezogenheit Sympathien gewinnen zu lassen. Man gerät lesend in ein Dilemma zwischen dem Interesse für diese Figur und der Ablehnung seines Charakters.
Während Carls Schattenseiten immer deutlicher werden, steht sein Enkel Collin in Mingels’ Roman für eine optimistische Sicht in die Zukunft. Anders als seine Mutter ist er seelisch gefestigt und bringt als jugendlicher Gegenpart das Gespräch der Familie voran. Damit verschafft er dem Roman einen Ausweg aus einer Konstellation, die ausschließlich bedrückend hätte sein können.
RUDOLF VON BITTER
Annette Mingels: Der letzte Liebende. Roman. Penguin, München 2023. 330 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Annette Mingels widmet dem Antitypen unserer Zeit, dem eitlen,
egomanen Familienvater, einen ganzen Roman. Ist er noch zu ertragen?
Wer hat sich nicht schon mal gewundert, dass andere Leute jemanden leiden können, den man selbst verabscheut? Annette Mingels’ Helden zum Beispiel muss man nicht mögen. Carl Kruger, eigentlich Krüger, emeritierter Professor für Chemie in Princeton, denkt, während er in seinem ereignislosen Alltag nach seiner sterbenskranken Frau Helen sieht, zurück an Zeiten, als ihn Studentinnen umschwärmten und er sie verführen konnte, ohne dass es ihm geschadet hätte. Wie in früheren Büchern zeichnet die Schriftstellerin Annette Mingels auch in „Der letzte Liebende“ Haarrisse und Bruchstellen eines Lebenslaufs nach.
Sie lässt sich damit auf das Seelenleben eines Typus ein, des rücksichtslosen, zur Einsicht unfähigen Egoisten, unter dem psychologischen Ratgebern zufolge heute viele Menschen leiden. Zumal, wenn sie so einen als Elternteil haben. Carl stellt sich vor, wie seine Tochter Lisa „auf einem Klappstuhl neben Helens Liege sitzt, wie sie plaudern, immer derselben Auffassung, wenn es um ihn ging. Nach Meinung seiner Tochter war er ein hoffnungsloser Fall. Er war der Grund für das jahrzehntelange Unglück ihrer Mutter, das sich wie Gift in die feinsten Verästelungen der Familie ausgebreitet hatte. Er war vielleicht sogar der Grund für das hier: ihre Krankheit. Auf jeden Fall jedoch für das Scheitern von Lisas eigener Ehe.“
Tatsächlich gab es da eine längere Liebschaft Carls mit einer Frau namens Renée, die Helen den endgültigen Schlag versetzt hat. Carl geht darüber hinweg, mit der Leichtigkeit eines Siegertyps, der nicht zurückblickt auf das, was er vielleicht angerichtet haben könnte. Der sich nie einer Schuld bewusst ist, der höchstens die Lage analysiert. Er hält seine Weste stets für weiß. Das Elend der Krankheit seiner Frau, das er mitansieht, erreicht ihn nicht.
Je deutlicher sich herausstellt, dass Annette Mingels’ Leserschaft diesen Carl nicht wird mögen können, desto genauer lässt sie uns seine Empfindungen verstehen. Sie konfrontiert uns mit menschlicher Ambivalenz, stellt dar, wie nett einer wirken kann, trotz seiner charakterlichen Haltlosigkeit. Mingels formuliert das nicht abstrakt, sondern zeigt, wie wenig Anteil Carl am Leben seiner Frau und Tochter genommen hat.
Erst spät im Roman kommt heraus, dass das Paar Lisa adoptiert hat. Manches zeigt sich in unscheinbaren Gesten: Er bringt seiner Frau einen Kaffee mit einem Keks, wie immer, isst den Keks auf dem Weg selber, und bescheidet ihr: „Du isst ihn doch nie. Aber ich kann dir gerne einen holen.“
Der Zeitraum des Romans umfasst ein Jahr. Nachdem Helen gestorben ist, reist Carl mit Lisa und deren Sohn Collin zu den Orten in Ostdeutschland und Polen, von wo er mit seinen älteren Brüdern und der Mutter nach dem Krieg vertrieben wurde, während sein Vater sich nach der Kriegsgefangenschaft in eine neue Beziehung nach Minsk abgesetzt hatte. Womöglich liegt hier ein Trauma Carls begraben und wir sehen ihn diesmal als Opfer.
Noch vor dem Mauerbau flüchtete der junge Carl aus Ostdeutschland nach West-Berlin und konnte dort ein freies Leben beginnen, ein Studium seiner Wahl, eine blendende akademische Karriere in den USA. Seine Brüder werden inzwischen von der Staatssicherheit in die Mangel genommen und beruflich benachteiligt. Hermann, ein etwas verschrobener Einzelgänger mit autistischen Zügen, führt ein unscheinbares Leben. Zum Tod von Carls Frau schreibt er ihm eine Trauerpostkarte für einen Hund – das Komische daran erschließt sich Carl nicht.
Den anderen Bruder, Konrad, findet Carl im Rollstuhl wieder. Er ist ein in Krankheit und Verbitterung hart gewordener SED-Anhänger. Carl überlegt zwar, ob ihm seine Brüder etwas übel genommen haben könnten. Dass er sich selbst etwas vorzuwerfen haben könnte, hat aber keinen Platz in seinem Weltbild. Auch da gelingt es Annette Mingels aber, ihren Helden trotz seiner Selbstbezogenheit Sympathien gewinnen zu lassen. Man gerät lesend in ein Dilemma zwischen dem Interesse für diese Figur und der Ablehnung seines Charakters.
Während Carls Schattenseiten immer deutlicher werden, steht sein Enkel Collin in Mingels’ Roman für eine optimistische Sicht in die Zukunft. Anders als seine Mutter ist er seelisch gefestigt und bringt als jugendlicher Gegenpart das Gespräch der Familie voran. Damit verschafft er dem Roman einen Ausweg aus einer Konstellation, die ausschließlich bedrückend hätte sein können.
RUDOLF VON BITTER
Annette Mingels: Der letzte Liebende. Roman. Penguin, München 2023. 330 Seiten, 24 Euro.
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