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"Oskar Roehler macht seine persönliche Tragödie zu einem Lehrstück über die frühe Bundesrepublik." Die Welt Der Mangel erzählt vom Aufwachsen und Großwerden einer Gruppe von Kindern in den Sechzigern, von den Anstrengungen der Väter, Wohlstand, zumindest die Illusion davon, auch für ihre Familien zu schaffen. Von den Rückschlägen, die sie erleiden. Von den Sorgen und Existenzängsten der Mütter, die sie vor ihrer Zeit altern lassen. Vor allem aber er erzählt er in Anlehnung an die Kindheit des Autors von dem fundamentalen Wandel der bundesrepublikanischen Gesellschaft in der…mehr

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Produktbeschreibung
"Oskar Roehler macht seine persönliche Tragödie zu einem Lehrstück über die frühe Bundesrepublik." Die Welt Der Mangel erzählt vom Aufwachsen und Großwerden einer Gruppe von Kindern in den Sechzigern, von den Anstrengungen der Väter, Wohlstand, zumindest die Illusion davon, auch für ihre Familien zu schaffen. Von den Rückschlägen, die sie erleiden. Von den Sorgen und Existenzängsten der Mütter, die sie vor ihrer Zeit altern lassen. Vor allem aber er erzählt er in Anlehnung an die Kindheit des Autors von dem fundamentalen Wandel der bundesrepublikanischen Gesellschaft in der Wirtschaftswunderzeit. Vom Übergang einer Mangelgesellschaft, in der es von allem zu wenig gab, in eine Konsumgesellschaft, die den Menschen ihre Würde raubt. Und er entwirft zugleich ein Gegenbild dazu, einen Ausweg sowohl aus dem Mangel wie aus dem Überfluss: die Kunst. So ist Der Mangel auch der persönliche Bildungsroman Roehlers, in dessen Zentrum seine Erfahrung mit der Kunst steht, deren Entdeckung in jungen Jahren sein Rettungsanker für das Überleben geworden ist.

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Autorenporträt
Oskar Roehler, geboren 1959, ist Schriftsteller und Regisseur. Seine Romane erscheinen seit 2011 bei Ullstein. Oskar Roehler ist verheiratet und lebt in Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2020

Ode an die Verwilderung
Plötzlich empfindsam: Oskar Roehler schreibt mit "Der Mangel" weiter an seiner Biographie des Widerstands

Moralisch ist das eine Zwickmühle: Darf man es insgeheim begrüßen, dass der Regisseur und Schriftsteller Oskar Roehler eine unglückliche Kindheit hatte? Andernfalls müssten wir auf eine ganze Reihe glorios-wütender, eloquent dramatischer Abrechnungen verzichten. Ob zur Weltverachtung geweitet wie in der donnernden Abrechnung mit der Filmbranche ("Selbstverfickung") oder beinahe direkt autobiographisch wie im Mutter-Film "Die Unberührbare" oder im radikalen Roman "Herkunft": Mit dem zu Lasten der Kinder gehenden Versagen des Familienmodells in der Epoche des Individualismus hat Roehler sein Lebensthema gefunden.

Noch keine seiner Annäherungen ans eigene Trauma aber war von solcher Zärtlichkeit und Sprachgewalt wie die Erzählung "Der Mangel". Was diesen Sehnsuchtstext von geradezu klassischer Weltabgewandtheit zu großer Literatur macht, ist das Raffinement, mit dem er sich zugleich als Tiefenbohrung in die Mentalitätsgeschichte der frühen Bundesrepublik erweist. In der Zeitgeschichtsanalyse war Roehler immer schon am stärksten.

Der Sohn der Autorin Gisela Elsner und des Lektors Klaus Roehler hat aus seiner Enttäuschung über die eigenen Eltern - als Künstler egozentrisch, als Paar unglücklich, als Eltern lieblos - nie einen Hehl gemacht. Die bis zu ihrem Suizid im Jahr 1992 gegen die eigene bürgerliche Herkunft rebellierende Mutter hatte die Familie früh verlassen. Der vierjährige Oskar verbrachte einige Jahre bei den reichen Großeltern, wo sich das anfängliche Glück, so liest man in "Herkunft", schnell eintrübte. Dass man über die Jahre des Erwachens auch anders, freier schreiben kann, zeigt das neue Buch, das die Ichwerdung des Protagonisten zwischen kindlichen Abenteuern, Erweckungserlebnissen und Verweigerungshaltung verortet.

"Der Mangel" ist gerade deshalb ein scharfsichtiger Bildungsroman, weil er sich weit ins Fiktive vorwagt und die drohende Nostalgie gekonnt durch psychologisch-soziologisch treffende Miniaturen ersetzt. Vor dem Panorama einer Umland-Neubausiedlung imaginiert sich der Erzähler in eine Art familiäre Notgemeinschaft hinein, die Nähe nur in homöopathischen Dosen zulässt, dafür den Kindern aber unbezahlbare Freiheiten erlaubt.

Das leicht zwielichtige, freilich auch heimelige Projekt der Kommune auf der Hut - "Hut" heißt das in den Wald gerodete Bauland - zeichnet eine eigentümliche Bescheidenheit aus: Die wortkargen Siedler fügen sich arbeitsam in ihr engbegrenztes Dasein. Umstellt und bedroht zeigt sich die Siedlung von schattenhaften, hämischen, nach Scholle und Mist riechenden Bauern, die sich insbesondere daran zu stören scheinen, dass unter den Neuen viele Zuwanderer aus Ostpreußen sind, "keine echten, richtigen Deutschen". Es ist nicht Roehlers eigene Geschichte, denn statt der vor der Verantwortung fliehenden Künstler-Eltern haben wir es mit einer identitätserschütterten bundesrepublikanischen Kleinfamilie und ihrem Traum vom Eigenheim zu tun. Der Vater im Buch, ein Akademiker zwar, aber einer, der sich arrangiert hat mit der Intellektuellenfeindlichkeit im Land, ergreift einen Wirtschaftswunder-Beruf und wird Handelsvertreter. Wenn er an den Wochenenden nach Hause kommt, umweht ihn der Glanz der weiten Welt, aber den vergällt ihm seine oft gereizte Ehefrau, die nur hin und wieder, den Vater angurrend, "das Maximum ihrer noch vorhandenen Östrogene in Aufruhr" versetzt. Der Normalfall in dieser Ehe ist der Streit.

Die von Glückssuchern besiedelte, bautechnisch ein ewiges Provisorium bleibende Lichtung über dem Dorf - eine kahle Stelle im Wald, "als wäre die Schädeldecke durchsichtig und wir könnten in das Gehirn der Landschaft hineinsehen" - hat etwas Traumartiges und Unwirkliches. Es ist ein subjektiver Erinnerungsraum, eine rein mental gerodete Stelle inmitten der späten und gar nicht nur spießigen Adenauer-Jahre, in denen noch alles offen schien: Volksgemeinschaft alten Schlages oder moderner Kapitalismus, der den "Vätern" hier höchst suspekt anmutet. Ins Individuelle gewendet waren drei Entwicklungslinien möglich: Absturz, Kollaboration mit dem System oder radikale Künstlerkarriere. Der Protagonist, Ehrensache, zielt auf Letzteres.

Wie es dazu kommt, erzählt der zweite Teil dieser Ersatzautobiographie. Es zeigt sich, dass die fast schon aspergerhafte Neigung des Protagonisten zu verlässlichen Routinen lediglich ein Reflex auf den allgegenwärtigen Mangel war und die Empfänglichkeit für jede Geistesfülle nur gesteigert hat. Hier setzt das romantische Programm der Menschenbildung an, dem sich die Erzählung in ihrem Bedürfnis nach Errettung rückhaltlos ausliefert. Der Weg führt über die Verwilderung ("Wir waren zu Tiermenschen geworden"), die Abkehr von allen Vorgaben. Einige der Siedlungskinder nämlich entdecken beim obsessiven Ausheben einer Grube eine noch ziellose, aber heroische Tatkraft in sich, die allerdings der Formung bedarf. So wichtig wird dabei eine Lehrerfigur, dass man das gesamte Buch als Eloge auf diesen intellektuellen Partisanen-Mentor lesen kann, einen Fanatiker der "Herzensbildung", der den Ausgehungerten zunächst die Weltliteratur nahebringt: "Oft las er Gedichte vor, die ihn emotional so mitrissen, dass seine Stimme brüchig wurde und er gegen die Tränen ankämpfen musste."

An der auf Subordination ausgerichteten Dorfschule vorbei bringt Lehrmeister Behrend seinen Schützlingen nahe, dass Kunst jeden Verzicht rechtfertigt, schließlich sei alles Große "trotz Krankheit, Fremdheit, Exil" entstanden. Aus dem Mangel wird ein Motor. Konsequent wandelt sich das Buch damit von heideggernder Stiefelei im Lehm der Herkunft zum existentiellen Künstlerroman. Dem Protagonisten nämlich bleibt nach einem gewaltigen Betrug, der ihn vollends aus der Bahn wirft, nur dieser eine - und nun also doch wieder der Roehler'sche - Weg: alles Erlebte und Befürchtete in echte Kunst umzumünzen. Zwischen Schreibrausch und Selbstzweifeln treibt ihn dieser Anspruch beinahe in den Wahnsinn.

Der Horror Vacui des vierundzwanzigjährigen Protagonisten vor "dem weißen Blatt Papier" ist chronologisch gesehen das Schlusstableau, und es ist nach dieser Abblende wohl an den Lesern zu entscheiden, ob die nun schon über Jahre kreisenden Suchbewegungen des Autors Roehler nur "dröhnende Leere" oder doch einen "Fußabdruck" am Berghang der wahren Kunst hinterlassen haben. Spätestens mit diesem magisch-poetischen, biographisch verspielten und virtuos ins Unterbewusstsein der deutschen Kulturnation abtauchenden Bravourstück an Selbstelevationsprosa ist Oskar Roehler dieser Überstieg gelungen, weil die zuvor zu so genialischen wie maßlosen Eruptionen geführt habende Wut hier die ihr würdige Formung erfahren hat.

OLIVER JUNGEN

Oskar Roehler: "Der Mangel". Roman.

Ullstein Verlag, Berlin 2020. 170 S., geb., 23,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.08.2020

Für immer Nachkriegszeit
In Familienromanen von Valerie Fritsch und Oskar Roehler gehen Erinnerung und Verdrängung in die dritte und vierte Generation
Immer, wenn man denkt, jetzt muss die Nachkriegszeit doch mal vorbei sein, drückt sie sich wieder in die Gegenwart. In den ersten Wochen der Pandemie zum Beispiel, als die Vorratshaltung sonst sehr heutiger Mitbürger zur Sprache kam: Immer Konserven für sechs Wochen im Haus, Regale voll eingewecktem Gemüse und kanisterweise Trinkwasser. Ernsthaft? In Zeiten von 24-Stunden-Lieferdiensten und Gewerbegebieten voller Supermärkte? Aber manche Gewohnheiten sind eben unverändert von früher übrig geblieben.
Es wirkt, als hätten das Sicherheitsbedürfnis und die familiären Schweigeabkommen nach dem Krieg und der Vernichtung von sechs Millionen Juden so etwas wie eine eigene Zeitdimension ausgebildet. Und als bestünde diese andere Zeit neben der disruptiv in die Zukunft torkelnden Gegenwart fort wie verkapselt – die Nachkriegszeit als Paralleluniversum. Die Grazer Schriftstellerin Valerie Fritsch hat so etwas in ihrem Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson“ beschrieben, in dem sie von der Stimmung bei den Großeltern ihrer Hauptfigur erzählt: „Es war ein Haus wie ein Einmachglas, das noch die entferntesten Jahre haltbar gemacht hatte. Ein Behälter für den alten Schmerz.“
Fritsch ist 1989 geboren, und ihr Roman handelt eigentlich nicht vom Erbe am Trauma des Krieges an sich. Sondern von der abstrakteren Form, die die Erinnerung daran über die Generationen hinweg angenommen hat, von einer merkwürdig entrückten Stimmung, in der die Enkelin aufwächst. Sie „sah hinaus in die graue, kleine Welt“, schreibt Fritsch, „und wartete, dass die Zukunft die Gegenwart einholen, es endlich Jetzt werden würde, Jetzt Jetzt Jetzt.“ Aber die Zeit geht nicht weiter.
„Das Leben setzte zu einer seiner endlosen Wiederholungen an“, schreibt auch Oskar Roehler in seinem Roman „Der Mangel“. Darin gibt es einen Jungen, der manisch an kleinsten Routinen festhält: „Es konnte mir zum Beispiel nie passieren, dass ich zur Unzeit abends nach Hause kam und die geliebte Schattenlinie verfehlte, die das Haus gegen die zunehmende Dämmerung warf.“ Die Lichtstimmung eines Augenblicks darf nicht vergehen. Der Erzähler ist da zwischen vier und sechs Jahre alt, die Geschichte spielt Anfang der 1960er-Jahre in Deutschland. Roehler ist 1959 geboren. Am Abstand vom Kriegsende gemessen ist er eine signifikante Generation näher dran als Valerie Fritsch. Aber beide wenden sie noch im Jahr 2020 alle poetischen Mittel auf, um die Starre der ewigen Nachkriegszeit fühlen zu lassen.
Valerie Fritsch schreibt zwar eine Art biografische Skizze ihrer Hauptfigur Alma, aber in deren Leben scheint nichts zu vergehen. Noch in flüchtigsten Momenten schwingt durch das epische Präteritum ein „immer wieder“ mit, als beschreibe sie an- und abschwellende Zustände, die anhalten wie Orgeltöne: „Der Kühlschrank heulte wie ein Ungeheuer, die Weinflaschen klirrten, wann immer man seine Tür zuschlug, auf der eine Postkarte hing, die Dorothy Parker zitierte“, heißt es, oder: „Abends saßen sie einander gegenüber in Bars, tranken Wein aus Wassergläsern, und Alma streckte die Hände aus nach seinen Rauchringen, als wollte sie sich diese um den Arm legen wie Reifen.“ Der Anfang einer Liebe, nicht als atemlose Folge von Verabredungen, sondern als statische Szene.
In Oskar Roehlers Werk ist es eher die zyklische Wiederkehr, die den Eindruck immerwährender Dauer vermittelt. Die Familiengeschichte seiner Eltern, der Schriftsteller Gisela Elsner und Klaus Roehler, und wiederum von deren Eltern schreibt er in seinen Büchern und Filmen mit faszinierender Beharrlichkeit um und um. Den Ort, an dem „Der Mangel“ spielt, hat er in dem autobiografischen Roman „Herkunft“ (2011) schon beschrieben: eine Neubausiedlung auf einer Anhöhe in der fränkischen Provinz. Jetzt wiederholt er diese Geografie als Mythos. Die Straße, an der sich sudetendeutsche und schlesische Vertriebene angesiedelt haben, steigt da so steil und eisig auf, dass die Familien kaum ihre Einkäufe hinauftragen können. Was sie in einem „Gefühl von Ohnmacht und Empörung“ leben lässt. Von oben aber stürzen sich Kinder ekstatisch mit ihren Schlitten von der „Hut“: „Nackt und kahl, wie eine Schädeldecke“ sei der Berg, und durch Schnee und Eis könne man „in das Gehirn der Landschaft hineinsehen“.
Die Figuren des Romans treten jeweils im Plural auf. Roehler erzählt über weite Strecken in Wir-Form. Dieses Wir hat amorphe Konturen, eine Kinderbande, mehrere Familien, die Provinz, die junge Republik als Ganzes könnten darin zu hören sein. Oder doch nur kindlicher Größenwahn. Und auch andere Figuren gibt es nur als Kollektivpersona, besonders „die Väter“: „Unsere Väter rauchten Pall Mall oder Rothändle ohne Filter“, steht da, und: „Sie hatten, wie gesagt, akademische Berufe gehabt, die sie nicht mehr ausüben konnten. Die Ungerechtigkeit nagte an ihren Knochen.“ Im Wirtschaftswunderland habe man ihr Wissen nicht gewollt: „Man ließ sie hart arbeiten. Sie waren keine echten, richtigen Deutschen.“
Da sammelt sich ein chorisches Außenseitermotiv an, das sich im „Wir“ der Söhne zu einer enorm irritierenden Opfer-Identifikation aufschwingt. „Wir sehen aus, als hätte man uns zusammengetrieben“, heißt es an einer Stelle: „Nach und nach hatten wir uns auf diesem Appellplatz müde und mürrisch eingefunden.“ Und man möchte nicht glauben, dass da ein erster Schultag bayerischer Kinder im September 1966 beschrieben wird, so sehr geschieht es in Worten, die aus den Erinnerungen von KZ-Überlebenden zu kommen scheinen. So etwas unterläuft Oskar Roehler natürlich nicht einfach so, er ahmt die Verblendung des deutschen Selbstbilds nach der bedingungslosen Kapitulation nach. Ein Kapitel lang schildert er, wie die Dorfkinder in einer leeren Baugrube buddeln, um eine ziemlich anstößige Umschrift von Paul Celans „Todesfuge“ unterzubringen: „Der warme Schlamm am Abend, der kühle Schlamm am Morgen. Wir schaufelten und schaufelten.“ Hier sprechen aber nicht die Überlebenden des Holocaust, sondern Nachgeborene und, wer weiß, vielleicht Täterenkel. Sie eignen sich, würde man heute sagen, Leid an.
In ihre Reden mischt sich gleichzeitig die Sprache des Dritten Reiches, Begriffe wie „Rotte“, „Fanatismus“, „harte, entbehrungsreiche Arbeit“ kommen vor, wirken in einem Text von heute krass und auffällig. „Als Kind saß sie unter dem Tisch und hörte zu“, heißt es über solches übrig gebliebenes Vokabular bei Valerie Fritsch, „sammelte Begriffe ein, Gewehr und Bombe und Soldat und Frieden, und führte in Gedanken ein kleines Wörterbuch der entrückten Vergangenheit, in dem sie manchmal nachschlug, wenn sie die Gegenwart nicht gut genug verstand.“
Bei Roehler liegt das Erbe des Krieges und der Ideologie der Mörder in der geradezu ekelerregenden Vermischung der Semantiken unsortiert da. Das in diese mentale Lage hineingeborene „Wir“, das sind die Kinder der Sechzigerjahre, die „ab der Milleniumswende“ besinnungslose Konsumisten werden und in einer kleinen Minderheit (wie der zum „Ich“ herangereifte Erzähler) unglückliche Künstler. In Fritschs Erzählung ist die Erbfolge schon zwei Generationen weiter und wirkt stärker durchgearbeitet. Die Großeltern ihres Romans, womöglich ein paar Jahre älter als Roehlers „Väter“, schweigen, die Enkelin nimmt ihre Stimmungen hypernervös in sich auf; und ihr Kind wiederum, das ist die Pointe des Romans, kann keinen Schmerz fühlen. Eine körperliche Störung, die ziemlich lebensgefährlich ist und den Jungen narbenübersät heranwachsen lässt. Eine fast überdeutliche Metapher für die Verdrängung in der Familie.
Über den Großvater heißt es, an seinem Körper sei „keine Narbe eines Schusses oder tiefen Schnittes“ zu sehen gewesen, „aber sie wusste schon, dass es kein äußeres Merkmal für Schuld gab, kein Kennzeichen, das die Biographie auf den ersten Blick freigab“. Dass er im Krieg an Verbrechen beteiligt war, erfährt die Enkelin. Aber erst nach seinem Tod reist sie mit ihrem Mann und dem schmerzlosen Sohn nach Sibirien, wo der Großvater in Kriegsgefangenschaft war, um endlich ein Gefühl mit ihm zu verbinden. Eine Reise, in der der kurze Roman elegisch ausläuft.
Auf den letzten Seiten von Roehlers Roman tritt an die Stelle der mythisch schicksalsgebeugten „Väter“ ein anderer. Wie ein Schock wirkt es, dass es da plötzlich einen „eigenen, leiblichen Vater“ gibt. Zugleich wird eine weitere Vaterfigur, die als bewunderter Mentor das kollektive „Wir“ wie einen kindlichen fränkischen George-Kreis um sich geschart hatte, schlagartig entzaubert: „obwohl er sich später einen vergnüglichen, humanistischen, Rudolf Steiner’schen Anstrich gab, blieb er im Kern ein Faschist“. Darin sei er dem 1928 geborenen leiblichen Vater ähnlich.
Man erkennt in diesem eigenartig hastigen Schluss eine Episode aus Roehlers Lebensgeschichte wieder, die er schon in diversen Versionen erzählt hat: Wie sein Vater Klaus Roehler ihn aus einem Kinderparadies in der Provinz hinein in eine prekäre Berliner Künstlerexistenz geholt hat. Jetzt erzählt er das noch einmal und ohne ein Zeichen von Versöhnlichkeit. Der Schock der Herkunft, scheint es, vergeht nicht. Er hat keine Zeit.
MARIE SCHMIDT
Valerie Fritsch:
Herzklappen von
Johnson & Johnson.
Roman. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2020.
174 Seiten, 22 Euro.
Oskar Roehler:
Der Mangel. Roman.
Ullstein, Berlin 2020.
169 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Marie Schmidt liest zwei Familienromane, die ihr zeigen, wie wenig selbst die Nachkriegszeit vergehen will. Bei Oskar Roehler trifft sie das Unverarbeitete mit voller Wucht. Roehler schreibt ein weiteres Mal an seiner Familiengeschichte, mit der Mutter Gisela Elsner und dem Vater Klaus Roehler. Der Schock der Herkunft sei hier noch voll und ganz spürbar, meint Schmidt. Was sie allerdings enorm irritiert ist das chorische Wir, zu dem Roehler immer wieder anhebt: Meint er damit seine Kinderbande, die fränkische Provinz, die junge Bundesrepublik? Wer sind die Väter? Noch seltsamer, geradezu "ekelerregend" nennt Schmidt eine "Vermischung der Semantiken", wenn Roehler die Opferhaltung der Deutschen nachahmt und sich dabei die Sprache von Holocaust-Überlebenden aneignet. Dann schreibe er von Kindern, die am ersten Schultag auf dem Appellplatz antreten müssen und anschließend in der Diktion von Paul Celans Todesfuge im Schlamm buddeln: "Wir schaufeltenn und schaufelten."

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