Als Magnus Hirschfeld 1919 sein Institut im Berliner Tiergarten eröffnete, schien der jungen Disziplin der Sexualwissenschaft die Zukunft zu gehören. Die umfangreiche Bibliothek, die vielfältigen Sammlungen, Beratungs- und Therapieangebote lockten Patienten und Besucherinnen aus der ganzen Welt an. Menschen aller Schichten konnten sich vor Ort über Empfängnisverhütung oder den Schutz vor Geschlechtskrankheiten informieren. Doch das Institut sollte lange die einzige Einrichtung mit dem Ziel bleiben, das Thema Sexualität in seiner ganzen Breite zu behandeln. Hirschfeld und seine Mitarbeiter waren dabei stets Anfeindungen durch politische und wissenschaftliche Gegner ausgesetzt, die 1933 in der Plünderung des Instituts durch die Nationalsozialisten und seiner Schließung mündeten.
In Der Liebe und dem Leid erzählt Rainer Herrn erstmals die wechselvolle Geschichte dieser berühmten Institution. Er stellt die Protagonisten vor, die sie prägten, schildert die Kämpfe um die Abschaffung des »Homosexuellenparagraphen« 175, folgt den Schicksalen der Menschen, die im Institut Hilfe suchten, und lässt, wie nebenbei, den Geist der Weimarer Republik lebendig werden.
In Der Liebe und dem Leid erzählt Rainer Herrn erstmals die wechselvolle Geschichte dieser berühmten Institution. Er stellt die Protagonisten vor, die sie prägten, schildert die Kämpfe um die Abschaffung des »Homosexuellenparagraphen« 175, folgt den Schicksalen der Menschen, die im Institut Hilfe suchten, und lässt, wie nebenbei, den Geist der Weimarer Republik lebendig werden.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Thomas Gesterkamp verrät uns mehr über Magnus Hirschfeld und das von ihm gegründete Berliner Institut für Sexualwissenschaften, als über Rainer Herrns Buch. Aber wir dürfen annehmen, dass der Kritiker einen Großteil seines Wissens Herrns historischer Aufarbeitung verdankt. Menschen aus aller Welt und allen Schichten reisten in das von Hirschfeld bis zur Schließung im Jahr 1933 überwiegend selbst finanzierte Institut, um sich über Empfängnisverhütung oder Schutz vor Geschlechtskrankheiten zu informieren, aber auch um sexuelle Funktionsstörungen behandeln zu lassen oder Schutz vor dem "rigiden" Sexualstrafrecht gegen Homo- und Transsexuelle zu finden, lesen wir. Hirschfeld, der selbst offen schwul lebte, kämpfte für die Abschaffung des Paragrafen 175, zugleich gab es im Institut an die Eugenik erinnernde Versuche, "Homosexuelle zu kastrieren oder ihre sexuelle Orientierung durch die Implantation von Hoden zu verändern", liest Gesterkamp. Von Hirschfelds Einfluss auf nachfolgende wissenschaftliche Studien erfährt der Rezensent hier ebenfalls.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2022Ein Kind der deutschen Revolution
Zwischen Vollmann und Vollweib: Rainer Herrn legt eine exzellent verfasste Geschichte von Magnus Hirschfelds Berliner Institut für
Sexualwissenschaft vor.
Es ist so bemerkenswert wie bedauerlich: In kaum einer Gesamtdarstellung zur Weimarer Geschichte findet das Institut für Sexualwissenschaft Erwähnung. Auch fehlte bislang eine umfassende Studie über diese geradezu avantgardistische Einrichtung, die Berlin früh zu einem herausragenden Ort werden ließ, an dem in umfassender Weise das Thema der Sexualität verhandelt wurde. Mit seiner Geschichte des Instituts für Sexualwissenschaft schließt Rainer Herrn diese Lücke.
Als Resultat präsentiert er glücklicherweise nicht bloß ein gut zu lesendes Buch über eine in Vergessenheit geratene Institution, sondern ein skrupulös aus den Quellen gearbeitetes Werk eingehender Forschung. Zu seinen Stärken gehört eine Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln mit wissenschafts-, kultur-, gesellschafts- und rechtsgeschichtlichen Fluchtpunkten. Außerdem ist einiges über die Biographien der handelnden Akteure zu erfahren. Im Mittelpunkt steht mit Magnus Hirschfeld der Gründer und Protagonist des Instituts.
Seinem persönlichen, auch finanziellen Einsatz war im Juli 1919 die Schaffung des Instituts für Sexualwissenschaft zu verdanken. Ohne die Aufbruchsstimmung am Ende des Weltkriegs wäre dieses "Kind der Revolution", von dem Hirschfeld sprach, nicht in die Welt gesetzt worden. Zunächst eine private Einrichtung, errang es erst von 1924 an den Status einer "staatlich genehmigten und als gemeinnützig anerkannten öffentlichen rechtsfähigen Stiftung", der Dr.-Magnus-Hirschfeld-Stiftung.
Der 1868 in Kolberg geborene Hirschfeld hatte sich bereits ab der Jahrhundertwende für die Entkriminalisierung der Homosexualität eingesetzt. Feierten ihn die einen dafür, so überzogen ihn die anderen mit einer Mischung aus antihomoerotischer und antisemitischer Hetze. Frühzeitig kämpfte Hirschfeld, der selbst homosexuell war, ohne sich je zu outen, an zwei Fronten: einerseits an einer reformpolitischen, andererseits an einer wissenschaftlichen. Im Idealfall wollte er beides miteinander verbinden. Sein Leitspruch lautete: "per scientiam ad justitiam", durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit.
Als Kopf des Wissenschaftlich-humanitären Komitees machte er sich für die Abschaffung des § 175 des Strafgesetzbuches stark, der männliche homosexuelle Handlungen im Kaiserreich wie der Weimarer Republik unter Strafe stellte. Eingehend schildert Herrn auch weitere Reformvorstöße - erst des "Aktions-Ausschusses", später des "Kartells für Reform des Sexualstrafrechts" und der "Weltliga für Sexualreform". Sie alle waren eng mit dem Berliner Institut und Hirschfelds Namen verbunden. Als sein publizistischer Mitstreiter Kurt Hiller 1922 das Buch "§ 175: die Schmach des Jahrhunderts!" veröffentlichte, konnte er noch nicht wissen, wie richtig er lag, wurde der Strafrechtsparagraph aus dem Jahr 1872 doch erst 1994 gestrichen.
Neben seinem gesellschaftlich-politischen und justizreformerischen Engagement bemühte sich Hirschfeld nach Kräften, die Sexualwissenschaft als eigene Disziplin zu etablieren. Sein Institut gab dem Erfolg wie dem Misserfolg dieses Anliegens Ausdruck: Hier gab es einen eigenen Ort, an dem gezielt Sexualwissenschaft betrieben wurde. Doch blieb es zunächst eine Gründung ohne offizielle Anerkennung, und die Universitäten verwahrten sich hartnäckig dagegen, dieses Wissensgebiet in eigenständiger Weise in ihren Fächerkanon aufzunehmen.
Rainer Herrn gelingt es in hervorragender Weise, nicht nur diese breiteren Kontexte auszuleuchten, sondern auch Hirschfelds Beitrag zur Sexualwissenschaft zu skizzieren. Die "Zwischenstufentheorie" gilt als dessen wichtigste Leistung. Hirschfeld war davon überzeugt, "Vollmann" und "Vollweib" könnten nur als idealtypische Orientierungsgrößen dienen. Dazwischen aber gäbe es eine unüberschaubar große Zahl "intersexueller Varianten" von "männlich gearteten Frauen" und "weiblich gearteten Männern". Dabei war Hirschfeld ein Anhänger einer somatisch-hormonbedingten Erklärung für die Ausprägung jeweiliger Sexualtypen.
Dies führte dazu, dass am Institut eine Zeit lang Hodenüberpflanzungen, Vasektomien und weitere körperliche Eingriffe vollzogen wurden, um die als pathologisch geltende Homosexualität zu behandeln. Letztlich erwiesen sich diese Operationen als wenig erfolgreich. Auch Hirschfeld erkannte mit der Zeit, wie wenig nur die "sexuelle Individualität" allein an die "Geschlechtsdrüse" gekoppelt war. Später gelangte er zu einer "subjektorientierten Auffassung", die Herrn "singulär" nennt und die medizinischen Determinismus zurückwies. So hieß es in Hirschfelds "Geschlechtskunde" aus dem Jahr 1926, fast wie ein Statement zu aktuellen Streitfragen in der Geschlechterpolitik: "Über die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen entscheidet nicht sein Leib, sondern seine Seele; nicht die Meinung eines Sachverständigen, sondern das eigene Empfinden ist maßgebend, falls zwischen beiden ein Widerspruch vorliegen sollte."
So progressiv eine solche Formulierung klingt, wäre es doch verfehlt, die Weimarer Republik ohne Umschweife zum Goldenen Zeitalter von Sexualreform und -wissenschaft zu deklarieren. Rainer Herrn weist anhand einzelner Szenerien und Episoden auf Ambivalenzen und Widerstände hin. Das betrifft zum einen den politisch-kulturellen Rahmen einer bisweilen reaktionär anmutenden öffentlichen Moral, zum anderen aber auch manche Position oder Argumentation von Institutsmitarbeitern selbst, die uns heute befremdlich vorkommen. Herrn nennt beispielsweise eugenische Argumentationsmuster der Ehe- und Sexualberatungsstelle des Instituts, der unter Leitung von Hans Graaz sogar rassistische Denkweisen nicht fremd waren.
Im Rückblick irritieren muss auch manche Gutachterstrategie vor Gericht. So suchte Hirschfeld im Falle angeklagter Homosexueller wiederholt die Unzurechnungsfähigkeit gemäß § 51 des Strafgesetzbuches nachzuweisen, habe doch ein unwillentlicher sexueller Rauschzustand zu einer krankhaften Störung des Geisteszustands geführt. Ein anderes Mal wollte er den Vorwurf des homosexuellen Aktes durch den Nachweis offensichtlicher Heterosexualität entkräften, "da ja", wie er unterstrich, "einem normal veranlagten Manne solche Handlungen unmöglich und widerwärtig" seien. In gewisser Weise pathologisierte Hirschfeld die Homosexualität, wenn auch in instrumenteller Absicht. Es war der "Preis des Freispruchs" und eine "Sexualpolitik mit anderen Mitteln", wie Herrn treffend herausstreicht.
Neben der Forschungs-, Gerichts- und Gutachtertätigkeit schildert der Autor auch detailgenau die Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit des Instituts. Ob mit Ausstellungen ("Eros im Museum") oder regelmäßigen "Frageabenden", die auch über Empfängnisverhütung und Geschlechtskrankheiten informierten, stets zog das Institut ein breites Publikum an. Und für viele sexuell Stigmatisierte, die anderswo keine Unterstützung fanden, öffnete das Institut für Sexualwissenschaft seine Tore als Heil- und Zufluchtsstätte, die es neben der Lehr- und Forschungsanstalt von Anfang an ebenfalls sein wollte.
Nicht zuletzt bei Vertretern einer radikalen Rechten rief die Einrichtung großen Hass hervor, weil sie ihnen als besonders verwerflicher Auswuchs jenes liberalen Geistes von Weimar galt, den sie zutiefst verachteten. Joseph Goebbels äußerte schon 1928, wie sehr er sich darauf freue, wenn dieses Institut nach der Machtübernahme endlich "zugeklappt" werde - "und zwar mit hörbarem Ruck". Am 6. Mai 1933 erfolgte die Plünderung durch Nazischergen, am 10. Mai landeten eine Büste Hirschfelds und seine Schriften im Feuer auf dem Opernplatz. Er selbst war rechtzeitig emigriert und starb 1935 in Nizza. ALEXANDER GALLUS
Rainer Herrn: "Der Liebe und dem Leid". Das Institut für Sexual- wissenschaft 1919-1933.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2022. 681 S., Abb., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwischen Vollmann und Vollweib: Rainer Herrn legt eine exzellent verfasste Geschichte von Magnus Hirschfelds Berliner Institut für
Sexualwissenschaft vor.
Es ist so bemerkenswert wie bedauerlich: In kaum einer Gesamtdarstellung zur Weimarer Geschichte findet das Institut für Sexualwissenschaft Erwähnung. Auch fehlte bislang eine umfassende Studie über diese geradezu avantgardistische Einrichtung, die Berlin früh zu einem herausragenden Ort werden ließ, an dem in umfassender Weise das Thema der Sexualität verhandelt wurde. Mit seiner Geschichte des Instituts für Sexualwissenschaft schließt Rainer Herrn diese Lücke.
Als Resultat präsentiert er glücklicherweise nicht bloß ein gut zu lesendes Buch über eine in Vergessenheit geratene Institution, sondern ein skrupulös aus den Quellen gearbeitetes Werk eingehender Forschung. Zu seinen Stärken gehört eine Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln mit wissenschafts-, kultur-, gesellschafts- und rechtsgeschichtlichen Fluchtpunkten. Außerdem ist einiges über die Biographien der handelnden Akteure zu erfahren. Im Mittelpunkt steht mit Magnus Hirschfeld der Gründer und Protagonist des Instituts.
Seinem persönlichen, auch finanziellen Einsatz war im Juli 1919 die Schaffung des Instituts für Sexualwissenschaft zu verdanken. Ohne die Aufbruchsstimmung am Ende des Weltkriegs wäre dieses "Kind der Revolution", von dem Hirschfeld sprach, nicht in die Welt gesetzt worden. Zunächst eine private Einrichtung, errang es erst von 1924 an den Status einer "staatlich genehmigten und als gemeinnützig anerkannten öffentlichen rechtsfähigen Stiftung", der Dr.-Magnus-Hirschfeld-Stiftung.
Der 1868 in Kolberg geborene Hirschfeld hatte sich bereits ab der Jahrhundertwende für die Entkriminalisierung der Homosexualität eingesetzt. Feierten ihn die einen dafür, so überzogen ihn die anderen mit einer Mischung aus antihomoerotischer und antisemitischer Hetze. Frühzeitig kämpfte Hirschfeld, der selbst homosexuell war, ohne sich je zu outen, an zwei Fronten: einerseits an einer reformpolitischen, andererseits an einer wissenschaftlichen. Im Idealfall wollte er beides miteinander verbinden. Sein Leitspruch lautete: "per scientiam ad justitiam", durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit.
Als Kopf des Wissenschaftlich-humanitären Komitees machte er sich für die Abschaffung des § 175 des Strafgesetzbuches stark, der männliche homosexuelle Handlungen im Kaiserreich wie der Weimarer Republik unter Strafe stellte. Eingehend schildert Herrn auch weitere Reformvorstöße - erst des "Aktions-Ausschusses", später des "Kartells für Reform des Sexualstrafrechts" und der "Weltliga für Sexualreform". Sie alle waren eng mit dem Berliner Institut und Hirschfelds Namen verbunden. Als sein publizistischer Mitstreiter Kurt Hiller 1922 das Buch "§ 175: die Schmach des Jahrhunderts!" veröffentlichte, konnte er noch nicht wissen, wie richtig er lag, wurde der Strafrechtsparagraph aus dem Jahr 1872 doch erst 1994 gestrichen.
Neben seinem gesellschaftlich-politischen und justizreformerischen Engagement bemühte sich Hirschfeld nach Kräften, die Sexualwissenschaft als eigene Disziplin zu etablieren. Sein Institut gab dem Erfolg wie dem Misserfolg dieses Anliegens Ausdruck: Hier gab es einen eigenen Ort, an dem gezielt Sexualwissenschaft betrieben wurde. Doch blieb es zunächst eine Gründung ohne offizielle Anerkennung, und die Universitäten verwahrten sich hartnäckig dagegen, dieses Wissensgebiet in eigenständiger Weise in ihren Fächerkanon aufzunehmen.
Rainer Herrn gelingt es in hervorragender Weise, nicht nur diese breiteren Kontexte auszuleuchten, sondern auch Hirschfelds Beitrag zur Sexualwissenschaft zu skizzieren. Die "Zwischenstufentheorie" gilt als dessen wichtigste Leistung. Hirschfeld war davon überzeugt, "Vollmann" und "Vollweib" könnten nur als idealtypische Orientierungsgrößen dienen. Dazwischen aber gäbe es eine unüberschaubar große Zahl "intersexueller Varianten" von "männlich gearteten Frauen" und "weiblich gearteten Männern". Dabei war Hirschfeld ein Anhänger einer somatisch-hormonbedingten Erklärung für die Ausprägung jeweiliger Sexualtypen.
Dies führte dazu, dass am Institut eine Zeit lang Hodenüberpflanzungen, Vasektomien und weitere körperliche Eingriffe vollzogen wurden, um die als pathologisch geltende Homosexualität zu behandeln. Letztlich erwiesen sich diese Operationen als wenig erfolgreich. Auch Hirschfeld erkannte mit der Zeit, wie wenig nur die "sexuelle Individualität" allein an die "Geschlechtsdrüse" gekoppelt war. Später gelangte er zu einer "subjektorientierten Auffassung", die Herrn "singulär" nennt und die medizinischen Determinismus zurückwies. So hieß es in Hirschfelds "Geschlechtskunde" aus dem Jahr 1926, fast wie ein Statement zu aktuellen Streitfragen in der Geschlechterpolitik: "Über die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen entscheidet nicht sein Leib, sondern seine Seele; nicht die Meinung eines Sachverständigen, sondern das eigene Empfinden ist maßgebend, falls zwischen beiden ein Widerspruch vorliegen sollte."
So progressiv eine solche Formulierung klingt, wäre es doch verfehlt, die Weimarer Republik ohne Umschweife zum Goldenen Zeitalter von Sexualreform und -wissenschaft zu deklarieren. Rainer Herrn weist anhand einzelner Szenerien und Episoden auf Ambivalenzen und Widerstände hin. Das betrifft zum einen den politisch-kulturellen Rahmen einer bisweilen reaktionär anmutenden öffentlichen Moral, zum anderen aber auch manche Position oder Argumentation von Institutsmitarbeitern selbst, die uns heute befremdlich vorkommen. Herrn nennt beispielsweise eugenische Argumentationsmuster der Ehe- und Sexualberatungsstelle des Instituts, der unter Leitung von Hans Graaz sogar rassistische Denkweisen nicht fremd waren.
Im Rückblick irritieren muss auch manche Gutachterstrategie vor Gericht. So suchte Hirschfeld im Falle angeklagter Homosexueller wiederholt die Unzurechnungsfähigkeit gemäß § 51 des Strafgesetzbuches nachzuweisen, habe doch ein unwillentlicher sexueller Rauschzustand zu einer krankhaften Störung des Geisteszustands geführt. Ein anderes Mal wollte er den Vorwurf des homosexuellen Aktes durch den Nachweis offensichtlicher Heterosexualität entkräften, "da ja", wie er unterstrich, "einem normal veranlagten Manne solche Handlungen unmöglich und widerwärtig" seien. In gewisser Weise pathologisierte Hirschfeld die Homosexualität, wenn auch in instrumenteller Absicht. Es war der "Preis des Freispruchs" und eine "Sexualpolitik mit anderen Mitteln", wie Herrn treffend herausstreicht.
Neben der Forschungs-, Gerichts- und Gutachtertätigkeit schildert der Autor auch detailgenau die Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit des Instituts. Ob mit Ausstellungen ("Eros im Museum") oder regelmäßigen "Frageabenden", die auch über Empfängnisverhütung und Geschlechtskrankheiten informierten, stets zog das Institut ein breites Publikum an. Und für viele sexuell Stigmatisierte, die anderswo keine Unterstützung fanden, öffnete das Institut für Sexualwissenschaft seine Tore als Heil- und Zufluchtsstätte, die es neben der Lehr- und Forschungsanstalt von Anfang an ebenfalls sein wollte.
Nicht zuletzt bei Vertretern einer radikalen Rechten rief die Einrichtung großen Hass hervor, weil sie ihnen als besonders verwerflicher Auswuchs jenes liberalen Geistes von Weimar galt, den sie zutiefst verachteten. Joseph Goebbels äußerte schon 1928, wie sehr er sich darauf freue, wenn dieses Institut nach der Machtübernahme endlich "zugeklappt" werde - "und zwar mit hörbarem Ruck". Am 6. Mai 1933 erfolgte die Plünderung durch Nazischergen, am 10. Mai landeten eine Büste Hirschfelds und seine Schriften im Feuer auf dem Opernplatz. Er selbst war rechtzeitig emigriert und starb 1935 in Nizza. ALEXANDER GALLUS
Rainer Herrn: "Der Liebe und dem Leid". Das Institut für Sexual- wissenschaft 1919-1933.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2022. 681 S., Abb., geb., 36,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Rainer Herrn gelingt es in hervorragender Weise, nicht nur ... breitere Kontexte auszuleuchten, sondern auch Hirschfelds Beitrag zur Sexualwissenschaft zu skizzieren.« Alexander Gallus Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220713