Im Widerstreit der Wünsche Ein Konflikt wird stillgelegt und erneuert sich: Marlene, eine der vier Hauptfiguren in Dieter Wellershoffs neuem Roman, hat einst ihren Mann Leonhard verlassen, um mit seinem besten Freund Paul, einem Chirurgen an ihrer Klinik, zusammenzuleben. Nicht ohne Mühe ist es ihnen gelungen, die Verletzungen und Kränkungen in einem schwierigen Freundschaftsbund vergessen zu machen. Die Balance zwischen ihnen wird scheinbar vollends wieder hergestellt, als Leonhard, ein angesehener Richter, eine viel jüngere Studentin im Hause seiner Freunde kennen lernt und bald darauf heiratet. Aber die Freundschaftsrituale scheitern. Der Liebeswunsch der jungen Frau, die ihrem als falsch empfundenen Leben entkommen möchte, sprengt alles auseinander, und sie zahlt dafür den äußersten Preis. Wellershoff beschreibt die subtile Dramatik des Geschehens aus den wechselnden Perspektiven seiner Figuren. Man sieht sie in ihren privaten und beruflichen Lebenswelten und blickt in die Intimität ihrer heimlichen Gedanken und Gefühle. Jeder versucht die anderen zu durchschauen und zu beeinflussen, während sich etwas vollzieht, das ihnen allen aus der Hand gleitet. Ein bewegender, meisterhaft gebauter Roman, beeindruckend vor allem durch die Darstellung der Menschen.
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Eine komplizierte Freundschaft
Der Liebeswunsch von Dieter Wellershoff ist eine Roman über große Erwartungen und noch größere Enttäuschungen, über unerfüllte Träume und eine komplizierte Freundschaft. Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei Ehepaare: der Richter Leonhard und seine 15 Jahre jüngere Frau Anja sowie das Arztehepaar Paul und Marlene. Ähnlich wie in Goethes Wahlverwandtschaften sind sie durch wechselnde Liebesbeziehungen untrennbar miteinander verbunden: Marlene war ursprünglich mit Leonhard liiert gewesen und verließ ihn, um seinen besten Freund Paul zu heiraten. Aus alter Anhänglichkeit und wohl auch von Schuldgefühlen getrieben, halten Paul und Marlene trotzdem Kontakt zu Leonhard, man trifft sich zu regelmäßigen Romméabenden und Restaurantbesuchen, die allerdings bald zu routinierten Ritualen erstarren. Als Leonhard Anja heiratet, atmen die beiden anderen erleichtert auf. Zwar geben sie dieser Ehe eigentlich keine Chance, doch scheint nun endlich das Gleichgewicht wiederhergestellt. Doch Anja enttäuscht die in sie gesetzten Erwartungen. Jung und labil, wie sie ist, kann sie den anderen und besonders ihrem Mann Leonhard nicht das Wasser reichen. Und Leonhard lässt keine Gelegenheit aus, seine gesellschaftliche und intellektuelle Überlegenheit herauszukehren. Auch der gemeinsame Sohn Daniel kann die Beziehung nicht retten. Anja beginnt ein Liebesverhältnis mit Paul. Doch die Affäre kommt ans Licht und das fragile Kartenhaus der Freundschaft droht entgültig zu zerbrechen.
Das Porträt einer verzweifelten Liebe
Wellershoff zeichnet in großartiger Weise das Bild einer jungen, unselbständigen Frau, deren naiver Wunsch nach der bedingungslosen Liebe von Vornherein zum Scheitern verurteilt ist. In Rückblenden entrollt sich die Geschichte, wobei der Autor abwechselnd in die Rolle des neutralen Beobachters schlüpft oder die Personen selber zu Wort kommen lässt. Bezeichnenderweise ist Leonhard der Einzige, der stumm bleibt - wie seiner Frau und seinen Freunden bleibt auch dem Leser verborgen, was ihn wirklich bewegt. Fasziniert und machtlos zugleich verfolgt der Leser den seelischen Abstieg Anjas, die sich ihres allmählichen Verfalls durchaus bewusst ist, ohne sich jedoch selber befreien zu können und in letzter Konsequenz den Freitod wählt. Ein großartiges Stück zeitgenössischer Literatur. (Dr. Erika Weigele-Ismael)
Der Liebeswunsch von Dieter Wellershoff ist eine Roman über große Erwartungen und noch größere Enttäuschungen, über unerfüllte Träume und eine komplizierte Freundschaft. Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei Ehepaare: der Richter Leonhard und seine 15 Jahre jüngere Frau Anja sowie das Arztehepaar Paul und Marlene. Ähnlich wie in Goethes Wahlverwandtschaften sind sie durch wechselnde Liebesbeziehungen untrennbar miteinander verbunden: Marlene war ursprünglich mit Leonhard liiert gewesen und verließ ihn, um seinen besten Freund Paul zu heiraten. Aus alter Anhänglichkeit und wohl auch von Schuldgefühlen getrieben, halten Paul und Marlene trotzdem Kontakt zu Leonhard, man trifft sich zu regelmäßigen Romméabenden und Restaurantbesuchen, die allerdings bald zu routinierten Ritualen erstarren. Als Leonhard Anja heiratet, atmen die beiden anderen erleichtert auf. Zwar geben sie dieser Ehe eigentlich keine Chance, doch scheint nun endlich das Gleichgewicht wiederhergestellt. Doch Anja enttäuscht die in sie gesetzten Erwartungen. Jung und labil, wie sie ist, kann sie den anderen und besonders ihrem Mann Leonhard nicht das Wasser reichen. Und Leonhard lässt keine Gelegenheit aus, seine gesellschaftliche und intellektuelle Überlegenheit herauszukehren. Auch der gemeinsame Sohn Daniel kann die Beziehung nicht retten. Anja beginnt ein Liebesverhältnis mit Paul. Doch die Affäre kommt ans Licht und das fragile Kartenhaus der Freundschaft droht entgültig zu zerbrechen.
Das Porträt einer verzweifelten Liebe
Wellershoff zeichnet in großartiger Weise das Bild einer jungen, unselbständigen Frau, deren naiver Wunsch nach der bedingungslosen Liebe von Vornherein zum Scheitern verurteilt ist. In Rückblenden entrollt sich die Geschichte, wobei der Autor abwechselnd in die Rolle des neutralen Beobachters schlüpft oder die Personen selber zu Wort kommen lässt. Bezeichnenderweise ist Leonhard der Einzige, der stumm bleibt - wie seiner Frau und seinen Freunden bleibt auch dem Leser verborgen, was ihn wirklich bewegt. Fasziniert und machtlos zugleich verfolgt der Leser den seelischen Abstieg Anjas, die sich ihres allmählichen Verfalls durchaus bewusst ist, ohne sich jedoch selber befreien zu können und in letzter Konsequenz den Freitod wählt. Ein großartiges Stück zeitgenössischer Literatur. (Dr. Erika Weigele-Ismael)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Fang nie was mit Bekanntschaft an
Qualverwandt: Dieter Wellershoffs Roman "Der Liebeswunsch" / Von Wolfgang Schneider
Dieter Wellershoff, Jahrgang 1925, hat die letzten Jahre keineswegs im schriftstellerischen Ruhestand verbracht. Er veröffentlichte Erzählungen, Essays zur Literatur und zur Zeitgeschichte, Frankfurter Poetikvorlesungen und Reiseberichte. Auf einen neuen Roman des Kölner Autors, der in schwierigen Zeiten die Fahne des Realismus hochgehalten hatte, wartete man nach "Der Sieger nimmt alles" (1983) jedoch vergeblich. Jetzt hat er sich zurückgemeldet. "Der Liebeswunsch" ist ein spannender Roman, den man bis zum Ende nicht mehr aus der Hand legen möchte. Das kann kein schlechtes Buch sein. Ist es ein gutes Buch?
Das Personal ist überschaubar: Marlene, Paul, Leonhard, Anja. Zwei Paare, die sich etwas prätentiös "Freundschaftsbund" nennen. Schön, wenn man eine nette Partnerin und einen besten Freund hat, aber was, wenn die beiden sich plötzlich lieben? Genau dieser Frage mußte sich eines Tages der Jurist Leonhard stellen, als sich seine Freundin Marlene, eine Ärztin, mit dem Chirurgen Paul zusammentat. Man verliert nicht gern auf einen Schlag die beiden wichtigsten Menschen. Also: Freundschaftsbund, auch wenn es in den Fugen knirscht. Die kultivierte Stillegung von Kränkung, Eifersucht und schlechtem Gewissen scheint sogar zu gelingen, als die Vierte im Bund auftaucht. Leonhard lernt die fünfzehn Jahre jüngere Anja bei den Freunden kennen und heiratet sie so schnell wie möglich, damit die Balance wieder stimmt. Aber damit fängt der Roman erst an.
"Wir waren ein menschliches Mobile - vier Figuren an unsichtbaren Fäden, umeinander kreisend und ständig in Gefahr, sich ineinander zu verhaken." Das literarische Muster der "Wahlverwandtschaften" schimmert durch. Auf der einen Seite Marlene und Leonhard, die meist Vernunft und Verläßlichkeit großschreiben, auf der anderen die Leidenschaftsmenschen Paul und Anja. Das klingt möglicherweise nach einer allzu schematischen Versuchsanordnung. Bei Goethe erübrigt sich ein solcher Vorwurf durch die Ironie, mit der das erotische Wechselspiel nach Anleitung des Chemiebaukastens in Gang gesetzt wird. Und bei Wellershoff? Man kann ihm viele Qualitäten bescheinigen, Ironie gehört nicht dazu.
Ist die Ehe von Anja und Leonhard mehr als eine Konstruktion? Sicher gibt es viele merkwürdige Paare, aber auch Merkwürdigkeit hat Grenzen. Leonhard, Vorsitzender Richter am Landgericht, erscheint zunächst als Karikatur eines Ordnungsfanatikers. Nichts ist ihm so zuwider wie der "moderne Selbstverwirklichungskult", er bewundert Institutionen, denn in ihnen sei die Weisheit der Jahrhunderte aufbewahrt. Situationen, für die es keine Regeln gibt, das Liebesleben an erster Stelle, machen ihm zu schaffen; dann sucht er Beruhigung bei Caesar-Lektüre. Ausgerechnet dieser Mann soll die "schwierige" Anja heiraten, die verbummelte Literaturstudentin ohne Berufsziel, eine verträumte, alkoholgefährdete junge Frau, die aus nichts als Empfindsamkeit besteht und immerzu in eine "innere Leere" gleitet?
Es gelingt der Erzählkunst Wellershoffs, diese unwahrscheinliche Ehe plausibel zu machen; alles weitere, der Weg in die Katastrophe, ergibt sich zwangsläufig. Zum einen setzt die attraktive Anja gerade durch ihr ungefestigtes Wesen bei soliden Herren erotische Retterphantasien frei. Zum anderen handelt es sich keineswegs um eine Liebesheirat, sondern eine aus Kalkül. Leonhard ist ein Mann, den die Frauen wegen seiner Intelligenz, Ernsthaftigkeit und Fürsorglichkeit schätzen, aber nicht lieben, und er weiß das. Nach der Enttäuschung mit Marlene sucht er eine unterlegene Frau, die er in seinem Sinn prägen kann. Anja scheint ihm ideal dafür; die Menschenkenntnis, die ihm im Richterberuf zur Verfügung steht, läßt ihn in eigener Sache im Stich. Für Anja ist Leonhard nicht der erotische Traum; aber das rettende Ufer muß nicht erotisch sein. Er ist die Gelegenheit, in solide Verhältnisse zu kommen, wozu vor allem Anjas Mutter mahnt, die den Juristen am liebsten selber heiraten würde.
Der Prinzipienreiter und die Gefühlvolle, der Mutterehrgeiz und die Hochzeitsreise nach Italien, wo Leonhard mit seiner Kunstbeflissenheit Anja anzuöden versteht: An "Effi Briest" soll gedacht werden. Anja ist nun in strukturierten Verhältnissen, aber wohler fühlt sie sich in der Ein-Kind-Ehe nicht. Die Unvereinbarkeit der Charaktere wächst sich zur offenen Feindseligkeit, die Alkoholgefährdung Schluck für Schluck zur Sucht aus. Schließlich zieht es auch Anja in die Arme des leidenschaftlichen Paul. Wieder ist Leonhard der Betrogene. Es gehört zu den Darstellungsleistungen des Buches, dieser Figur, die anfangs lächerlich wirkte, in der Enttäuschung eine beinahe tragische Größe zu verleihen; je mehr das Chaos um sich greift, desto überzeugender klingt sein konservatives Ordnungsdenken. Er trennt sich von Anja, Liebhaber Paul läßt sie im Stich; sie lebt eine Weile hin in Verstörung; stürzt sich dann von einem Hochhausbalkon. Dieser Selbstmord wird bereits im ersten Kapitel mitgeteilt; der vierhundertseitige Roman rollt die Vorgeschichte auf.
Wie schon in früheren Werken zeigt Wellershoff die Auflösung eines scheinbar stabilen Lebensgefüges durch Leidenschaft und einen dunklen Drang zur Selbstzerstörung. Ein besonderer Reiz dieses Buches besteht in der wechselnden Perspektivik: Jede der vier Hauptfiguren kommt mit ihrer Sicht der Dinge zu Wort. Zu den Höhepunkten gehören jene Szenen, die schildern, wie die Affäre von Paul und Anja in kürzester Zeit vom Glück ins Unglück kippt; eben noch der gemeinsame Rausch, gleich darauf befremdender "Liebeswahn", vor dem sich Paul nur noch in Sicherheit bringen will. Wellershoff ist ein Psychologe, der das Beziehungstheater nicht weniger scharf durchschaut als etwa Botho Strauß, allerdings mit mehr Wohlwollen im Blick.
Der Erzähler macht die Figuren durch erlebte Rede und den Monolog in ihren inneren Regungen jederzeit zugänglich; Unausgesprochenes bestimmt zwar das Geschehen, aber niemals den Erzählton. Dank der analytischen Kraft entfaltet das Kammerspiel einen eigentümlichen Sog, dem man sich auch bei einigen Vorbehalten gegen die Sprache nicht entziehen kann. Ein gutes Buch.
Dieter Wellershoff: "Der Liebeswunsch". Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 397 S., geb., 42,- DM.
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Qualverwandt: Dieter Wellershoffs Roman "Der Liebeswunsch" / Von Wolfgang Schneider
Dieter Wellershoff, Jahrgang 1925, hat die letzten Jahre keineswegs im schriftstellerischen Ruhestand verbracht. Er veröffentlichte Erzählungen, Essays zur Literatur und zur Zeitgeschichte, Frankfurter Poetikvorlesungen und Reiseberichte. Auf einen neuen Roman des Kölner Autors, der in schwierigen Zeiten die Fahne des Realismus hochgehalten hatte, wartete man nach "Der Sieger nimmt alles" (1983) jedoch vergeblich. Jetzt hat er sich zurückgemeldet. "Der Liebeswunsch" ist ein spannender Roman, den man bis zum Ende nicht mehr aus der Hand legen möchte. Das kann kein schlechtes Buch sein. Ist es ein gutes Buch?
Das Personal ist überschaubar: Marlene, Paul, Leonhard, Anja. Zwei Paare, die sich etwas prätentiös "Freundschaftsbund" nennen. Schön, wenn man eine nette Partnerin und einen besten Freund hat, aber was, wenn die beiden sich plötzlich lieben? Genau dieser Frage mußte sich eines Tages der Jurist Leonhard stellen, als sich seine Freundin Marlene, eine Ärztin, mit dem Chirurgen Paul zusammentat. Man verliert nicht gern auf einen Schlag die beiden wichtigsten Menschen. Also: Freundschaftsbund, auch wenn es in den Fugen knirscht. Die kultivierte Stillegung von Kränkung, Eifersucht und schlechtem Gewissen scheint sogar zu gelingen, als die Vierte im Bund auftaucht. Leonhard lernt die fünfzehn Jahre jüngere Anja bei den Freunden kennen und heiratet sie so schnell wie möglich, damit die Balance wieder stimmt. Aber damit fängt der Roman erst an.
"Wir waren ein menschliches Mobile - vier Figuren an unsichtbaren Fäden, umeinander kreisend und ständig in Gefahr, sich ineinander zu verhaken." Das literarische Muster der "Wahlverwandtschaften" schimmert durch. Auf der einen Seite Marlene und Leonhard, die meist Vernunft und Verläßlichkeit großschreiben, auf der anderen die Leidenschaftsmenschen Paul und Anja. Das klingt möglicherweise nach einer allzu schematischen Versuchsanordnung. Bei Goethe erübrigt sich ein solcher Vorwurf durch die Ironie, mit der das erotische Wechselspiel nach Anleitung des Chemiebaukastens in Gang gesetzt wird. Und bei Wellershoff? Man kann ihm viele Qualitäten bescheinigen, Ironie gehört nicht dazu.
Ist die Ehe von Anja und Leonhard mehr als eine Konstruktion? Sicher gibt es viele merkwürdige Paare, aber auch Merkwürdigkeit hat Grenzen. Leonhard, Vorsitzender Richter am Landgericht, erscheint zunächst als Karikatur eines Ordnungsfanatikers. Nichts ist ihm so zuwider wie der "moderne Selbstverwirklichungskult", er bewundert Institutionen, denn in ihnen sei die Weisheit der Jahrhunderte aufbewahrt. Situationen, für die es keine Regeln gibt, das Liebesleben an erster Stelle, machen ihm zu schaffen; dann sucht er Beruhigung bei Caesar-Lektüre. Ausgerechnet dieser Mann soll die "schwierige" Anja heiraten, die verbummelte Literaturstudentin ohne Berufsziel, eine verträumte, alkoholgefährdete junge Frau, die aus nichts als Empfindsamkeit besteht und immerzu in eine "innere Leere" gleitet?
Es gelingt der Erzählkunst Wellershoffs, diese unwahrscheinliche Ehe plausibel zu machen; alles weitere, der Weg in die Katastrophe, ergibt sich zwangsläufig. Zum einen setzt die attraktive Anja gerade durch ihr ungefestigtes Wesen bei soliden Herren erotische Retterphantasien frei. Zum anderen handelt es sich keineswegs um eine Liebesheirat, sondern eine aus Kalkül. Leonhard ist ein Mann, den die Frauen wegen seiner Intelligenz, Ernsthaftigkeit und Fürsorglichkeit schätzen, aber nicht lieben, und er weiß das. Nach der Enttäuschung mit Marlene sucht er eine unterlegene Frau, die er in seinem Sinn prägen kann. Anja scheint ihm ideal dafür; die Menschenkenntnis, die ihm im Richterberuf zur Verfügung steht, läßt ihn in eigener Sache im Stich. Für Anja ist Leonhard nicht der erotische Traum; aber das rettende Ufer muß nicht erotisch sein. Er ist die Gelegenheit, in solide Verhältnisse zu kommen, wozu vor allem Anjas Mutter mahnt, die den Juristen am liebsten selber heiraten würde.
Der Prinzipienreiter und die Gefühlvolle, der Mutterehrgeiz und die Hochzeitsreise nach Italien, wo Leonhard mit seiner Kunstbeflissenheit Anja anzuöden versteht: An "Effi Briest" soll gedacht werden. Anja ist nun in strukturierten Verhältnissen, aber wohler fühlt sie sich in der Ein-Kind-Ehe nicht. Die Unvereinbarkeit der Charaktere wächst sich zur offenen Feindseligkeit, die Alkoholgefährdung Schluck für Schluck zur Sucht aus. Schließlich zieht es auch Anja in die Arme des leidenschaftlichen Paul. Wieder ist Leonhard der Betrogene. Es gehört zu den Darstellungsleistungen des Buches, dieser Figur, die anfangs lächerlich wirkte, in der Enttäuschung eine beinahe tragische Größe zu verleihen; je mehr das Chaos um sich greift, desto überzeugender klingt sein konservatives Ordnungsdenken. Er trennt sich von Anja, Liebhaber Paul läßt sie im Stich; sie lebt eine Weile hin in Verstörung; stürzt sich dann von einem Hochhausbalkon. Dieser Selbstmord wird bereits im ersten Kapitel mitgeteilt; der vierhundertseitige Roman rollt die Vorgeschichte auf.
Wie schon in früheren Werken zeigt Wellershoff die Auflösung eines scheinbar stabilen Lebensgefüges durch Leidenschaft und einen dunklen Drang zur Selbstzerstörung. Ein besonderer Reiz dieses Buches besteht in der wechselnden Perspektivik: Jede der vier Hauptfiguren kommt mit ihrer Sicht der Dinge zu Wort. Zu den Höhepunkten gehören jene Szenen, die schildern, wie die Affäre von Paul und Anja in kürzester Zeit vom Glück ins Unglück kippt; eben noch der gemeinsame Rausch, gleich darauf befremdender "Liebeswahn", vor dem sich Paul nur noch in Sicherheit bringen will. Wellershoff ist ein Psychologe, der das Beziehungstheater nicht weniger scharf durchschaut als etwa Botho Strauß, allerdings mit mehr Wohlwollen im Blick.
Der Erzähler macht die Figuren durch erlebte Rede und den Monolog in ihren inneren Regungen jederzeit zugänglich; Unausgesprochenes bestimmt zwar das Geschehen, aber niemals den Erzählton. Dank der analytischen Kraft entfaltet das Kammerspiel einen eigentümlichen Sog, dem man sich auch bei einigen Vorbehalten gegen die Sprache nicht entziehen kann. Ein gutes Buch.
Dieter Wellershoff: "Der Liebeswunsch". Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000. 397 S., geb., 42,- DM.
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"Dieser Wellershoff zeigt, dass der Roman immer noch für die großen Gefühle taugt und Mitgefühl mobilisieren kann. Sein erzählerisches Meisterstück." Volker Hage, Der Spiegel