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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Michael Köhlmeier zeigt die großen Figuren der Weltgeschichte in ihrer Menschlichkeit. In der Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" begleitet er den sterbenden heiligen Antonius von Padua.
Michael Köhlmeier versteht es, auf betörende Weise die großen Figuren der Weltgeschichte auf ihre vermeintlich kleinen privaten Momente herunterzubrechen, um sie auf diese Weise aber nur umso mehr zum Leuchten zu bringen - in ihrer Nahbarkeit. Der nächtliche Spaziergang etwa, den Köhlmeier Charlie Chaplin und Winston Churchill in "Zwei Herren am Strand" unternehmen lässt, ist ein solcher Moment. Heimlich haben sich die beiden öffentlichen Lichtgestalten von einer mondänen Party fortgeschlichen und erkennen, während sie den Santa Monica Beach hinunterwandern, dass sie etwas verbindet, nicht nur die durch das Pazifikwasser ruinierten Schuhe, sondern das Dunkel der Depression. Das wird sie fortan verbinden.
In Köhlmeiers Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" werden Gespräche nurmehr noch erinnert, imaginiert oder bei halbem Bewusstsein geführt. Und was leuchtet, ist der Himmel über dem Platz vor dem Kloster des kleinen italienischen Städtchens Arcella. Dort liegt der heilige Antonius, schaut hinauf in das Blau über ihm und weiß, dass er nun sterben wird. Eigentlich hatte er es bis nach Padua schaffen wollen, wenn schon der Weg in seine Heimat Portugal zu weit war. Aber der Transport auf einem Pferdewagen, eingeklemmt zwischen zwei Bierfässern, um ein Hinunterfallen des Heiligen zu verhindern, war zu beschwerlich und musste deshalb abgebrochen werden.
Wir schreiben das Jahr 1231. Um den heiligen Antonius herum, in gebührendem Abstand, steht die Menge, die ebenso ehrfürchtig wie neugierig den Heiligen betrachtet, der kurz zuvor noch wortmächtig zu ihr gepredigt hat und von dem sie sich doch Erlösung erhoffte. Die Beichte hätte er den Menschen abnehmen sollen: "In seinem Daumen, hieß es weiter, ritze er am Beginn der Prozedur mit einem Messerchen das Zeichen des Kreuzes, und den Daumen drücke er zur Absolution dem Beichtling auf die Stirn, nachdem er einen Blutstropfen herausgequetscht habe, so werde Zeit gespart, und dreitausend könne an einem einzigen Tag Erleichterung verschafft werden."
Nun aber liegt Antonius da, kann sich nicht mehr rühren, kaum mehr die an den Zähnen klebenden Lippen bewegen, denn ihn quält neben Schmerzen vor allem eines: unglaublicher Durst. Kaum vernehmbar hat er, der große Rhetoriker, dies gerade noch flüstern können. Allein, niemand der dreitausend Umstehenden wagt es, dem heiligen Mann von seinem Wasser anzubieten. Und als sich doch endlich ein junger Mönch mit seinem Wasserschlauch zu ihm hocken will, wird er vom Prior aufgehalten und das Wasser aufs Pflaster gegossen. In Handlungen Gottes dürfe der Mensch nicht eingreifen, auch nicht aus vorgeblicher Nächstenliebe.
Die Szenerie, in der das Mächtige sich abrupt ins Hilflose verdreht hat, von Köhlmeier mit behutsamem, manchmal zaghaft kalauerndem Witz durchzogen, könnte anrührender und absurder schwerlich sein. Und zugleich kaum wahrer. Die mächtigen Glaubenssätze über Liebe und Sünde stehen seltsam gekappt und leer im Raum. Mit der Wirklichkeit, das sieht man jetzt, haben sie herzlich wenig zu tun. Und für einen flüchtigen Augenblick scheint in Antonius die Angst aufzublitzen, dass es doch ein Irrtum gewesen sein könnte, sein Leben Gott verschrieben zu haben. Und dass es womöglich gar nicht nötig sein wird, dass er der pockennarbigen Frau, die nicht nur zwei Kinder mit ihrem Mann hat, sondern zwei weitere mit ihrem Dienstherrn, mit dem sie seit Jahren ein Liebesverhältnis pflegt, die Beichte abzunehmen. Denn vielleicht ist diese praktizierte Liebe, auch wo sie gegen Konventionen verstößt, die wesentliche und wahre. Für Antonius indes ist es jetzt zu spät, darüber zu befinden.
Michael Köhlmeier aber ist vor allem auch eines: ein gnädiger Erzähler. Zwar kann der heilige Antonius weder dem Tod entrinnen, noch seinem harten Lager auf dem Pflaster, noch nicht einmal den quälenden Durst darf er stillen. Aber es besuchen ihn als Erscheinungen und Luftgestalten, die nur er sehen kann, noch einmal jene, die ihm - dem die Fähigkeit zum Auflesen der dem Glauben abtrünnigen Seelen zugesprochen wird - selbst verlorengegangen sind in früheren Jahren. Sein Großvater etwa, ein herrlich unkonventioneller Mann, der den Jungen, der damals noch Fernando hieß, mit ersponnenen Geschichten tröstete. Aber worin eigentlich unterscheiden sich diese Märchen des Großvaters von den Wundererzählungen der Kirche? Die Deutungsmacht der Kirchenobrigen wird fadenscheiniger, je tiefer Antonius in seine stumme, stille Agonie fällt und dabei zusehends durchlässiger wird.
Schließlich steht auch Antonius' Jugendliebe Basima dort auf dem Platz vor dem Kloster und beugt sich hinab zu ihm, der ihr ewige Liebe schwor, dann aber schweigend mit ansah, wie sie und ihre Mutter nach dem Tod des Großvaters fortgeschickt wurden. Dass sie ein gutes Leben hatte, versichert sie Antonius, und keinen Funken Groll scheint sie gegen ihn zu hegen trotz seinem Verrat. Und so kann, während er dort liegt und stirbt, der heilige Antonius die Versäumnisse seines eigenen Lebens zwar nicht wiedergutmachen, aber immerhin sie noch einmal an sich vorbeiziehen lassen und in seinem Delirium glauben, dass auch ihm Versöhnung beschert ist, selbst wenn all die Gebete und Predigten trügerisch gewesen sein sollten.
Ganz sicher kann, wer will, Köhlmeier trotz seines Humors einen nicht unerheblichen sentimentalen Unterstrom attestieren. Aber für die konzentrierte, im Ton zurückgenommene Strecke dieser Novelle legt man sich nur allzu gern neben Antonius auf das harte Pflaster und lässt sich von Köhlmeiers Sanftmut eine glückliche Weile tragen.
WIEBKE POROMBKA
Michael Köhlmeier: "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet". Novelle.
Hanser Verlag, München 2017. 160 S., geb., 20,- [Euro].
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"Köhlmeier erinnert uns mit seinem Antonius sowohl an die Menschlichkeit des Zweifelns als auch an das Urmotiv des Christentums: die Nächstenliebe. Sie kennt keine Glaubensunterschiede. So wird der Erzähler dieses kunstvoll komponierten Textes selbst zum Mann, der Verlorenes wiederfindet. Michael Köhlmeiers neue Novelle liest sich wie ein Klassiker." Carsten Otte, Der Tagesspiegel, 27.08.17
"Köhlmeier erschafft Erzählwelten, die aus eigenem Recht leuchten." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 23.08.17
"Die Aktualität dieses brillianten Textes liegt darin, dass er Antonius in seiner ganzen Menschenfreundlichkeit als Kontrapunkt gegen die Hassprediger, Demagogen und Religionskrieger der Gegenwart setzt." Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung, 07.08.17
"Köhlmeier erinnert uns sowohl an die Menschlichkeit des Zweifelns als auch an das Urmotiv des Christentums, nämlich an die Nächstenliebe, die keine Glaubensunterschiede kennt." Carsten Otte, SWR2, 31.07.17
"Michael Köhlmeier versteht es, auf betörende Weise die großen Figuren der Weltgeschichte auf ihre vermeintlich kleinen privaten Momente herunterzubrechen, um sie auf diese Weise aber nur umso mehr zum Leuchten zu bringen... Für die konzentrierte, im Ton zurückgenommene Strecke dieser Novelle legt man sich nur allzu gern neben Antonius auf das harte Pflaster und lässt sich von Köhlmeiers Sanftmut eine glückliche Weile tragen." Wiebke Porombka, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.17