Ein unverzichtbarer Wegweiser durch die Kunst Robert Gernhardt spitzt die Feder: Kampf den Dilettanten in der Kunst! In der Titelgeschichte erklärt der letzte Meister seinem letzten Schüler die verheerende Entwicklung der Kunst. Während Gernhardt mit dem ewigen Dilettanten abrechnet, äußert er sich profund über die von ihm verehrten Künstler und Könner. Von Giotto über Leonardo und Michelangelo bis hin zu Busch, Pfarr und Sowa, von den Klassikern der Malerei bis zu den großen Karikaturisten unserer Tage reicht Gernhardts Palette. Ein unverzichtbarer Wegweiser durch die Kunst, ein Buch, das den Zeichner und Schriftsteller Gernhardt in neuem Licht zeigt!
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.1999Das ewig Wirkliche zieht ihn hinan
Zeichentrick: Robert Gernhardt überlistet den Erzfeind der Kunst
Robert Gernhardt hat den Deutschen ihr Misstrauen gegenüber jeder Mehrfachbegabung aberzogen, so weit es sein eigenes Werk betrifft jedenfalls. Man hat sich an den Gedanken gewöhnt, dass ein bedeutender Cartoonist auch ein bedeutender Lyriker sein kann. Man hat gelernt, dass ein komisches Gedicht zugleich ein vollendetes Gedicht sein kann. Aber der Präzeptor ist noch nicht zufrieden; er hält es für möglich, "den lieben Deutschen", wie sich ein anderer dichtender und zeichnender Präzeptor ausdrückte, noch eine weitere Leistung abzuverlangen. Die Latte wird nun noch ein wenig höher gelegt. Sie liegt jetzt so hoch, dass viele einfach drunter durch spazieren werden. Andere werden bei dem Gedanken an den ihnen abverlangten Sprung erbleichen. Gernhardt lässt eine Facette seiner Person aufleuchten, die er nie verborgen hat und die dem größeren Publikum dennoch bisher verborgen geblieben ist: seine leidenschaftliche, gelehrte und praktische Beschäftigung mit der Malerei.
In seinem neuen Buch "Der letzte Zeichner" zeigt sich Gernhardt als lustvoller und intensiver Kenner und Betrachter, als Maler in der großen europäischen Tradition des Stilllebens, der Landschaft und des Interieurs, als Kritiker und Polemiker. So dringt er in die geheiligten Bezirke des kritischen und analytischen Spezialistentums vor, wohin man ihn nicht eingeladen hat. Seine Attacke bereitet der professionellen Kunstkritik jetzt schon ein Höchstmaß an Verlegenheit. Sachkenntnis wird man einem Künstler, der seit vierzig Jahren malt und betrachtet und in vielen entlegenen Regionen der Malerei selbstverständlich zu Hause ist, nicht abzusprechen wagen. Aber wie kommt es dann, dass Gernhardt bei der Untersuchung der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts zu vollständig anderen Ergebnissen gelangt als fast alle Kunstdiagnostiker der großen Zeitungen?
Der Essay, der dem Band den Namen gibt, "Der letzte Zeichner" hallt wie ein Schuss über totenstill daliegendem Ödland. Gernhardt kämpft - und daran werden sich viele seiner Leser erst gewöhnen müssen - mit vollem Ernst für eine Sache, die ihm kostbar ist: die gegenständliche Malerei, wie sie in Europa seit Ägypten bis in unsere Gegenwart hinein betrieben worden ist. Gernhardt hat sich als Lyriker überaus kunstvoll und listenreich den Umgang mit dem Pathos zurückerobert. Es versteht sich bei ihm allerdings von selbst, dass er stets bestrebt sein wird, sein Leiden und seine Leidenschaft so leicht und schwebend wie möglich erscheinen zu lassen. Er schreckt nicht davor zurück, seine originellen und überaus genauen Diagnosen als mit schwerer Zunge gesprochene, vom Alkohol enthemmte Tiraden erscheinen zu lassen. Schon in dem berühmt gewordenen Essay "Taverne Wachtelstubb" hatte er sein großes Fresko vom ästhetischen Chaos der Gegenwart wie einen alkoholisierten Gedankenflug entworfen. "Der letzte Zeichner" hat einen langen Bart und labt sich während seines bösartigen, heiteren, traurigen, poetischen Monologs unablässig aus einer Korbflasche. Er sitzt mit seinem jungen Schüler in der innersten Kammer des Kunsttempels. Sieben Tore schützen den Zugang in dies Allerheiligste. Während der Alte spricht und säuft, werden diese Tore eines nach dem anderen gesprengt. Schließlich steht das Eindringen des Feindes unmittelbar bevor. Dieser siegreiche Kunstfeind ist der eigentliche Gegenstand von Gernhardts Essay: "Der ewige Dilettant".
Es ist vielleicht kein Zufall, dass die beiden Künstler, die sich vor Gernhardt mit vernichtender Kritik zur Kunst der Moderne geäußert haben, George Grosz in dem Riesenkorpus seiner Briefe und Rudolf Schlichter in seinem Buch "Das Abenteuer der Kunst", gleichfalls vor allem als Zeichner berühmt geworden sind. Im Zeichnen, so wie Gernhardt es verstanden haben will, liegt für ihn die Essenz aller bildnerischen Kunst. Mehr noch als eine handwerkliche Technik ist das Zeichnen für ihn eine Lebenshaltung. Der Zeichner ist zunächst einmal nicht Hersteller eines Produktes seiner Fantasie, sondern Erforscher und Betrachter der Welt, die vor ihm liegt. Ihm geht es nicht um Stil, um Originalität, um Handschrift und die Feier seiner Subjektivität, sondern um das Studium des objektiv Anderen. Zeichnen ist Unterordnung des Künstlers unter die überwältigende Vielfalt der Phänomene. Zeichnen ist ein Akt der Demut vor dem Modell: Triumphe des Zeichners sind die Entdeckungen von Eigenschaften seines Modells, die vorher niemand bemerkt hat. Der Zeichner hat erfahrener, geduldiger, liebevoller hingesehen, und deshalb bezaubert seine Zeichnung durch ihre Wirklichkeit. Der Zeichner als Künstlertypus vereint auf das glücklichste Handwerklichkeit und Meditation, Professionalität und Einfühlung. Die Höhepunkte der Zeichenkunst erhalten durch diese Eigenschaften etwas geradezu Unpersönliches; ein Pferdebein von Leonardo oder eine Hand von Raffael scheinen Einblicke in den Schöpfungsplan zu vermitteln.
In einer fantastisch-ironischen Reise durch die Jahrhunderte sieht Gernhardt seinen künstlerischen Prototyp, den vom Ethos des Zeichnens erfüllten "Ewigen Künstler" in einem manichäischen Kampf mit dem "Ewigen Dilettanten", der das ungeheure Ansehen, das der Künstler mit seiner wortlosen Nach- und Neubildung der Natur erworben hat, neidzerfressen betrachtet. Eine Kultur, die dem Gemälde und der Zeichnung nachvollziehbare, offensichtliche Maßstäbe auferlegt, lässt dem Dilettantismus jedoch keine Chance, in das Innere des Pantheons zu gelangen. Die Revolution der Moderne, ihre radikale Abkehr von der europäischen Tradition ist vielfach gedeutet worden. Gernhardts Versuch hält gleichweiten Abstand zu Hans Sedlmayrs "Verlust der Mitte" wie zu politischen und ökonomischen Erklärungen, die einen werteaushöhlenden Kommerz und industrieller Vermassung die Verantwortung für den Zusammenbruch der Malerei zuschieben. Hinter dem Nikolausbart seines "Letzten Zeichners" verborgen, beschreibt er die Kriegslist, mit der es dem Dilettanten schließlich gelang, den Künstler zu überwinden - vorläufig freilich nur, vielleicht nur für ein paar Jahrhunderte: das Bündnis mit dem "Literaten", der die überwältigende Stummheit der Bilder wegdisputiert, der die Kunst zum Religionsersatz verdirbt und sich als Schriftgelehrter, Deuter und Prophet zwischen Kunst- oder Machwerk und den seinen fünf Sinnen nicht mehr trauenden Betrachter drängt.
Das von aus Gernhardts Sicht vom "Ewigen Dilettanten" in fatalem Verein mit dem "Literaten", dem Sinnspender mit der "volublen Zung'" regierte zwanzigste Jahrhundert wird nun in vielen seiner Aspekte ausgebreitet. "Leibeigene wurden befreit. Sklaven wurden befreit. Frauen wurden befreit - und an all diese Freiheits- und Emanzipationsbewegungen hängten sich jene an, die für die Befreiung der Farbe stritten ... beim Hirn stellte sich oder gar der Farbe die nahe liegende Frage: Ob sie denn überhaupt befreit werden wolle? Hatte sie denn jemals kostbarer gefunkelt als in den vielschichtigen Wunderwerken der Brüder van Eyck? Jemals leuchtender gestrahlt als in den Lichtpunkten Jan Vermeers? Alles Liebende, die fassungslos gewesen wären, hätten sie mitmachen müssen, wie die selbst ernannten Farbliebhaber den vorgeblichen Befreiungsakt mit der angeblichen Geliebten praktizierten: als ruppigen Quickie."
Der "Erweiterte Kunstbegriff" und seine Folgen, etwa auf den "Documenta"-Ausstellungen in Kassel, erzeugen in dem "Letzten Zeichner" einen beinahe an Bitterkeit grenzenden Schauder, denn den daraus geborenen "Installationen" ist mit den Mitteln der Satire längst nicht mehr beizukommen - keine satirische Zuspitzung ist auf diesem Felde vorstellbar, die nicht schon allseits akzeptierter Normalfall geworden wäre. Gernhardt schildert die Versteinerung des "avantgardistischen Jahrhunderts", das die Provokationen seiner Frühzeit als totes Ritual wie in einem Kunst-Kyffhäuser immer aufs Neue begeht. Er beschreibt, wie die philosophischsten und religiösesten "Projekte" der Moderne der Gebrauchskunst, der Werbung, dem Design, der Mode zugearbeitet haben, den kurzen Weg von Mondrian zu L'Oreal. Schockierend werden auf viele Leser die Charakterisierung Cézannes und Picassos wirken, "die das unergründliche Schicksal beide dazu ausersehen hat, der Kunst, die sie unsterblich gemacht hat, das Grab zu schaufeln": der eine idealistischer Dilettant, der andere Dilettant aus Kalkül, der bei Cézanne "auf die Trüffel ,Ungeschicklichkeit', die Trüffel ,Exotik', die Trüffel ,Archaismus', die Trüffel ,Naivität' stieß".
Schließlich wird die Goldene Pforte gesprengt; Dilettant und Literat werden dem Letzten Zeichner den Prozess der Sieger machen. "Ein letztes Mal werde ich mir ihre Anklagen anhören müssen - 'platte Gegenständlichkeit, trockene Bildchen, bemühter Fleiß, überkommene Sehgewohnheiten, akademisches Kleben am Modell, geistlose Nachahmung, ängstliche Naturtreue!..." Der Schüler jedoch entkommt - er wird Karikaturist und flüchtet so in die letzte Nische, die der Gegenständlichkeit in der Kunst geblieben ist. Dieser brillante Schluss ist freilich nicht Gernhardts letztes Wort in der Affäre. In dem Aufsatz "Engel, Löwe, Lichtfleck" beschreibt er seinen eigenen Weg als Maler durch das Labyrinth der Gegenwart mit seinen vielen Sackgassen, trotz traurigster Befunde nicht mutlos. ",Das geht nicht', sagte der Theoretiker einst. ,Nichts geht mehr', sagt er heute. ,Wie geht das?' fragten sich Praktiker aller Zeiten." Dass es von solchen Praktikern, Zeichnern und Malern wie Gernhardt in diesem Jahrhundert womöglich viel mehr gegeben hat, als offizielle Jahrhundertschauen uns heute noch zeigen wollen, das ist der erfreuliche Verdacht, den Gernhardts Buch weckt.
MARTIN MOSEBACH
Robert Gernhardt: "Der letzte Zeichner". Aufsätze zu Kunst und Karikatur. Haffmans Verlag, Zürich 1999. 344 S., geb., 49,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zeichentrick: Robert Gernhardt überlistet den Erzfeind der Kunst
Robert Gernhardt hat den Deutschen ihr Misstrauen gegenüber jeder Mehrfachbegabung aberzogen, so weit es sein eigenes Werk betrifft jedenfalls. Man hat sich an den Gedanken gewöhnt, dass ein bedeutender Cartoonist auch ein bedeutender Lyriker sein kann. Man hat gelernt, dass ein komisches Gedicht zugleich ein vollendetes Gedicht sein kann. Aber der Präzeptor ist noch nicht zufrieden; er hält es für möglich, "den lieben Deutschen", wie sich ein anderer dichtender und zeichnender Präzeptor ausdrückte, noch eine weitere Leistung abzuverlangen. Die Latte wird nun noch ein wenig höher gelegt. Sie liegt jetzt so hoch, dass viele einfach drunter durch spazieren werden. Andere werden bei dem Gedanken an den ihnen abverlangten Sprung erbleichen. Gernhardt lässt eine Facette seiner Person aufleuchten, die er nie verborgen hat und die dem größeren Publikum dennoch bisher verborgen geblieben ist: seine leidenschaftliche, gelehrte und praktische Beschäftigung mit der Malerei.
In seinem neuen Buch "Der letzte Zeichner" zeigt sich Gernhardt als lustvoller und intensiver Kenner und Betrachter, als Maler in der großen europäischen Tradition des Stilllebens, der Landschaft und des Interieurs, als Kritiker und Polemiker. So dringt er in die geheiligten Bezirke des kritischen und analytischen Spezialistentums vor, wohin man ihn nicht eingeladen hat. Seine Attacke bereitet der professionellen Kunstkritik jetzt schon ein Höchstmaß an Verlegenheit. Sachkenntnis wird man einem Künstler, der seit vierzig Jahren malt und betrachtet und in vielen entlegenen Regionen der Malerei selbstverständlich zu Hause ist, nicht abzusprechen wagen. Aber wie kommt es dann, dass Gernhardt bei der Untersuchung der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts zu vollständig anderen Ergebnissen gelangt als fast alle Kunstdiagnostiker der großen Zeitungen?
Der Essay, der dem Band den Namen gibt, "Der letzte Zeichner" hallt wie ein Schuss über totenstill daliegendem Ödland. Gernhardt kämpft - und daran werden sich viele seiner Leser erst gewöhnen müssen - mit vollem Ernst für eine Sache, die ihm kostbar ist: die gegenständliche Malerei, wie sie in Europa seit Ägypten bis in unsere Gegenwart hinein betrieben worden ist. Gernhardt hat sich als Lyriker überaus kunstvoll und listenreich den Umgang mit dem Pathos zurückerobert. Es versteht sich bei ihm allerdings von selbst, dass er stets bestrebt sein wird, sein Leiden und seine Leidenschaft so leicht und schwebend wie möglich erscheinen zu lassen. Er schreckt nicht davor zurück, seine originellen und überaus genauen Diagnosen als mit schwerer Zunge gesprochene, vom Alkohol enthemmte Tiraden erscheinen zu lassen. Schon in dem berühmt gewordenen Essay "Taverne Wachtelstubb" hatte er sein großes Fresko vom ästhetischen Chaos der Gegenwart wie einen alkoholisierten Gedankenflug entworfen. "Der letzte Zeichner" hat einen langen Bart und labt sich während seines bösartigen, heiteren, traurigen, poetischen Monologs unablässig aus einer Korbflasche. Er sitzt mit seinem jungen Schüler in der innersten Kammer des Kunsttempels. Sieben Tore schützen den Zugang in dies Allerheiligste. Während der Alte spricht und säuft, werden diese Tore eines nach dem anderen gesprengt. Schließlich steht das Eindringen des Feindes unmittelbar bevor. Dieser siegreiche Kunstfeind ist der eigentliche Gegenstand von Gernhardts Essay: "Der ewige Dilettant".
Es ist vielleicht kein Zufall, dass die beiden Künstler, die sich vor Gernhardt mit vernichtender Kritik zur Kunst der Moderne geäußert haben, George Grosz in dem Riesenkorpus seiner Briefe und Rudolf Schlichter in seinem Buch "Das Abenteuer der Kunst", gleichfalls vor allem als Zeichner berühmt geworden sind. Im Zeichnen, so wie Gernhardt es verstanden haben will, liegt für ihn die Essenz aller bildnerischen Kunst. Mehr noch als eine handwerkliche Technik ist das Zeichnen für ihn eine Lebenshaltung. Der Zeichner ist zunächst einmal nicht Hersteller eines Produktes seiner Fantasie, sondern Erforscher und Betrachter der Welt, die vor ihm liegt. Ihm geht es nicht um Stil, um Originalität, um Handschrift und die Feier seiner Subjektivität, sondern um das Studium des objektiv Anderen. Zeichnen ist Unterordnung des Künstlers unter die überwältigende Vielfalt der Phänomene. Zeichnen ist ein Akt der Demut vor dem Modell: Triumphe des Zeichners sind die Entdeckungen von Eigenschaften seines Modells, die vorher niemand bemerkt hat. Der Zeichner hat erfahrener, geduldiger, liebevoller hingesehen, und deshalb bezaubert seine Zeichnung durch ihre Wirklichkeit. Der Zeichner als Künstlertypus vereint auf das glücklichste Handwerklichkeit und Meditation, Professionalität und Einfühlung. Die Höhepunkte der Zeichenkunst erhalten durch diese Eigenschaften etwas geradezu Unpersönliches; ein Pferdebein von Leonardo oder eine Hand von Raffael scheinen Einblicke in den Schöpfungsplan zu vermitteln.
In einer fantastisch-ironischen Reise durch die Jahrhunderte sieht Gernhardt seinen künstlerischen Prototyp, den vom Ethos des Zeichnens erfüllten "Ewigen Künstler" in einem manichäischen Kampf mit dem "Ewigen Dilettanten", der das ungeheure Ansehen, das der Künstler mit seiner wortlosen Nach- und Neubildung der Natur erworben hat, neidzerfressen betrachtet. Eine Kultur, die dem Gemälde und der Zeichnung nachvollziehbare, offensichtliche Maßstäbe auferlegt, lässt dem Dilettantismus jedoch keine Chance, in das Innere des Pantheons zu gelangen. Die Revolution der Moderne, ihre radikale Abkehr von der europäischen Tradition ist vielfach gedeutet worden. Gernhardts Versuch hält gleichweiten Abstand zu Hans Sedlmayrs "Verlust der Mitte" wie zu politischen und ökonomischen Erklärungen, die einen werteaushöhlenden Kommerz und industrieller Vermassung die Verantwortung für den Zusammenbruch der Malerei zuschieben. Hinter dem Nikolausbart seines "Letzten Zeichners" verborgen, beschreibt er die Kriegslist, mit der es dem Dilettanten schließlich gelang, den Künstler zu überwinden - vorläufig freilich nur, vielleicht nur für ein paar Jahrhunderte: das Bündnis mit dem "Literaten", der die überwältigende Stummheit der Bilder wegdisputiert, der die Kunst zum Religionsersatz verdirbt und sich als Schriftgelehrter, Deuter und Prophet zwischen Kunst- oder Machwerk und den seinen fünf Sinnen nicht mehr trauenden Betrachter drängt.
Das von aus Gernhardts Sicht vom "Ewigen Dilettanten" in fatalem Verein mit dem "Literaten", dem Sinnspender mit der "volublen Zung'" regierte zwanzigste Jahrhundert wird nun in vielen seiner Aspekte ausgebreitet. "Leibeigene wurden befreit. Sklaven wurden befreit. Frauen wurden befreit - und an all diese Freiheits- und Emanzipationsbewegungen hängten sich jene an, die für die Befreiung der Farbe stritten ... beim Hirn stellte sich oder gar der Farbe die nahe liegende Frage: Ob sie denn überhaupt befreit werden wolle? Hatte sie denn jemals kostbarer gefunkelt als in den vielschichtigen Wunderwerken der Brüder van Eyck? Jemals leuchtender gestrahlt als in den Lichtpunkten Jan Vermeers? Alles Liebende, die fassungslos gewesen wären, hätten sie mitmachen müssen, wie die selbst ernannten Farbliebhaber den vorgeblichen Befreiungsakt mit der angeblichen Geliebten praktizierten: als ruppigen Quickie."
Der "Erweiterte Kunstbegriff" und seine Folgen, etwa auf den "Documenta"-Ausstellungen in Kassel, erzeugen in dem "Letzten Zeichner" einen beinahe an Bitterkeit grenzenden Schauder, denn den daraus geborenen "Installationen" ist mit den Mitteln der Satire längst nicht mehr beizukommen - keine satirische Zuspitzung ist auf diesem Felde vorstellbar, die nicht schon allseits akzeptierter Normalfall geworden wäre. Gernhardt schildert die Versteinerung des "avantgardistischen Jahrhunderts", das die Provokationen seiner Frühzeit als totes Ritual wie in einem Kunst-Kyffhäuser immer aufs Neue begeht. Er beschreibt, wie die philosophischsten und religiösesten "Projekte" der Moderne der Gebrauchskunst, der Werbung, dem Design, der Mode zugearbeitet haben, den kurzen Weg von Mondrian zu L'Oreal. Schockierend werden auf viele Leser die Charakterisierung Cézannes und Picassos wirken, "die das unergründliche Schicksal beide dazu ausersehen hat, der Kunst, die sie unsterblich gemacht hat, das Grab zu schaufeln": der eine idealistischer Dilettant, der andere Dilettant aus Kalkül, der bei Cézanne "auf die Trüffel ,Ungeschicklichkeit', die Trüffel ,Exotik', die Trüffel ,Archaismus', die Trüffel ,Naivität' stieß".
Schließlich wird die Goldene Pforte gesprengt; Dilettant und Literat werden dem Letzten Zeichner den Prozess der Sieger machen. "Ein letztes Mal werde ich mir ihre Anklagen anhören müssen - 'platte Gegenständlichkeit, trockene Bildchen, bemühter Fleiß, überkommene Sehgewohnheiten, akademisches Kleben am Modell, geistlose Nachahmung, ängstliche Naturtreue!..." Der Schüler jedoch entkommt - er wird Karikaturist und flüchtet so in die letzte Nische, die der Gegenständlichkeit in der Kunst geblieben ist. Dieser brillante Schluss ist freilich nicht Gernhardts letztes Wort in der Affäre. In dem Aufsatz "Engel, Löwe, Lichtfleck" beschreibt er seinen eigenen Weg als Maler durch das Labyrinth der Gegenwart mit seinen vielen Sackgassen, trotz traurigster Befunde nicht mutlos. ",Das geht nicht', sagte der Theoretiker einst. ,Nichts geht mehr', sagt er heute. ,Wie geht das?' fragten sich Praktiker aller Zeiten." Dass es von solchen Praktikern, Zeichnern und Malern wie Gernhardt in diesem Jahrhundert womöglich viel mehr gegeben hat, als offizielle Jahrhundertschauen uns heute noch zeigen wollen, das ist der erfreuliche Verdacht, den Gernhardts Buch weckt.
MARTIN MOSEBACH
Robert Gernhardt: "Der letzte Zeichner". Aufsätze zu Kunst und Karikatur. Haffmans Verlag, Zürich 1999. 344 S., geb., 49,- DM.
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