1941 in Aspen, Colorado. Die 18-jährige Rachel tritt bei den Skimeisterschaften an. Eine Medaille gibt es nicht, dafür ist sie schwanger, als sie in ihre Heimat New Hampshire zurückkehrt. Ihr Sohn Adam wächst in einer unkonventionellen Familie auf, die allen Fragen über die bewegte Vergangenheit ausweicht. Jahre später macht er sich deshalb auf die Suche nach Antworten in Aspen. Im Hotel Jerome, in dem er gezeugt wurde, trifft Adam auf einige Geister. Doch werden sie weder die ersten noch die letzten sein, die er sieht.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
John Irving zieht mit seinem wohl letzten Roman Bilanz aus seinem bisherigen Schaffen, stellt Rezensentin Irene Binal fest. Dabei ist alles, was Irving-Fans glücklich macht: skurrile Figuren, derbe Komik und der typische "Irving-Charme", lesen wir. Vorrangig geht es um Adam, der nach seinem Vater sucht, um ihn herum ein Reigen an witzigen und bizarren Persönlichkeiten: vom dementen Großvater, der gerne in die Waden anderer Leute beißt, über die sexpositive Cousine Nora hin zu einigen Gespenstern, die Adam ab und zu heimsuchen, schmunzelt die Kritikerin. Leider wirkt die Geschichte etwas ziellos, bedauert Binal, das Chaos, das Irving sonst so gut in Form zu bringen wusste, scheint er hier nicht unter Kontrolle zu bekommen. Auch wenn die Kritikerin nicht ganz zufrieden ist, empfiehlt sie den Roman - vor allem für Irving-Anhänger.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2023Nicht jedes Gespenst ist auch schon tot
Sieben Jahre hat John Irving an seinem neuen Roman geschrieben; es ist der umfangreichste im Werk des Weltmeisters hoch literarischer Schmöker geworden. Am kommenden Mittwoch erscheint "Der letzte Sessellift", und was wir mit ihm erhalten, ist mehr als nur eine Summe dessen, was diesen Schriftsteller so beliebt gemacht hat. Irving setzt sich als Altmeister noch einmal auf die Spur aktueller Themen.
Von Andreas Platthaus
John Irving ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Welt, nicht nur dank seiner Erfolgsromane, sondern auch wegen seiner Drehbücher (2000 gewann er sogar einen Oscar). Geboren in New Hampshire, aber seit seinen späten Jahren auch kanadischer Staatsbürger, lebt er aktuell in Vermont und Toronto. Er ist einundachtzig Jahre alt.
Adam Brewster ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt, nicht nur dank seiner Erfolgsromane, sondern auch wegen seiner Drehbücher (2000 gewann er sogar einen Oscar). Geboren in New Hampshire, aber seit seinen späten Jahren auch kanadischer Staatsbürger, lebt er aktuell in Vermont und Toronto. Er ist einundachtzig Jahre alt und der Icherzähler in John Irvings neuestem Roman "Der letzte Sessellift". Sehen Sie die Gemeinsamkeiten?
Dann sind Sie John Irving auf den Leim gegangen. Dabei könnte man sogar noch viel mehr erwähnen, was seine Figur Adam mit ihm selbst verbindet, beider akademische Werdegänge samt den konkreten universitären Stationen etwa oder die Aktivitäten der jungen Männer als Leistungssportler im Ringen. Und Adam sagt ziemlich genau in der Mitte des fast elfhundert Seiten starken Romans etwas, das John Irving auch immer für sich in Anspruch genommen hat: "Ich erfinde nicht alles. Aber wenn ich Dinge verwende, die tatsächlich passiert sind, verändere ich immer etwas. Ich versuche, die Geschichte ein bisschen weniger wahr zu machen." Chapeau, das ist ihm wieder einmal gelungen.
Wem ist es gelungen? John Irving, denn was Adam Brewster schreibt, das können wir nicht lesen. "Der letzte Sessellift" ist ja nicht sein Roman. Obwohl es in bester Proust-Manier etliche Andeutungen gibt, dass die Handlung den Weg zur Abfassung just jenes Buchs erzählt, das wir gerade lesen. Immerhin gibt es darin eine Probe von Adams schriftstellerischem Können, verteilt auf zwei Kapitel (die umfangreichsten beiden der insgesamt dreiundfünfzig des Romans, 68 und 73 Seiten lang): das Drehbuch zu einem ungedrehten Film, geschrieben natürlich in der Manier, die eine solche Filmvorlage erfordert, also bei jeder Szene mit sachlicher Beschreibung des Settings und des Handelns der Akteure, ansonsten nur Dialoge. Die zudem vor allem aus der Stimme von Adam bestehen, der auch im Drehbuch die Hauptfigur ist. Als "Voiceover" setzt er das, was man auf der Leinwand sehen würde, in Relation zu seinem Leben. Das wir wiederum als Romanleser gut kennen, während ein Kinopublikum wohl seine Schwierigkeiten hätte, weshalb es nicht überraschend ist, dass dieses Drehbuch unverfilmt bleibt. Und dadurch wiederum kommt die Handlung in Gang: "Ein ungedrehter Film lässt einen niemals los; einen ungedrehten Film vergisst man nicht."
So heißt es gleich im ersten Kapitel, dem mit zwei Seiten kürzesten. Adam führt darin aus: "Mein Leben ist ein Film, weil ich Drehbuchautor bin." Bis wir indes zum ersten der beiden Drehbuchkapitel kommen, vergehen 750 Seiten, in denen erst einmal eingelöst wird, was das erste Kapitel außerdem verheißt: Wir lernen das Hotel Jerome in Aspen, Colorado, kennen (ein tatsächlich existierendes Haus, wie auch Adam im Roman betont; "hier spürt man richtig Kultur und Geschichte", kann man beim Reiseportal Tripadvisor im Netz lesen), etliche Ski-Enthusiasten und eine stattliche Zahl von Gespenstern, denn Adam kann die Toten sehen. Oder genauer und mit ihm selbst gesprochen (immer noch aus dem ersten Kapitel): "Natürlich ist nicht jedes Gespenst tot. In bestimmten Fällen kann man ein Gespenst und noch halb lebendig sein - es ist nur ein wesentlicher Teil von einem gestorben. Ich frage mich, ob viele dieser halb lebendigen Gespenster wissen, was in ihnen gestorben ist und ob es - seien sie nun tot oder lebendig - Regeln für Gespenster gibt." An der Frage der Regelfindung für Gespenster arbeitet der Roman. Und auch das Drehbuch im Roman, das als wichtigsten Handlungsort das Hotel Jerome hat, in dem es von Skifahrern und Gespenstern der Vergangenheit wimmelt.
Dort ist Adam gezeugt worden, in einem One-Night-Stand von der damals erst neunzehnjährigen Rachel Brewster und einem noch einmal fünf Jahre jüngeren Halbwüchsigen, dessen Identität sich im Buch erst langsam klärt. Rachels Rufname lautet "Little Ray", denn mit 1,57 Meter ist sie nicht gerade groß gewachsen. Aber das ist nichts gegen den Mann, den sie später heiraten wird: Elliot Barlow, Körpergröße nur 1,45 Meter. Die relative Kleinwüchsigkeit von Adams Mutter und Stiefvater ist ein Motiv, das sie im Roman zu jenen Sonderlingen macht, die Irving immer schon geliebt hat; das berühmteste Beispiel dafür ist natürlich der Titelheld aus seinem 1978 erschienenen Roman "Garp und wie er die Welt sah". Auch Garp war ein vaterlos aufgewachsener Junge wie Adam - und wie Irving selbst, dessen Mutter sich vor seiner Geburt hatte scheiden lassen und dann einen anderen Mann heiratete. Aber nun genug der Gemeinsamkeiten, denn alles ist ja ein bisschen weniger wahr gemacht im "Letzten Sessellift": Adam kommt zum Beispiel im Dezember 1941 zur Welt, bei Irving war das erst im März 1942 (dafür macht er sich jedoch den Spaß, Adams 1991 geborenem Sohn seinen Geburtstag, den 2. März, zuzuschreiben).
Im Abstand von sieben Jahren zum vorherigen Roman, "Straße der Wunder", ist John Irvings neues Buch erschienen; für seine Verhältnisse ist das lange her. Man möchte zwar meinen, das wäre schon angesichts des selbst für Irving ungewöhnlichen Umfangs des Nachfolgers kein Wunder, aber "Der letzte Sessellift" ist zudem so etwas wie die Summe des Schreibens seines Autors - mit allen dessen Idiosynkrasien und Phantasmen. Die Gespenster sind da nur das Auffälligste, wobei sich ihre Präsenz auf den ersten sechs-, siebenhundert Seiten meist auf Adams Großvater Lewis Brewster beschränkt, der im Jahr 1955 ausgerechnet auf dem Hochzeitsfest seiner Tochter Little Ray vom Blitz erschlagen wird und fortan durch sein Erscheinen dem Enkel dessen erste Liebesnächte erschwert. Wobei die spezifischen Besonderheiten der Frauen in Adams Betten ihn vor kaum mindere Probleme stellen. Von Regelblutbädern über ungewollte andere Entleerungen bis hin zu durch Ungeschick provozierte Penisstrapazen lässt Irving keine sexuelle Unbill aus, versteht es allerdings, dabei das Burleske so zu wahren, dass die Komik jedwede Peinlichkeit deutlich überwiegt.
Wenn hier von einer Summa des irvingschen Schreibens die Rede ist, bedeutet das aber nicht, dass wir es mit einem bewussten Schlussstrich seitens des Autors zu tun hätten. Vielmehr fängt Irving in "Der letzte Sessellift" mit einigen Themen erst richtig an. So etwa dem der sexuellen Uneindeutigkeit. Man könnte es als modisch ansehen, dass hier Trans-, Nonbinär- und Queer-Identitäten eine Rolle spielen wie bislang nie im Riesenwerk des Schriftstellers (Adam ist die einzige heterosexuelle Hauptfigur im neuen Buch, ansonsten ist er umgeben von Lesbierinnen, nachdem selbst sein Stiefvater sich zur Geschlechtsumwandlung entschieden hat), aber mit welch ersichtlicher Faszination und, trotz aller üblichen Kraftmeierei bei Bildern und Motiven, auch Sensibilität Irving hier zur Sache geht, das nötigt mehr als Achtung ab. Sein Roman ist ein Plädoyer für Toleranz und Liebe in allen Formen, und dass in einem Seitenstrang auch die katholische Kirche für ihren bigotten Umgang mit Missbrauchsopfern ihr Fett abbekommt, weist Irving mit einem Mal ganz deutlich als Gesellschaftsanalytiker aus, der sich bislang hinter den skurrilen Konstellationen seiner Romane gut zu verstecken wusste. Hier tritt er nun zutage und vermittelt seinen kritischen Blick auf die Welt durch die ungewöhnlichste Figur des Romans, die Pantomimin Emily McPherson, genannt Em, die über Jahrzehnte hinweg jedes Wort verweigert und stattdessen auch abseits der Bühne alles nur durch Körpersprache ausdrückt. Wie Irving sie von einem zunächst grotesken Hochzeitsgast zur Schriftstellerin, Aktivistin und vor allem liebesfähigsten, -verzweifeltsten und -wertesten Person der Handlung werden lässt, das ist ganz große Romankunst und lässt einmal mehr erkennen, dass Irving sich vor allem an Dickens geschult hat.
Nun bemisst sich ja die Qualität eines Romans nicht nur inhaltlich. "Der letzte Sessellift" braucht Zeit, um auch formal Betriebstemperatur zu erreichen. Das hat damit zu tun, dass erst in der zweiten Hälfte des Buchs tragisch gestorben wird, während der erste von drei Akten, in die sich das Buch gliedert, ganz der Vorbereitung jener schon mehrfach erwähnten Hochzeit des Jahres 1955 dient, und im zweiten Akt zu sehr auf Adams Werdegang als junger Erwachsener abgestellt wird. Mit dem dritten kommen aber dann die Gespenster zu ihrem Recht, auch jene, die gar nicht tot sind. Wenn Irving das Psychogramm eines Mörders zeichnet, der in der mitreißendsten Szene des Romans auf Em schießt, ist das hoch virtuos konstruiert und tief bewegend - wie der Schmerz, den die Tat bei der Überlebenden und Adam auslöst. Er wird diese beiden Figuren zusammenführen zum finalen Liebespaar dieses Buchs, das mindestens vier unvergessliche Paare hat: Elliot und Little Ray, Little Ray und Molly, Nora und Em sowie eben Em und Adam.
Selbst wenn alle diese Namen schon bekannt wären, klänge das konfus. Und das lässt sich noch steigern: "Du hast gerade eine Frau kennengelernt, die du wirklich magst, sollst ihr aber erklären, dass der erste Mann, an den sie ihre Jungfräulichkeit verlieren wollte, dein Vater ist. Dabei ist sie nur ein paar Jahre älter, als es dein Vater war, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hat. Und um diese Altersverhältnisse zu erklären, sollst du ihr sagen, dass dein Vater erst vierzehn war, als er seine Jungfräulichkeit an deine Mutter verlor. Das wäre vielleicht nicht der beste Anfang. Doch während ich noch überlegte, wo ich anfangen sollte, war Grace schon woanders." So geht Chaos: emotional und erzählerisch. Aber Irving lässt keinen seiner Fäden unverknüpft.
Bisweilen tut er dabei des Guten zu viel. Die Zeitsprünge in Adams Bericht, der ja retrospektiv als über Achtzigjähriger berichtet, erzeugen zwar Spannung auf Schließung der Lücken in seiner Erzählung, wirken aber genau dadurch auch kunstgewerblich. Und es gibt Redundanzen, gerade bei originellen Aspekten. Irving weiß es selbst: "Wie oft muss ich das noch sagen? Wenn man es nicht bearbeitet, ist das echte Leben ein einziges Chaos." Als Adam diesen Stoßseufzer zum in der Tat wiederholten Mal auf uns loslässt, sind 1024 Seiten absolviert, und man wünschte, er hätte auch dieser Weisheit eine Bearbeitung angedeihen lassen, nämlich sie sparsamer verwendet.
Aber "Der letzte Sessellift" lebt mehr vom Gehalt als von der Form. Und da ist er so extravagant opulent wie nichts sonst in der Gegenwartsliteratur. Mal abgesehen von anderen Irvings.
John Irving: "Der letzte Sessellift".
Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Diogenes Verlag, Zürich 2023. 1085 S., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sieben Jahre hat John Irving an seinem neuen Roman geschrieben; es ist der umfangreichste im Werk des Weltmeisters hoch literarischer Schmöker geworden. Am kommenden Mittwoch erscheint "Der letzte Sessellift", und was wir mit ihm erhalten, ist mehr als nur eine Summe dessen, was diesen Schriftsteller so beliebt gemacht hat. Irving setzt sich als Altmeister noch einmal auf die Spur aktueller Themen.
Von Andreas Platthaus
John Irving ist einer der bekanntesten Schriftsteller der Welt, nicht nur dank seiner Erfolgsromane, sondern auch wegen seiner Drehbücher (2000 gewann er sogar einen Oscar). Geboren in New Hampshire, aber seit seinen späten Jahren auch kanadischer Staatsbürger, lebt er aktuell in Vermont und Toronto. Er ist einundachtzig Jahre alt.
Adam Brewster ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Welt, nicht nur dank seiner Erfolgsromane, sondern auch wegen seiner Drehbücher (2000 gewann er sogar einen Oscar). Geboren in New Hampshire, aber seit seinen späten Jahren auch kanadischer Staatsbürger, lebt er aktuell in Vermont und Toronto. Er ist einundachtzig Jahre alt und der Icherzähler in John Irvings neuestem Roman "Der letzte Sessellift". Sehen Sie die Gemeinsamkeiten?
Dann sind Sie John Irving auf den Leim gegangen. Dabei könnte man sogar noch viel mehr erwähnen, was seine Figur Adam mit ihm selbst verbindet, beider akademische Werdegänge samt den konkreten universitären Stationen etwa oder die Aktivitäten der jungen Männer als Leistungssportler im Ringen. Und Adam sagt ziemlich genau in der Mitte des fast elfhundert Seiten starken Romans etwas, das John Irving auch immer für sich in Anspruch genommen hat: "Ich erfinde nicht alles. Aber wenn ich Dinge verwende, die tatsächlich passiert sind, verändere ich immer etwas. Ich versuche, die Geschichte ein bisschen weniger wahr zu machen." Chapeau, das ist ihm wieder einmal gelungen.
Wem ist es gelungen? John Irving, denn was Adam Brewster schreibt, das können wir nicht lesen. "Der letzte Sessellift" ist ja nicht sein Roman. Obwohl es in bester Proust-Manier etliche Andeutungen gibt, dass die Handlung den Weg zur Abfassung just jenes Buchs erzählt, das wir gerade lesen. Immerhin gibt es darin eine Probe von Adams schriftstellerischem Können, verteilt auf zwei Kapitel (die umfangreichsten beiden der insgesamt dreiundfünfzig des Romans, 68 und 73 Seiten lang): das Drehbuch zu einem ungedrehten Film, geschrieben natürlich in der Manier, die eine solche Filmvorlage erfordert, also bei jeder Szene mit sachlicher Beschreibung des Settings und des Handelns der Akteure, ansonsten nur Dialoge. Die zudem vor allem aus der Stimme von Adam bestehen, der auch im Drehbuch die Hauptfigur ist. Als "Voiceover" setzt er das, was man auf der Leinwand sehen würde, in Relation zu seinem Leben. Das wir wiederum als Romanleser gut kennen, während ein Kinopublikum wohl seine Schwierigkeiten hätte, weshalb es nicht überraschend ist, dass dieses Drehbuch unverfilmt bleibt. Und dadurch wiederum kommt die Handlung in Gang: "Ein ungedrehter Film lässt einen niemals los; einen ungedrehten Film vergisst man nicht."
So heißt es gleich im ersten Kapitel, dem mit zwei Seiten kürzesten. Adam führt darin aus: "Mein Leben ist ein Film, weil ich Drehbuchautor bin." Bis wir indes zum ersten der beiden Drehbuchkapitel kommen, vergehen 750 Seiten, in denen erst einmal eingelöst wird, was das erste Kapitel außerdem verheißt: Wir lernen das Hotel Jerome in Aspen, Colorado, kennen (ein tatsächlich existierendes Haus, wie auch Adam im Roman betont; "hier spürt man richtig Kultur und Geschichte", kann man beim Reiseportal Tripadvisor im Netz lesen), etliche Ski-Enthusiasten und eine stattliche Zahl von Gespenstern, denn Adam kann die Toten sehen. Oder genauer und mit ihm selbst gesprochen (immer noch aus dem ersten Kapitel): "Natürlich ist nicht jedes Gespenst tot. In bestimmten Fällen kann man ein Gespenst und noch halb lebendig sein - es ist nur ein wesentlicher Teil von einem gestorben. Ich frage mich, ob viele dieser halb lebendigen Gespenster wissen, was in ihnen gestorben ist und ob es - seien sie nun tot oder lebendig - Regeln für Gespenster gibt." An der Frage der Regelfindung für Gespenster arbeitet der Roman. Und auch das Drehbuch im Roman, das als wichtigsten Handlungsort das Hotel Jerome hat, in dem es von Skifahrern und Gespenstern der Vergangenheit wimmelt.
Dort ist Adam gezeugt worden, in einem One-Night-Stand von der damals erst neunzehnjährigen Rachel Brewster und einem noch einmal fünf Jahre jüngeren Halbwüchsigen, dessen Identität sich im Buch erst langsam klärt. Rachels Rufname lautet "Little Ray", denn mit 1,57 Meter ist sie nicht gerade groß gewachsen. Aber das ist nichts gegen den Mann, den sie später heiraten wird: Elliot Barlow, Körpergröße nur 1,45 Meter. Die relative Kleinwüchsigkeit von Adams Mutter und Stiefvater ist ein Motiv, das sie im Roman zu jenen Sonderlingen macht, die Irving immer schon geliebt hat; das berühmteste Beispiel dafür ist natürlich der Titelheld aus seinem 1978 erschienenen Roman "Garp und wie er die Welt sah". Auch Garp war ein vaterlos aufgewachsener Junge wie Adam - und wie Irving selbst, dessen Mutter sich vor seiner Geburt hatte scheiden lassen und dann einen anderen Mann heiratete. Aber nun genug der Gemeinsamkeiten, denn alles ist ja ein bisschen weniger wahr gemacht im "Letzten Sessellift": Adam kommt zum Beispiel im Dezember 1941 zur Welt, bei Irving war das erst im März 1942 (dafür macht er sich jedoch den Spaß, Adams 1991 geborenem Sohn seinen Geburtstag, den 2. März, zuzuschreiben).
Im Abstand von sieben Jahren zum vorherigen Roman, "Straße der Wunder", ist John Irvings neues Buch erschienen; für seine Verhältnisse ist das lange her. Man möchte zwar meinen, das wäre schon angesichts des selbst für Irving ungewöhnlichen Umfangs des Nachfolgers kein Wunder, aber "Der letzte Sessellift" ist zudem so etwas wie die Summe des Schreibens seines Autors - mit allen dessen Idiosynkrasien und Phantasmen. Die Gespenster sind da nur das Auffälligste, wobei sich ihre Präsenz auf den ersten sechs-, siebenhundert Seiten meist auf Adams Großvater Lewis Brewster beschränkt, der im Jahr 1955 ausgerechnet auf dem Hochzeitsfest seiner Tochter Little Ray vom Blitz erschlagen wird und fortan durch sein Erscheinen dem Enkel dessen erste Liebesnächte erschwert. Wobei die spezifischen Besonderheiten der Frauen in Adams Betten ihn vor kaum mindere Probleme stellen. Von Regelblutbädern über ungewollte andere Entleerungen bis hin zu durch Ungeschick provozierte Penisstrapazen lässt Irving keine sexuelle Unbill aus, versteht es allerdings, dabei das Burleske so zu wahren, dass die Komik jedwede Peinlichkeit deutlich überwiegt.
Wenn hier von einer Summa des irvingschen Schreibens die Rede ist, bedeutet das aber nicht, dass wir es mit einem bewussten Schlussstrich seitens des Autors zu tun hätten. Vielmehr fängt Irving in "Der letzte Sessellift" mit einigen Themen erst richtig an. So etwa dem der sexuellen Uneindeutigkeit. Man könnte es als modisch ansehen, dass hier Trans-, Nonbinär- und Queer-Identitäten eine Rolle spielen wie bislang nie im Riesenwerk des Schriftstellers (Adam ist die einzige heterosexuelle Hauptfigur im neuen Buch, ansonsten ist er umgeben von Lesbierinnen, nachdem selbst sein Stiefvater sich zur Geschlechtsumwandlung entschieden hat), aber mit welch ersichtlicher Faszination und, trotz aller üblichen Kraftmeierei bei Bildern und Motiven, auch Sensibilität Irving hier zur Sache geht, das nötigt mehr als Achtung ab. Sein Roman ist ein Plädoyer für Toleranz und Liebe in allen Formen, und dass in einem Seitenstrang auch die katholische Kirche für ihren bigotten Umgang mit Missbrauchsopfern ihr Fett abbekommt, weist Irving mit einem Mal ganz deutlich als Gesellschaftsanalytiker aus, der sich bislang hinter den skurrilen Konstellationen seiner Romane gut zu verstecken wusste. Hier tritt er nun zutage und vermittelt seinen kritischen Blick auf die Welt durch die ungewöhnlichste Figur des Romans, die Pantomimin Emily McPherson, genannt Em, die über Jahrzehnte hinweg jedes Wort verweigert und stattdessen auch abseits der Bühne alles nur durch Körpersprache ausdrückt. Wie Irving sie von einem zunächst grotesken Hochzeitsgast zur Schriftstellerin, Aktivistin und vor allem liebesfähigsten, -verzweifeltsten und -wertesten Person der Handlung werden lässt, das ist ganz große Romankunst und lässt einmal mehr erkennen, dass Irving sich vor allem an Dickens geschult hat.
Nun bemisst sich ja die Qualität eines Romans nicht nur inhaltlich. "Der letzte Sessellift" braucht Zeit, um auch formal Betriebstemperatur zu erreichen. Das hat damit zu tun, dass erst in der zweiten Hälfte des Buchs tragisch gestorben wird, während der erste von drei Akten, in die sich das Buch gliedert, ganz der Vorbereitung jener schon mehrfach erwähnten Hochzeit des Jahres 1955 dient, und im zweiten Akt zu sehr auf Adams Werdegang als junger Erwachsener abgestellt wird. Mit dem dritten kommen aber dann die Gespenster zu ihrem Recht, auch jene, die gar nicht tot sind. Wenn Irving das Psychogramm eines Mörders zeichnet, der in der mitreißendsten Szene des Romans auf Em schießt, ist das hoch virtuos konstruiert und tief bewegend - wie der Schmerz, den die Tat bei der Überlebenden und Adam auslöst. Er wird diese beiden Figuren zusammenführen zum finalen Liebespaar dieses Buchs, das mindestens vier unvergessliche Paare hat: Elliot und Little Ray, Little Ray und Molly, Nora und Em sowie eben Em und Adam.
Selbst wenn alle diese Namen schon bekannt wären, klänge das konfus. Und das lässt sich noch steigern: "Du hast gerade eine Frau kennengelernt, die du wirklich magst, sollst ihr aber erklären, dass der erste Mann, an den sie ihre Jungfräulichkeit verlieren wollte, dein Vater ist. Dabei ist sie nur ein paar Jahre älter, als es dein Vater war, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hat. Und um diese Altersverhältnisse zu erklären, sollst du ihr sagen, dass dein Vater erst vierzehn war, als er seine Jungfräulichkeit an deine Mutter verlor. Das wäre vielleicht nicht der beste Anfang. Doch während ich noch überlegte, wo ich anfangen sollte, war Grace schon woanders." So geht Chaos: emotional und erzählerisch. Aber Irving lässt keinen seiner Fäden unverknüpft.
Bisweilen tut er dabei des Guten zu viel. Die Zeitsprünge in Adams Bericht, der ja retrospektiv als über Achtzigjähriger berichtet, erzeugen zwar Spannung auf Schließung der Lücken in seiner Erzählung, wirken aber genau dadurch auch kunstgewerblich. Und es gibt Redundanzen, gerade bei originellen Aspekten. Irving weiß es selbst: "Wie oft muss ich das noch sagen? Wenn man es nicht bearbeitet, ist das echte Leben ein einziges Chaos." Als Adam diesen Stoßseufzer zum in der Tat wiederholten Mal auf uns loslässt, sind 1024 Seiten absolviert, und man wünschte, er hätte auch dieser Weisheit eine Bearbeitung angedeihen lassen, nämlich sie sparsamer verwendet.
Aber "Der letzte Sessellift" lebt mehr vom Gehalt als von der Form. Und da ist er so extravagant opulent wie nichts sonst in der Gegenwartsliteratur. Mal abgesehen von anderen Irvings.
John Irving: "Der letzte Sessellift".
Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Diogenes Verlag, Zürich 2023. 1085 S., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.04.2023Es gibt viele Arten der Liebe
John Irving kehrt in seinem Roman „Der letzte Sessellift“ zurück zu den
Wurzeln seines Schaffens. Ein Buch wie ein Vermächtnis
Es ist eine der stärksten Szenen in John Irvings neuem Roman „Der letzte Sessellift“, dem ersten, den der inzwischen 81 Jahre alte Autor seit sieben Jahren publiziert hat. Und eine, die als typisch gelten darf für das, was Irving mit seinem Schreiben im Schilde führt. Sie spielt im Jahr 1968. Matthew Zimmermann, genannt Zim, Ringer an der Highschool und einer Familie mit ruhmreicher militärischer Tradition entstammend, ist in Vietnam gefallen. Die Familie lädt ein zu einer Gedenkfeier. Dort treffen, der Lage der Zeit gemäß, Befürworter und Gegner des Kriegs aufeinander, und kaum verhindert die Pietät des Anlasses eine Schlägerei. Aber wo steckt der Vater des toten Soldaten, Colonel Zimmermann? Adam, Ich-Erzähler des Romans, folgt der Haushälterin Elmira, die einen großen Suppentopf trägt, auf die Straße. Ein Picknick? „Na ja, nicht ganz. Sie werden schon sehen.“
Was Adam dann sieht, zwischen Mülleimern und Gerümpel, das ist der alte Colonel. Er trägt schwarzen Anzug, als trauernder Zivilist. Aber hat er all seine Orden angelegt, so viele, dass sie ihn fast zu Boden ziehen; sie beglaubigen ihn als Mann unzweifelhaften Muts und besonderer Verdienste. Er steht da und verteilt die Suppe an Obdachlose, Asoziale – wie soll man sie bezeichnen? Einer war Professor oder gilt hier als solcher, obwohl er seine Kleidung bestimmt seit Wochen nicht gewechselt hat. Ein minderjähriges Mädchen, das beim Lächeln den Mund nicht öffnet, damit man seine ausgeschlagenen Zähne nicht sieht, fängt an, Adam im Gesicht abzulecken, und wird getadelt – merkt sie nicht, dass sie damit eine erotische Ermutigung ausspricht? Ein junges schwarzes Paar, in Flüstertönen streitend, erweist sich als Bruder und Schwester; die minderjährige Schwester, hilflos, ist unter unklaren Umständen schwanger geworden, und der Colonel hat einige „Strippen gezogen“, damit der Bruder aus dem aktiven Dienst entlassen wurde und sich um die Schwester kümmern kann.
Der Bruder macht sich zum Sprecher der Gruppe: „Ich weiß, ich spreche im Namen aller, Colonel, Sir, wenn ich sage, wie leid es uns tat, als wir von Ihrem Matthew hörten.“ – „Danke, Talib“, sagte der Colonel. „Niemand durfte ihm den Suppentopf abnehmen.“
Die amerikanische Gesellschaft mag sich als Gesellschaft nicht erkennen und benennen, schon das bloße Wort riecht hier nach „Kommies“ und nach Liberalen. Stattdessen setzt sie ganz und gar auf das Muster der Familie, praktisch der einzigen sozialen Institution, der sie Legitimität zugesteht. (Höchstens Kirchengemeinden und Neighbourhoods kommen am Rand noch infrage.) Und darin folgt ihr John Irving, darin ist er ganz und gar Amerikaner.
Aber – und dieses Aber konstituiert sein Werk – Irvings Familie trägt ein anderes Gepräge als die Hetero-Kleingruppe aus Papa, Mama und zwei Kindern, die einander zehnmal am Tag versichern: „Love you“, was in den deutschen Übersetzungen meist als ein verlegen-affiges „Hab dich lieb“ rüberkommt. Sie wird von Irving so schräg wie irgend denkbar angelegt, um zu demonstrieren, dass ihre feste und verlässliche Form sich auch mit exzentrischen, abweichenden Inhalten füllen lässt. Eine solche Option besteht zum Beispiel darin, dass ein hochdekorierter Offizier die Versorgung einer Schar von Outcasts übernimmt. So verschieden sie sind, sie erweisen einander persönliche Achtung: Der eine hält den Suppentopf, der schwerlich zu seinen Orden passt, der andere wählt die Anrede „Sir“, in Amerika die Vokabel des Respekts schlechthin.
Es gibt viele Arten der Liebe: Das ist ein Satz, der im Buch immer wieder wie ein Mantra erscheint. In dieser Beharrlichkeit gründet die emotionale Kraft, die seine wesentliche Qualität ausmacht. Sie ist wichtiger als die teils reichlich konstruierte Handlung des mehr als tausendseitigen Romans und als die Zeichnung der Figuren; diese sind oft dermaßen auf das bloße Schräge festgelegt, dass sie schablonenhafte Züge annehmen.
Nacherzählen lässt sich das nur zum Teil. Adam, der Ich-Erzähler, wird wie sein Autor Anfang der Vierziger in dem kleinen Ort Exeter im nördlichen Neu-England geboren, als unehelicher Sohn der erst 19-jährigen Rachel, genannt Little Ray, die niemandem, auch dem Sohn nicht, den Vater verrät. Sie zieht das Kind allein auf, unterstützt allerdings von ihrer Mutter Nana und später dem nur 1,45 Meter messenden Englischlehrer Elliot, der sich noch später in eine Frau umwandeln lässt, ohne dass dies die familiären Verhältnisse verändert. Little Ray und Elliot haben geheiratet; aber liiert ist Little Ray mit der etwas älteren Molly. Dann gibt es noch Adams robuste Cousine Nora, die zusammen mit ihrer zwar nicht stummen, aber ausschließlich in Gebärden sprechenden Lebensgefährtin Em in einem linken New Yorker Kellertheater jahrzehntelang die Nummer „Zwei Lesben, eine spricht“ abzieht. Und ungefähr ein Dutzend weitere Hauptpersonen.
Fast alle haben etwas mit Wintersport zu tun, die Skilehrerin Little Ray ebenso wie die „Nachtspurerin“ Molly, die mit ihrer Raupe die Pisten herrichtet, und der „Schneeläufer“ Elliot. Der Sessellift ist für den Roman ein Gleichnis des Lebens und der letzte Sessellift eines des Todes, der mit erschreckender Häufigkeit zuschlägt.
Mit diesem Roman kehrt Irving zu den Anfängen seines Erfolgs zurück, zu „Garp und wie er die Welt sah“, womit ihm 1978 der Durchbruch gelang. Auch „Garp“ hatte schon die gleichen autobiografischen Wurzeln: Ort und Zeit, der schriftstellernde Sohn einer autarken Mutter, für die der Erzeuger keine Rolle spielt, Ringen, alternative Gender- und Familienentwürfe.
Irving braucht die autobiografische Verankerung. Wo er sein Programm frei flottierend durchzieht und sich einfach was ausdenkt, landet er unweigerlich beim Kitsch – so bei seinem letzten Roman, „Straße der Wunder“, wo er einen körperbehinderten zapotekischen Jungen aus Mexiko eine unwahrscheinliche Karriere hinlegen ließ. Das ganze Buch hatte geklungen wie eine ausufernde Paraphrase zu Katja Ebstein: Ein Indiojunge aus Peru – der will leben so wie du – er will lieben, doch die Türen bleiben zu – für den Indiojungen aus Peru. Hier war Irving der Gefahr erlegen, die ihm immer droht: der Sentimentalität.
Mit Erleichterung nimmt man es daher zur Kenntnis, dass Irvings Rückkehr zu den Quellen der eigenen Erfahrung, bei allen Slapstick-Einlagen, ihn tiefer und reifer macht. Dieses Buch wirkt wie ein Vermächtnis, als wäre dies sein eigener letzter Sessellift. Man spürt, obwohl der Autor sich dazu nicht äußert, dass es die Kraft, die es hat, aus einer großen Dankbarkeit bezieht.
Der Liebe, die sich manchmal ins Skurrile verkleidet, entspricht als Grundstimmung die Liebesangst. Die Lebensmenschen sollen sich nicht ändern, denn in aller Änderung lauert Entfremdung; und sie sollen nicht sterben. Das Erste kann der Autor erzwingen, um den Preis einer gewissen Erstarrung. Vor dem Tod retten kann er sie nicht. Aber auch hier weiß der Autor Rat: Die Toten sind nicht wirklich weg, sie wesen fort als Gespenster. Sie haben nichts Unheimliches an sich (obwohl sie Uneingeweihten manchmal einen Schrecken einjagen), sie stellen depotenzierte Formen der Menschen dar, die sie einmal waren; kaum dass man sie von den Lebenden unterscheiden kann. Je mehr liebe Menschen ihm sterben, desto mehr ist Adam von Gespenstern umringt, eine Perspektive, die ihn nicht erschreckt, sondern tröstet.
Irving, der viele Drehbücher verfasst und an der Verfilmung seiner Bücher regen Anteil genommen hat, macht sich die Ästhetik des Films zu eigen. Sind nicht auch Filme eine Art von Geistererscheinung? Menschen, die gar nicht mehr leben, James Dean oder Marilyn Monroe zum Beispiel, sind dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit immer dieselben Gespräche zu führen und sich die Zigarette auf immer dieselbe Weise anzuzünden, ohne die geringste Variation im Detail.
Im letzten Abschnitt finden sich zwei lange Passagen, zusammen fast 150 Seiten, die formal Drehbücher sind. Es ist ein Wagnis, ein Drehbuch, das ja eigentlich nur die Handreichung für eine andere Kunst darstellt, zu Literatur im eigentlichen Sinn machen zu wollen. Irving tut es, verlässt damit den Modus des Erzählens und stellt mit der Kargheit dieser Textsorte, die nur aus Dialog und Regieanweisung besteht, die Geduld des Lesers auf eine harte Probe. Aber nur so werden ihm die erschütterndsten Szenen gestaltbar: die schließlich doch noch stattfindende Begegnung mit dem biologischen Vater; der Unfalltod von dessen Frau, die eine geheimnisvolle Ähnlichkeit mit Adams Mutter besitzt. Sie wird immer wieder, solang der Streifen reproduzierbar bleibt, aus dem Sessellift stürzen, tot und lebendig in einem. Es hört nie auf: Das ist Drohung und Verheißung zugleich.
BURKHARD MÜLLER
Irving hilft die autobiografische
Verankerung, genau wie bei
„Garp und wie er die Welt sah“
John Irving: Der letzte Sessellift. Roman. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Diogenes, Zürich 2023,
1081 Seiten, 36 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
John Irving kehrt in seinem Roman „Der letzte Sessellift“ zurück zu den
Wurzeln seines Schaffens. Ein Buch wie ein Vermächtnis
Es ist eine der stärksten Szenen in John Irvings neuem Roman „Der letzte Sessellift“, dem ersten, den der inzwischen 81 Jahre alte Autor seit sieben Jahren publiziert hat. Und eine, die als typisch gelten darf für das, was Irving mit seinem Schreiben im Schilde führt. Sie spielt im Jahr 1968. Matthew Zimmermann, genannt Zim, Ringer an der Highschool und einer Familie mit ruhmreicher militärischer Tradition entstammend, ist in Vietnam gefallen. Die Familie lädt ein zu einer Gedenkfeier. Dort treffen, der Lage der Zeit gemäß, Befürworter und Gegner des Kriegs aufeinander, und kaum verhindert die Pietät des Anlasses eine Schlägerei. Aber wo steckt der Vater des toten Soldaten, Colonel Zimmermann? Adam, Ich-Erzähler des Romans, folgt der Haushälterin Elmira, die einen großen Suppentopf trägt, auf die Straße. Ein Picknick? „Na ja, nicht ganz. Sie werden schon sehen.“
Was Adam dann sieht, zwischen Mülleimern und Gerümpel, das ist der alte Colonel. Er trägt schwarzen Anzug, als trauernder Zivilist. Aber hat er all seine Orden angelegt, so viele, dass sie ihn fast zu Boden ziehen; sie beglaubigen ihn als Mann unzweifelhaften Muts und besonderer Verdienste. Er steht da und verteilt die Suppe an Obdachlose, Asoziale – wie soll man sie bezeichnen? Einer war Professor oder gilt hier als solcher, obwohl er seine Kleidung bestimmt seit Wochen nicht gewechselt hat. Ein minderjähriges Mädchen, das beim Lächeln den Mund nicht öffnet, damit man seine ausgeschlagenen Zähne nicht sieht, fängt an, Adam im Gesicht abzulecken, und wird getadelt – merkt sie nicht, dass sie damit eine erotische Ermutigung ausspricht? Ein junges schwarzes Paar, in Flüstertönen streitend, erweist sich als Bruder und Schwester; die minderjährige Schwester, hilflos, ist unter unklaren Umständen schwanger geworden, und der Colonel hat einige „Strippen gezogen“, damit der Bruder aus dem aktiven Dienst entlassen wurde und sich um die Schwester kümmern kann.
Der Bruder macht sich zum Sprecher der Gruppe: „Ich weiß, ich spreche im Namen aller, Colonel, Sir, wenn ich sage, wie leid es uns tat, als wir von Ihrem Matthew hörten.“ – „Danke, Talib“, sagte der Colonel. „Niemand durfte ihm den Suppentopf abnehmen.“
Die amerikanische Gesellschaft mag sich als Gesellschaft nicht erkennen und benennen, schon das bloße Wort riecht hier nach „Kommies“ und nach Liberalen. Stattdessen setzt sie ganz und gar auf das Muster der Familie, praktisch der einzigen sozialen Institution, der sie Legitimität zugesteht. (Höchstens Kirchengemeinden und Neighbourhoods kommen am Rand noch infrage.) Und darin folgt ihr John Irving, darin ist er ganz und gar Amerikaner.
Aber – und dieses Aber konstituiert sein Werk – Irvings Familie trägt ein anderes Gepräge als die Hetero-Kleingruppe aus Papa, Mama und zwei Kindern, die einander zehnmal am Tag versichern: „Love you“, was in den deutschen Übersetzungen meist als ein verlegen-affiges „Hab dich lieb“ rüberkommt. Sie wird von Irving so schräg wie irgend denkbar angelegt, um zu demonstrieren, dass ihre feste und verlässliche Form sich auch mit exzentrischen, abweichenden Inhalten füllen lässt. Eine solche Option besteht zum Beispiel darin, dass ein hochdekorierter Offizier die Versorgung einer Schar von Outcasts übernimmt. So verschieden sie sind, sie erweisen einander persönliche Achtung: Der eine hält den Suppentopf, der schwerlich zu seinen Orden passt, der andere wählt die Anrede „Sir“, in Amerika die Vokabel des Respekts schlechthin.
Es gibt viele Arten der Liebe: Das ist ein Satz, der im Buch immer wieder wie ein Mantra erscheint. In dieser Beharrlichkeit gründet die emotionale Kraft, die seine wesentliche Qualität ausmacht. Sie ist wichtiger als die teils reichlich konstruierte Handlung des mehr als tausendseitigen Romans und als die Zeichnung der Figuren; diese sind oft dermaßen auf das bloße Schräge festgelegt, dass sie schablonenhafte Züge annehmen.
Nacherzählen lässt sich das nur zum Teil. Adam, der Ich-Erzähler, wird wie sein Autor Anfang der Vierziger in dem kleinen Ort Exeter im nördlichen Neu-England geboren, als unehelicher Sohn der erst 19-jährigen Rachel, genannt Little Ray, die niemandem, auch dem Sohn nicht, den Vater verrät. Sie zieht das Kind allein auf, unterstützt allerdings von ihrer Mutter Nana und später dem nur 1,45 Meter messenden Englischlehrer Elliot, der sich noch später in eine Frau umwandeln lässt, ohne dass dies die familiären Verhältnisse verändert. Little Ray und Elliot haben geheiratet; aber liiert ist Little Ray mit der etwas älteren Molly. Dann gibt es noch Adams robuste Cousine Nora, die zusammen mit ihrer zwar nicht stummen, aber ausschließlich in Gebärden sprechenden Lebensgefährtin Em in einem linken New Yorker Kellertheater jahrzehntelang die Nummer „Zwei Lesben, eine spricht“ abzieht. Und ungefähr ein Dutzend weitere Hauptpersonen.
Fast alle haben etwas mit Wintersport zu tun, die Skilehrerin Little Ray ebenso wie die „Nachtspurerin“ Molly, die mit ihrer Raupe die Pisten herrichtet, und der „Schneeläufer“ Elliot. Der Sessellift ist für den Roman ein Gleichnis des Lebens und der letzte Sessellift eines des Todes, der mit erschreckender Häufigkeit zuschlägt.
Mit diesem Roman kehrt Irving zu den Anfängen seines Erfolgs zurück, zu „Garp und wie er die Welt sah“, womit ihm 1978 der Durchbruch gelang. Auch „Garp“ hatte schon die gleichen autobiografischen Wurzeln: Ort und Zeit, der schriftstellernde Sohn einer autarken Mutter, für die der Erzeuger keine Rolle spielt, Ringen, alternative Gender- und Familienentwürfe.
Irving braucht die autobiografische Verankerung. Wo er sein Programm frei flottierend durchzieht und sich einfach was ausdenkt, landet er unweigerlich beim Kitsch – so bei seinem letzten Roman, „Straße der Wunder“, wo er einen körperbehinderten zapotekischen Jungen aus Mexiko eine unwahrscheinliche Karriere hinlegen ließ. Das ganze Buch hatte geklungen wie eine ausufernde Paraphrase zu Katja Ebstein: Ein Indiojunge aus Peru – der will leben so wie du – er will lieben, doch die Türen bleiben zu – für den Indiojungen aus Peru. Hier war Irving der Gefahr erlegen, die ihm immer droht: der Sentimentalität.
Mit Erleichterung nimmt man es daher zur Kenntnis, dass Irvings Rückkehr zu den Quellen der eigenen Erfahrung, bei allen Slapstick-Einlagen, ihn tiefer und reifer macht. Dieses Buch wirkt wie ein Vermächtnis, als wäre dies sein eigener letzter Sessellift. Man spürt, obwohl der Autor sich dazu nicht äußert, dass es die Kraft, die es hat, aus einer großen Dankbarkeit bezieht.
Der Liebe, die sich manchmal ins Skurrile verkleidet, entspricht als Grundstimmung die Liebesangst. Die Lebensmenschen sollen sich nicht ändern, denn in aller Änderung lauert Entfremdung; und sie sollen nicht sterben. Das Erste kann der Autor erzwingen, um den Preis einer gewissen Erstarrung. Vor dem Tod retten kann er sie nicht. Aber auch hier weiß der Autor Rat: Die Toten sind nicht wirklich weg, sie wesen fort als Gespenster. Sie haben nichts Unheimliches an sich (obwohl sie Uneingeweihten manchmal einen Schrecken einjagen), sie stellen depotenzierte Formen der Menschen dar, die sie einmal waren; kaum dass man sie von den Lebenden unterscheiden kann. Je mehr liebe Menschen ihm sterben, desto mehr ist Adam von Gespenstern umringt, eine Perspektive, die ihn nicht erschreckt, sondern tröstet.
Irving, der viele Drehbücher verfasst und an der Verfilmung seiner Bücher regen Anteil genommen hat, macht sich die Ästhetik des Films zu eigen. Sind nicht auch Filme eine Art von Geistererscheinung? Menschen, die gar nicht mehr leben, James Dean oder Marilyn Monroe zum Beispiel, sind dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit immer dieselben Gespräche zu führen und sich die Zigarette auf immer dieselbe Weise anzuzünden, ohne die geringste Variation im Detail.
Im letzten Abschnitt finden sich zwei lange Passagen, zusammen fast 150 Seiten, die formal Drehbücher sind. Es ist ein Wagnis, ein Drehbuch, das ja eigentlich nur die Handreichung für eine andere Kunst darstellt, zu Literatur im eigentlichen Sinn machen zu wollen. Irving tut es, verlässt damit den Modus des Erzählens und stellt mit der Kargheit dieser Textsorte, die nur aus Dialog und Regieanweisung besteht, die Geduld des Lesers auf eine harte Probe. Aber nur so werden ihm die erschütterndsten Szenen gestaltbar: die schließlich doch noch stattfindende Begegnung mit dem biologischen Vater; der Unfalltod von dessen Frau, die eine geheimnisvolle Ähnlichkeit mit Adams Mutter besitzt. Sie wird immer wieder, solang der Streifen reproduzierbar bleibt, aus dem Sessellift stürzen, tot und lebendig in einem. Es hört nie auf: Das ist Drohung und Verheißung zugleich.
BURKHARD MÜLLER
Irving hilft die autobiografische
Verankerung, genau wie bei
„Garp und wie er die Welt sah“
John Irving: Der letzte Sessellift. Roman. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Diogenes, Zürich 2023,
1081 Seiten, 36 Euro.
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»Ein wirklich großer Geschichtenerzähler.« Thomas David / Neue Zürcher Zeitung Neue Zürcher Zeitung