London 1988. Der junge Historiker Saul Adler wird auf der Abbey Road angefahren. Nur leicht verletzt steht er auf und posiert für seine Freundin Jennifer Moreau auf dem Zebrastreifen, berühmt geworden durch das Beatles-Album. Das Foto nimmt er mit nach Ostberlin, wo er über den frühen Widerstand gegen den Nationalsozialismus forschen will. Dort begegnet Saul dem Übersetzer Walter Müller und dessen Schwester Luna, deren größter Wunsch es ist, endlich die Penny Lane in Liverpool zu sehen. Mit beiden beginnt Saul eine Affäre – und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Die Geschichte holt Saul ein, seine eigene und die Europas. Zeit und Raum lösen sich auf, Wahrheiten stehen auf schwankendem Grund, und keiner sieht, was der andere sieht. Bis Saul dreißig Jahre später wieder auf der Abbey Road steht – und allmählich begreift, was er, der so vieles zu sehen meinte, nicht erkannt hat, und was die anderen in ihm gesehen haben. Ein Roman darüber, wie wir unsere eigene und die kollektive Geschichte (zurecht)erzählen und wie wenig wir uns selbst über den Weg trauen können, im Leben und in der Liebe.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Ulrich Rüdenauer rät zur Lektüre von Deborah Levys Roman - aber lieber im englischen Original, denn die Übersetzung scheint ihm die vielen schönen Doppeldeutigkeiten im Text einzuebnen und allzu "prätentiös" zu sein. Dabei bietet das Buch doch Verwirrung genug, sollte man meinen. Rüdenauer jedenfalls hat alle Mühe, die Erlebnisse der Hauptfigur, die er für eine gespaltene Persönlichkeit hält, und die munter durch die Zeit springende Geschichte, in der die Abbey Road, die Stasi, der Brexit ihre Rolle spielen, unter einen Hut zu kriegen. Für den Rezensenten dennoch ein höchst reizvolles Puzzle, das die Autorin einmal mehr als gewitzte Erbin der literarischen Moderne ausweist.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.01.2021Der fragmentierte Zeitreisende
Mit dem surrealistischen Roman „Der Mann, der alles sah“
war Deborah Levy zum dritten Mal in Folge für den Booker Prize nominiert
VON ULRICH RÜDENAUER
Wer nicht aufpasst, wird vom wilden Lauf der Geschichte böse erfasst. Oder von einem Auto überrollt. Es ist das Jahr 1988. Der junge Historiker Saul Adler in Deborah Levys jüngstem Roman „Der Mann, der alles sah“ ist gerade im Begriff, den einschlägig bekannten Zebrastreifen auf der Londoner Abbey Road zu überqueren, als ihn ein Wagen streift. Der Außenspiegel zersplittert. Bei der Britin Deborah Levy splittern gerne Dinge, in denen man sich spiegelt, was – so ließe es sich plump hermeneutisch deuten – die Zerrissenheit ihres Personals illustriert.
Saul weicht gerade noch zurück, stürzt, der Fahrer steigt aus, stellt sich als Wolfgang vor und redet auf Saul ein, während er auf ein rechteckiges „Ding“ in seiner Hand schaut. „Das Ding sprach. Es gab definitiv eine Stimme im Inneren, die Stimme eines Mannes, und er sagte etwas Zorniges und Beleidigendes. Wir gaben beide vor, seine Worte nicht zu hören.“
Etwas Rechteckiges, das spricht? 1988? In der Steinzeit des Mobiltelefons? Wir sind irritiert, und werden es auf den nächsten Seiten noch einige Male sein. Denn irgendetwas ist hier schief, irgendetwas scheint aus den Fugen, entweder die Zeit oder die ganze Geschichte (und damit ist nicht nur die Handlung des Romans gemeint, sondern mehr noch das große Ganze, der Weltlauf). Gelegentlich weist die vom Theater kommende Deborah Levy darauf hin, dass ihre Literatur den literarischen Verfahren der Moderne verpflichtet und vom Film geprägt ist – gerade die in tausend Details zerborstenen Alptraumwelten von David Lynch haben es ihr angetan.
Saul jedenfalls überlebt den Unfall einigermaßen unversehrt. Und er lässt sich von seiner Künstler-Freundin Jennifer in John-Lennon-Pose fotografieren, wie es die Beatles-Jünger seit Erscheinen des Albums „Abbey Road“ zu Hunderttausenden an diesem popmythischen Ort zu tun pflegen. Das Foto will er der Schwester seines Gastgebers in Ostberlin mitbringen, wohin er am nächsten Tag aufbrechen wird, um seine Forschungen über das kommunistische Osteuropa unter realsozialistischen Gegebenheiten fortzusetzen.
Saul ist nicht nur ein aufstrebender Wissenschaftler, sondern auch Sohn eines dem Kommunismus treu ergebenen Bauarbeiters, und das eine hat psychologisch mit dem anderen zu tun. Der Vater hält nicht viel von seinem Filius, der statt eine richtige nur die Bildungsleiter hinaufklettert und den er gerne mal als „Tunte“ bezeichnet. Der Tag endet in Jennifers WG: mit Abschiedssex, einem Heiratsantrag und einer Ernüchterung. Jennifer gibt dem perplexen Saul den Laufpass. „Abgesehen von allem anderen“, sagt sie, „hast du mich nicht ein einziges Mal nach meiner Kunst gefragt.“
Das hätte er mal tun sollen: Das Objekt ihrer Bilder nämlich ist der adrette Saul selbst, und wie wir später herausfinden werden, trägt ihre geplante Ausstellung den Titel „Der fragmentierte Mann“. Wieder so ein Hinweis, dass Saul, der vermeintlich alles sieht, eine eher gespaltene Persönlichkeit ist.
Bei seinem Forschungsaufenthalt in Ostberlin jedenfalls geht es kurios weiter: Saul verliebt sich in seinen Übersetzer Walter, beginnt eine Affäre mit dessen Schwester, fühlt sich von der Stasi observiert – einmal fällt ein Spiegel von der Wand, unter der Tapete sucht er nach Wanzen. Immerzu scheinen sich alle zu belauern, und auch in Berlin stimmt etwas nicht mit den Zeitebenen der Geschichte und mit Saul. Wie ein Liebhaber flüstert er Walter ein Geheimnis ins Ohr: „Deutschland Ost und West werden eins sein. Es wird eine Revolution geben. Mit Ausnahme von Rumänien wird auf den Straßen kein Blut vergossen werden.“
Wir können diesem Ich-Erzähler schwerlich trauen: Entweder ist er ein Prophet oder einer, der blauäugig durch sein Leben stolpert. Zunehmend hat man den Eindruck, Deborah Levy würde uns den Realitätssinn mit leichtfertigen Scherzen austreiben wollen. Tut sie natürlich nicht, denn es gibt einen zweiten Roman-Teil, der wiederum in der Abbey Road seinen Ausgang nimmt. Ein Zeitsprung von 28 Jahren: Im Juni 2016, als Großbritannien per Volksentscheid der EU Goodbye sagt, versucht Saul wiederum den notorischen Zebrastreifen zu überqueren.
Diesmal weniger erfolgreich: Er liegt nun schwer verletzt im Krankenhaus, mal mehr, mal weniger bei Bewusstsein. Saul deliriert und träumt, sieht in einem Moment alles verschwommen, im anderen wieder messerscharf. Der behandelnde Arzt kommt in Gestalt eines Stasi-Spitzels daher. Der Vater – im ersten Teil schon im Jenseits – ist quicklebendig. Jennifer hat inzwischen Karriere gemacht und ist doch noch immer die 23-jährige Kunststudentin, die sich Ylang-Ylang-Öl ins Haar kämmt. Die Mauer in Ostberlin steht weiterhin, während die Briten im Begriff sind, eine neue hochzuziehen. Die Geschichte – global und persönlich betrachtet – ist kein Nach-, sondern ein Durcheinander. Eine Farce. In Saul tanzen die Verhältnisse Pogo.
Um uns Leser ebenfalls aus dem Gleichgewicht zu bringen, arbeitet Deborah Levy mit Zeitbrüchen, Rissen und Überblendungen. Saul driftet zwischen verschiedenen Orten und Phasen seines Lebens hin und her; die Gespenster der Vergangenheit und Gegenwart, von Marx und Engels, Jennifer und Walter, spuken in diesem Londoner Krankenhauszimmer, als wäre Halloween. Dabei wird immer deutlicher, was dieser Mann, der alles sah, eigentlich übersieht: Von der Liebe versteht er ebenso wenig wie von den historischen Zusammenhängen, über die er forscht. Die Blicke, die sich auf ihn richten, weiß er nicht recht zu deuten. Das gilt für die Überwachungsmechanismen in der DDR ebenso wie für Jennifers fotografische Dekonstruktionen. Bei Levy verrutschen die Abbildverhältnisse, sie bekommen einen Knacks, es gibt keine Übereinstimmung mehr zwischen Beobachtung und Erkenntnis. Die Geschichte wird zu einem unlösbaren Puzzlespiel. Oder zur unheimlichen Geisterjagd. Willkommen in der Gegenwart.
„Der Mann, der alles sieht“ ist also ziemlich ambitioniert, raffiniert konstruiert, verwirrend hellsichtig – und es ist Levys dritter Roman in Folge, der ihr eine Booker-Prize-Nominierung einbrachte. Schade ist nur, dass man bei der deutschen Übersetzung an vielen Stellen das Gefühl hat, eine, tja, Übersetzung zu lesen. Schon auf den ersten zehn Seiten holpert und knirscht es gehörig. Wenn es im Englischen heißt „There were two cars waiting but she held up her hand to keep them there“ wird daraus im Deutschen: „Zwei Autos warteten, doch sie hob die Hand, um sie dort zu halten …“ Aus „I always bleed a lot, it’s nothing“ macht die Übertragung ein schwerfälliges „Ich blute immer stark, es hat nichts zu bedeuten“. Locker hingeworfene Dialoge hören sich prätentiös an, es gibt unnötige Wortwiederholungen; die Übersetzung bleibt klebrig nah am Original. So verschwinden zuweilen auch Doppeldeutigkeiten, die Levy geschickt streut. All das sollte einen jedoch nicht davon abhalten, diesen klugen, subtil verstörenden Roman zu lesen – am besten mit dem englischen Original in Reichweite.
Deborah Levy: Der Mann, der alles sah. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. Kampa Verlag, Zürich 2020. 288 Seiten, 23 Euro.
Seine Freundin verlässt ihn, weil
er sie nicht ein einziges Mal
nach ihrer Kunst gefragt hat
Die Geschichte ist ambitioniert,
raffiniert konstruiert
und verwirrend hellsichtig
Hier nimmt alles seinen Anfang: der Zebrastreifen in der Abbey Road. Natürlich lässt sich auch Levys Protagonist Saul hier in John-Lennon-Pose fotografieren.
Foto: leon neal/Getty
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Mit dem surrealistischen Roman „Der Mann, der alles sah“
war Deborah Levy zum dritten Mal in Folge für den Booker Prize nominiert
VON ULRICH RÜDENAUER
Wer nicht aufpasst, wird vom wilden Lauf der Geschichte böse erfasst. Oder von einem Auto überrollt. Es ist das Jahr 1988. Der junge Historiker Saul Adler in Deborah Levys jüngstem Roman „Der Mann, der alles sah“ ist gerade im Begriff, den einschlägig bekannten Zebrastreifen auf der Londoner Abbey Road zu überqueren, als ihn ein Wagen streift. Der Außenspiegel zersplittert. Bei der Britin Deborah Levy splittern gerne Dinge, in denen man sich spiegelt, was – so ließe es sich plump hermeneutisch deuten – die Zerrissenheit ihres Personals illustriert.
Saul weicht gerade noch zurück, stürzt, der Fahrer steigt aus, stellt sich als Wolfgang vor und redet auf Saul ein, während er auf ein rechteckiges „Ding“ in seiner Hand schaut. „Das Ding sprach. Es gab definitiv eine Stimme im Inneren, die Stimme eines Mannes, und er sagte etwas Zorniges und Beleidigendes. Wir gaben beide vor, seine Worte nicht zu hören.“
Etwas Rechteckiges, das spricht? 1988? In der Steinzeit des Mobiltelefons? Wir sind irritiert, und werden es auf den nächsten Seiten noch einige Male sein. Denn irgendetwas ist hier schief, irgendetwas scheint aus den Fugen, entweder die Zeit oder die ganze Geschichte (und damit ist nicht nur die Handlung des Romans gemeint, sondern mehr noch das große Ganze, der Weltlauf). Gelegentlich weist die vom Theater kommende Deborah Levy darauf hin, dass ihre Literatur den literarischen Verfahren der Moderne verpflichtet und vom Film geprägt ist – gerade die in tausend Details zerborstenen Alptraumwelten von David Lynch haben es ihr angetan.
Saul jedenfalls überlebt den Unfall einigermaßen unversehrt. Und er lässt sich von seiner Künstler-Freundin Jennifer in John-Lennon-Pose fotografieren, wie es die Beatles-Jünger seit Erscheinen des Albums „Abbey Road“ zu Hunderttausenden an diesem popmythischen Ort zu tun pflegen. Das Foto will er der Schwester seines Gastgebers in Ostberlin mitbringen, wohin er am nächsten Tag aufbrechen wird, um seine Forschungen über das kommunistische Osteuropa unter realsozialistischen Gegebenheiten fortzusetzen.
Saul ist nicht nur ein aufstrebender Wissenschaftler, sondern auch Sohn eines dem Kommunismus treu ergebenen Bauarbeiters, und das eine hat psychologisch mit dem anderen zu tun. Der Vater hält nicht viel von seinem Filius, der statt eine richtige nur die Bildungsleiter hinaufklettert und den er gerne mal als „Tunte“ bezeichnet. Der Tag endet in Jennifers WG: mit Abschiedssex, einem Heiratsantrag und einer Ernüchterung. Jennifer gibt dem perplexen Saul den Laufpass. „Abgesehen von allem anderen“, sagt sie, „hast du mich nicht ein einziges Mal nach meiner Kunst gefragt.“
Das hätte er mal tun sollen: Das Objekt ihrer Bilder nämlich ist der adrette Saul selbst, und wie wir später herausfinden werden, trägt ihre geplante Ausstellung den Titel „Der fragmentierte Mann“. Wieder so ein Hinweis, dass Saul, der vermeintlich alles sieht, eine eher gespaltene Persönlichkeit ist.
Bei seinem Forschungsaufenthalt in Ostberlin jedenfalls geht es kurios weiter: Saul verliebt sich in seinen Übersetzer Walter, beginnt eine Affäre mit dessen Schwester, fühlt sich von der Stasi observiert – einmal fällt ein Spiegel von der Wand, unter der Tapete sucht er nach Wanzen. Immerzu scheinen sich alle zu belauern, und auch in Berlin stimmt etwas nicht mit den Zeitebenen der Geschichte und mit Saul. Wie ein Liebhaber flüstert er Walter ein Geheimnis ins Ohr: „Deutschland Ost und West werden eins sein. Es wird eine Revolution geben. Mit Ausnahme von Rumänien wird auf den Straßen kein Blut vergossen werden.“
Wir können diesem Ich-Erzähler schwerlich trauen: Entweder ist er ein Prophet oder einer, der blauäugig durch sein Leben stolpert. Zunehmend hat man den Eindruck, Deborah Levy würde uns den Realitätssinn mit leichtfertigen Scherzen austreiben wollen. Tut sie natürlich nicht, denn es gibt einen zweiten Roman-Teil, der wiederum in der Abbey Road seinen Ausgang nimmt. Ein Zeitsprung von 28 Jahren: Im Juni 2016, als Großbritannien per Volksentscheid der EU Goodbye sagt, versucht Saul wiederum den notorischen Zebrastreifen zu überqueren.
Diesmal weniger erfolgreich: Er liegt nun schwer verletzt im Krankenhaus, mal mehr, mal weniger bei Bewusstsein. Saul deliriert und träumt, sieht in einem Moment alles verschwommen, im anderen wieder messerscharf. Der behandelnde Arzt kommt in Gestalt eines Stasi-Spitzels daher. Der Vater – im ersten Teil schon im Jenseits – ist quicklebendig. Jennifer hat inzwischen Karriere gemacht und ist doch noch immer die 23-jährige Kunststudentin, die sich Ylang-Ylang-Öl ins Haar kämmt. Die Mauer in Ostberlin steht weiterhin, während die Briten im Begriff sind, eine neue hochzuziehen. Die Geschichte – global und persönlich betrachtet – ist kein Nach-, sondern ein Durcheinander. Eine Farce. In Saul tanzen die Verhältnisse Pogo.
Um uns Leser ebenfalls aus dem Gleichgewicht zu bringen, arbeitet Deborah Levy mit Zeitbrüchen, Rissen und Überblendungen. Saul driftet zwischen verschiedenen Orten und Phasen seines Lebens hin und her; die Gespenster der Vergangenheit und Gegenwart, von Marx und Engels, Jennifer und Walter, spuken in diesem Londoner Krankenhauszimmer, als wäre Halloween. Dabei wird immer deutlicher, was dieser Mann, der alles sah, eigentlich übersieht: Von der Liebe versteht er ebenso wenig wie von den historischen Zusammenhängen, über die er forscht. Die Blicke, die sich auf ihn richten, weiß er nicht recht zu deuten. Das gilt für die Überwachungsmechanismen in der DDR ebenso wie für Jennifers fotografische Dekonstruktionen. Bei Levy verrutschen die Abbildverhältnisse, sie bekommen einen Knacks, es gibt keine Übereinstimmung mehr zwischen Beobachtung und Erkenntnis. Die Geschichte wird zu einem unlösbaren Puzzlespiel. Oder zur unheimlichen Geisterjagd. Willkommen in der Gegenwart.
„Der Mann, der alles sieht“ ist also ziemlich ambitioniert, raffiniert konstruiert, verwirrend hellsichtig – und es ist Levys dritter Roman in Folge, der ihr eine Booker-Prize-Nominierung einbrachte. Schade ist nur, dass man bei der deutschen Übersetzung an vielen Stellen das Gefühl hat, eine, tja, Übersetzung zu lesen. Schon auf den ersten zehn Seiten holpert und knirscht es gehörig. Wenn es im Englischen heißt „There were two cars waiting but she held up her hand to keep them there“ wird daraus im Deutschen: „Zwei Autos warteten, doch sie hob die Hand, um sie dort zu halten …“ Aus „I always bleed a lot, it’s nothing“ macht die Übertragung ein schwerfälliges „Ich blute immer stark, es hat nichts zu bedeuten“. Locker hingeworfene Dialoge hören sich prätentiös an, es gibt unnötige Wortwiederholungen; die Übersetzung bleibt klebrig nah am Original. So verschwinden zuweilen auch Doppeldeutigkeiten, die Levy geschickt streut. All das sollte einen jedoch nicht davon abhalten, diesen klugen, subtil verstörenden Roman zu lesen – am besten mit dem englischen Original in Reichweite.
Deborah Levy: Der Mann, der alles sah. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. Kampa Verlag, Zürich 2020. 288 Seiten, 23 Euro.
Seine Freundin verlässt ihn, weil
er sie nicht ein einziges Mal
nach ihrer Kunst gefragt hat
Die Geschichte ist ambitioniert,
raffiniert konstruiert
und verwirrend hellsichtig
Hier nimmt alles seinen Anfang: der Zebrastreifen in der Abbey Road. Natürlich lässt sich auch Levys Protagonist Saul hier in John-Lennon-Pose fotografieren.
Foto: leon neal/Getty
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