Antonius liegt auf dem Platz vor der Kirche. Er hatte die Schmerzen nicht mehr ertragen, die Straße nach Padua war gepflastert und der Wagen hart gefedert. Jetzt liegt er da und sieht den italienischen Himmel. Und er erinnert sich an alles, was ihn hierhergebracht hat, von der Kindheit in Portugal bis in den Orden des heiligen Franziskus. – Michael Köhlmeier erzählt, wie nur er es kann, von einer sehr fernen Zeit, doch er macht uns den Bruder Antonius zum Zeitgenossen. In einer Epoche voller Gewalt fragt sich Antonius, wie kommt das Böse in die Welt? Habe ich etwas dagegen bewirkt mit meinen Reden? Köhlmeier erzählt von dem Menschen Antonius, und der geht uns alle an.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Martin Oehlen fühlt sich betört von der "sanften Archaik" von Michael Köhlmeiers Novelle. Dass der Autor ein Meister der Sagen und Märchen ist, scheint sich für Oehlen mit diesem Text über den Heiligen Antonius von Padua zu bestätigen. Dergestalt, dass dem Rezensenten bald einerlei ist, was diesen Heiligen eigentlich zum Prosahelden prädestiniert. Wie der Autor das Denken des Hochmittelalters nachempfindet und die lückenhafte Überlieferung fantasievoll ergänzt, findet Oehlen bemerkenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.08.2017Gnade ist nur, wo auch Hass ist
Michael Köhlmeier widmet sich dem Leben und Sterben des Heiligen Antonius.
Dabei findet er einen passenden Heiligen für die Gegenwart
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Ein Mann liegt auf dem Klosterplatz von Arcella bei Padua und stirbt. Dreitausend Menschen sehen ihm dabei zu. Soeben hatte er noch vor ihnen gepredigt, dann ließen ihn die Kräfte im Stich. Es ist heiß. Die Menge hält Abstand. Man hat ihm eine Decke in den Nacken gelegt und ihn auf einer Pritsche aufgebahrt. Niemand hilft ihm, niemand kommt, um seinen Durst zu stillen oder seine Schmerzen zu linden. Man will sehen, wie ein Heiliger von Gott zu sich geholt wird.
Michael Köhlmeier ist ein Fachmann für das kunstvolle Verknüpfen von historischer Figuren in fiktionale Texte. Man denke nur an seinen 2014 erschienenen Roman „Zwei Herren am Strand“, in dem er die historisch verbürgte, aber in Quellen nur wenig belegte Freundschaft zwischen Charles Chaplin und Winston Churchill in eine elegant-doppelbödige Geschichte um Depression und Lebensmüdigkeit umschrieb. Nun hat Michael Köhlmeier sich eines Menschen angenommen, der eine ideale Projektionsfläche für eine Reflexion um Glauben, Geist und die Anfälligkeit für Versuchungen abzugeben scheint.
Antonius von Padua, geboren gegen Ende des 12. Jahrhunderts, gestorben 1231, gehörte dem Franziskanerorden an, war, anders als der Ordensgründer und Zeitgenosse Franziskus von Assisi, ein scharfsinniger und belesener Intellektueller. Zugleich aber war er ein Mann, der vom Volk verehrt wurde. Schon zu Lebzeiten wurden ihm Wunder nachgesagt; bei keinem anderen Heiligen verging so wenig Zeit zwischen Tod und Heiligsprechung, die im Fall von Antonius bereits im Mai 1232 durch Gregor IX. vorgenommen wurde.
Was reizt Köhlmeier an diesem Stoff? Leben und Wirken des Heiligen Antonius sind Gegenstände unzähliger Legenden, dem Eremiten und seinen Versuchungen gilt nicht nur eine eigene Bildtradition, sondern eine lange Reihe von literarischen Anverwandlungen, die von E. T. A. Hoffman über Gustave Flaubert bis zu Donald Barthelme reichen. Überliefert sind seine Predigten, Texte mit einer großen Wirkungsgeschichte. Antonius (oder Fernandus, wie er in seinem Geburtsland Portugal genannt wird) ist alles andere eine erzählerische Freifläche. Köhlmeier aber räumt sie wieder frei: „Der Mann, der Verlorenes wiederfindet“ ist ein schmales, aber ungemein verdichtetes Buch.
Der Weg in diesen Text hinein ist nicht einfach. Zwar hat Köhlmeier, aus gutem Grund, einen Chronisten installiert, der den Stoff ordnet und vor allem die (fiktiven) Zeitzeugenberichte choreografiert. Doch es bleiben die Gedanken eines Sterbenden, mit denen wir es zu tun haben, und die sind sprunghaft, assoziativ und nicht chronologisch geordnet. Sie kreisen allerdings immer wieder und in immer konzentrierteren Denkbewegungen um zentrale Fragen: Wie lässt sich dem geradezu naturgemäßen Hochmut des Intellektuellen Demut entgegensetzen? Welche Gestalt hat der Teufel? Wie ist das Böse in die Welt gekommen? Und warum hat Gott das zugelassen? Warum beispielsweise hat Gott sich mit dem Satan auf eine Wette eingelassen, um den frommen Hiob auf die Probe zu stellen?
Die herausragende Eigenschaft, die Antonius von Padua zugesprochen wurde, war seine rhetorische Brillanz und seine umfassende Belesenheit. Dafür wurde er von manchen Ordensbrüdern gefürchtet, gemieden, wenn nicht gar gehasst. Die rhetorischen Fähigkeiten seiner Hauptfigur verstärkt Köhlmeier, indem er selbst wiederum einen zurückhaltenden, sparsamen Ton für seine Novelle findet. Der Text geht in seinem Protagonisten auf, hat aber dennoch, und das ist eine große Leistung, eine erzählerische Metaebene. Denn so wie der christliche Glaube in all seinen Ausprägungen und Widersprüchen letztendlich eine Sache des Bekenntnisses ist, so schafft sich auch die Literatur ihr eigenes Recht, das nicht auf Beweisbarkeit, sondern auf der Überzeugungskraft der poetischen Form beruht. Wenn Antonius sich fragt, ob die Sprache Wahrheit erst erzeugt oder sie lediglich beschreibend umkreist (eine im Spätmittelalter äußerst dringliche Frage), schafft Köhlmeier eine sprachliche Wahrheit, die unmittelbar und manifest als Buch vor uns liegt.
Wie seine Hauptfigur Antonius, die sich selbst immer wieder zur Mäßigung ermahnt, ist Köhlmeier kein auftrumpfender Autor. Er lässt Raum für Zweifel. Er lässt dem Nichts, das der Teufel ist, ebenso Platz wie dem Hass. „Nur in einer Welt des Hasses“, so heißt es, „sei die göttliche Gnade sinnvoll.“ Wovon aber handelte sie nun, die letzte Predigt des Antonius? Darüber sind die Zeugen, die Köhlmeier auftreten lässt, sich nicht einig: Hat der heilige Mann über das Nichts gesprochen? Über die Gnade, den Tod oder gar, wie auch behauptet wird, über die aktuelle politische Lage? Es ist ein roter Faden, der sich als komisches Motiv durch die Novelle zieht: Jeder hat in Antonius’ Predigt gehört, was er gerne hören wollte. Jeder hat darin Trost gefunden, und nie wurde darin ein Mensch verdammt.
Wie überhaupt „Der Mann, der Verlorenes wiederfindet“ ein tröstliches kleines Buch ist, das in das Heute hineinreicht. Antonius findet auf dem Sterbelager Trost in der Vision seines ihm erscheinenden Großvaters, der ihm die weltlichen Freuden seiner Jugendzeit noch einmal nahebringt. Darin liegt die Aktualität dieses brillanten Textes: Er setzt Antonius in seiner ganzen Menschenfreundlichkeit als Kontrapunkt gegen die Hassprediger, Demagogen und Religionskrieger der Gegenwart.
Michael Köhlmeier: Der Mann, der Verlorenes wiederfindet. Novelle. Carl Hanser Verlag, München 2017. 158 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Zu Antonius gibt es eine gewaltige
Literatur. Köhlmeier fängt
dennoch wieder von vorne an
Das ausschweifende Leben, aus der Wüste betrachtet: Die „Versuchungen des Heiligen Antonius“ nach Hieronymus Bosch (1505/1510)
Foto: OH
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Michael Köhlmeier widmet sich dem Leben und Sterben des Heiligen Antonius.
Dabei findet er einen passenden Heiligen für die Gegenwart
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Ein Mann liegt auf dem Klosterplatz von Arcella bei Padua und stirbt. Dreitausend Menschen sehen ihm dabei zu. Soeben hatte er noch vor ihnen gepredigt, dann ließen ihn die Kräfte im Stich. Es ist heiß. Die Menge hält Abstand. Man hat ihm eine Decke in den Nacken gelegt und ihn auf einer Pritsche aufgebahrt. Niemand hilft ihm, niemand kommt, um seinen Durst zu stillen oder seine Schmerzen zu linden. Man will sehen, wie ein Heiliger von Gott zu sich geholt wird.
Michael Köhlmeier ist ein Fachmann für das kunstvolle Verknüpfen von historischer Figuren in fiktionale Texte. Man denke nur an seinen 2014 erschienenen Roman „Zwei Herren am Strand“, in dem er die historisch verbürgte, aber in Quellen nur wenig belegte Freundschaft zwischen Charles Chaplin und Winston Churchill in eine elegant-doppelbödige Geschichte um Depression und Lebensmüdigkeit umschrieb. Nun hat Michael Köhlmeier sich eines Menschen angenommen, der eine ideale Projektionsfläche für eine Reflexion um Glauben, Geist und die Anfälligkeit für Versuchungen abzugeben scheint.
Antonius von Padua, geboren gegen Ende des 12. Jahrhunderts, gestorben 1231, gehörte dem Franziskanerorden an, war, anders als der Ordensgründer und Zeitgenosse Franziskus von Assisi, ein scharfsinniger und belesener Intellektueller. Zugleich aber war er ein Mann, der vom Volk verehrt wurde. Schon zu Lebzeiten wurden ihm Wunder nachgesagt; bei keinem anderen Heiligen verging so wenig Zeit zwischen Tod und Heiligsprechung, die im Fall von Antonius bereits im Mai 1232 durch Gregor IX. vorgenommen wurde.
Was reizt Köhlmeier an diesem Stoff? Leben und Wirken des Heiligen Antonius sind Gegenstände unzähliger Legenden, dem Eremiten und seinen Versuchungen gilt nicht nur eine eigene Bildtradition, sondern eine lange Reihe von literarischen Anverwandlungen, die von E. T. A. Hoffman über Gustave Flaubert bis zu Donald Barthelme reichen. Überliefert sind seine Predigten, Texte mit einer großen Wirkungsgeschichte. Antonius (oder Fernandus, wie er in seinem Geburtsland Portugal genannt wird) ist alles andere eine erzählerische Freifläche. Köhlmeier aber räumt sie wieder frei: „Der Mann, der Verlorenes wiederfindet“ ist ein schmales, aber ungemein verdichtetes Buch.
Der Weg in diesen Text hinein ist nicht einfach. Zwar hat Köhlmeier, aus gutem Grund, einen Chronisten installiert, der den Stoff ordnet und vor allem die (fiktiven) Zeitzeugenberichte choreografiert. Doch es bleiben die Gedanken eines Sterbenden, mit denen wir es zu tun haben, und die sind sprunghaft, assoziativ und nicht chronologisch geordnet. Sie kreisen allerdings immer wieder und in immer konzentrierteren Denkbewegungen um zentrale Fragen: Wie lässt sich dem geradezu naturgemäßen Hochmut des Intellektuellen Demut entgegensetzen? Welche Gestalt hat der Teufel? Wie ist das Böse in die Welt gekommen? Und warum hat Gott das zugelassen? Warum beispielsweise hat Gott sich mit dem Satan auf eine Wette eingelassen, um den frommen Hiob auf die Probe zu stellen?
Die herausragende Eigenschaft, die Antonius von Padua zugesprochen wurde, war seine rhetorische Brillanz und seine umfassende Belesenheit. Dafür wurde er von manchen Ordensbrüdern gefürchtet, gemieden, wenn nicht gar gehasst. Die rhetorischen Fähigkeiten seiner Hauptfigur verstärkt Köhlmeier, indem er selbst wiederum einen zurückhaltenden, sparsamen Ton für seine Novelle findet. Der Text geht in seinem Protagonisten auf, hat aber dennoch, und das ist eine große Leistung, eine erzählerische Metaebene. Denn so wie der christliche Glaube in all seinen Ausprägungen und Widersprüchen letztendlich eine Sache des Bekenntnisses ist, so schafft sich auch die Literatur ihr eigenes Recht, das nicht auf Beweisbarkeit, sondern auf der Überzeugungskraft der poetischen Form beruht. Wenn Antonius sich fragt, ob die Sprache Wahrheit erst erzeugt oder sie lediglich beschreibend umkreist (eine im Spätmittelalter äußerst dringliche Frage), schafft Köhlmeier eine sprachliche Wahrheit, die unmittelbar und manifest als Buch vor uns liegt.
Wie seine Hauptfigur Antonius, die sich selbst immer wieder zur Mäßigung ermahnt, ist Köhlmeier kein auftrumpfender Autor. Er lässt Raum für Zweifel. Er lässt dem Nichts, das der Teufel ist, ebenso Platz wie dem Hass. „Nur in einer Welt des Hasses“, so heißt es, „sei die göttliche Gnade sinnvoll.“ Wovon aber handelte sie nun, die letzte Predigt des Antonius? Darüber sind die Zeugen, die Köhlmeier auftreten lässt, sich nicht einig: Hat der heilige Mann über das Nichts gesprochen? Über die Gnade, den Tod oder gar, wie auch behauptet wird, über die aktuelle politische Lage? Es ist ein roter Faden, der sich als komisches Motiv durch die Novelle zieht: Jeder hat in Antonius’ Predigt gehört, was er gerne hören wollte. Jeder hat darin Trost gefunden, und nie wurde darin ein Mensch verdammt.
Wie überhaupt „Der Mann, der Verlorenes wiederfindet“ ein tröstliches kleines Buch ist, das in das Heute hineinreicht. Antonius findet auf dem Sterbelager Trost in der Vision seines ihm erscheinenden Großvaters, der ihm die weltlichen Freuden seiner Jugendzeit noch einmal nahebringt. Darin liegt die Aktualität dieses brillanten Textes: Er setzt Antonius in seiner ganzen Menschenfreundlichkeit als Kontrapunkt gegen die Hassprediger, Demagogen und Religionskrieger der Gegenwart.
Michael Köhlmeier: Der Mann, der Verlorenes wiederfindet. Novelle. Carl Hanser Verlag, München 2017. 158 Seiten, 20 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Zu Antonius gibt es eine gewaltige
Literatur. Köhlmeier fängt
dennoch wieder von vorne an
Das ausschweifende Leben, aus der Wüste betrachtet: Die „Versuchungen des Heiligen Antonius“ nach Hieronymus Bosch (1505/1510)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2017Am Ende quält fast nur noch der Durst
Michael Köhlmeier zeigt die großen Figuren der Weltgeschichte in ihrer Menschlichkeit. In der Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" begleitet er den sterbenden heiligen Antonius von Padua.
Michael Köhlmeier versteht es, auf betörende Weise die großen Figuren der Weltgeschichte auf ihre vermeintlich kleinen privaten Momente herunterzubrechen, um sie auf diese Weise aber nur umso mehr zum Leuchten zu bringen - in ihrer Nahbarkeit. Der nächtliche Spaziergang etwa, den Köhlmeier Charlie Chaplin und Winston Churchill in "Zwei Herren am Strand" unternehmen lässt, ist ein solcher Moment. Heimlich haben sich die beiden öffentlichen Lichtgestalten von einer mondänen Party fortgeschlichen und erkennen, während sie den Santa Monica Beach hinunterwandern, dass sie etwas verbindet, nicht nur die durch das Pazifikwasser ruinierten Schuhe, sondern das Dunkel der Depression. Das wird sie fortan verbinden.
In Köhlmeiers Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" werden Gespräche nurmehr noch erinnert, imaginiert oder bei halbem Bewusstsein geführt. Und was leuchtet, ist der Himmel über dem Platz vor dem Kloster des kleinen italienischen Städtchens Arcella. Dort liegt der heilige Antonius, schaut hinauf in das Blau über ihm und weiß, dass er nun sterben wird. Eigentlich hatte er es bis nach Padua schaffen wollen, wenn schon der Weg in seine Heimat Portugal zu weit war. Aber der Transport auf einem Pferdewagen, eingeklemmt zwischen zwei Bierfässern, um ein Hinunterfallen des Heiligen zu verhindern, war zu beschwerlich und musste deshalb abgebrochen werden.
Wir schreiben das Jahr 1231. Um den heiligen Antonius herum, in gebührendem Abstand, steht die Menge, die ebenso ehrfürchtig wie neugierig den Heiligen betrachtet, der kurz zuvor noch wortmächtig zu ihr gepredigt hat und von dem sie sich doch Erlösung erhoffte. Die Beichte hätte er den Menschen abnehmen sollen: "In seinem Daumen, hieß es weiter, ritze er am Beginn der Prozedur mit einem Messerchen das Zeichen des Kreuzes, und den Daumen drücke er zur Absolution dem Beichtling auf die Stirn, nachdem er einen Blutstropfen herausgequetscht habe, so werde Zeit gespart, und dreitausend könne an einem einzigen Tag Erleichterung verschafft werden."
Nun aber liegt Antonius da, kann sich nicht mehr rühren, kaum mehr die an den Zähnen klebenden Lippen bewegen, denn ihn quält neben Schmerzen vor allem eines: unglaublicher Durst. Kaum vernehmbar hat er, der große Rhetoriker, dies gerade noch flüstern können. Allein, niemand der dreitausend Umstehenden wagt es, dem heiligen Mann von seinem Wasser anzubieten. Und als sich doch endlich ein junger Mönch mit seinem Wasserschlauch zu ihm hocken will, wird er vom Prior aufgehalten und das Wasser aufs Pflaster gegossen. In Handlungen Gottes dürfe der Mensch nicht eingreifen, auch nicht aus vorgeblicher Nächstenliebe.
Die Szenerie, in der das Mächtige sich abrupt ins Hilflose verdreht hat, von Köhlmeier mit behutsamem, manchmal zaghaft kalauerndem Witz durchzogen, könnte anrührender und absurder schwerlich sein. Und zugleich kaum wahrer. Die mächtigen Glaubenssätze über Liebe und Sünde stehen seltsam gekappt und leer im Raum. Mit der Wirklichkeit, das sieht man jetzt, haben sie herzlich wenig zu tun. Und für einen flüchtigen Augenblick scheint in Antonius die Angst aufzublitzen, dass es doch ein Irrtum gewesen sein könnte, sein Leben Gott verschrieben zu haben. Und dass es womöglich gar nicht nötig sein wird, dass er der pockennarbigen Frau, die nicht nur zwei Kinder mit ihrem Mann hat, sondern zwei weitere mit ihrem Dienstherrn, mit dem sie seit Jahren ein Liebesverhältnis pflegt, die Beichte abzunehmen. Denn vielleicht ist diese praktizierte Liebe, auch wo sie gegen Konventionen verstößt, die wesentliche und wahre. Für Antonius indes ist es jetzt zu spät, darüber zu befinden.
Michael Köhlmeier aber ist vor allem auch eines: ein gnädiger Erzähler. Zwar kann der heilige Antonius weder dem Tod entrinnen, noch seinem harten Lager auf dem Pflaster, noch nicht einmal den quälenden Durst darf er stillen. Aber es besuchen ihn als Erscheinungen und Luftgestalten, die nur er sehen kann, noch einmal jene, die ihm - dem die Fähigkeit zum Auflesen der dem Glauben abtrünnigen Seelen zugesprochen wird - selbst verlorengegangen sind in früheren Jahren. Sein Großvater etwa, ein herrlich unkonventioneller Mann, der den Jungen, der damals noch Fernando hieß, mit ersponnenen Geschichten tröstete. Aber worin eigentlich unterscheiden sich diese Märchen des Großvaters von den Wundererzählungen der Kirche? Die Deutungsmacht der Kirchenobrigen wird fadenscheiniger, je tiefer Antonius in seine stumme, stille Agonie fällt und dabei zusehends durchlässiger wird.
Schließlich steht auch Antonius' Jugendliebe Basima dort auf dem Platz vor dem Kloster und beugt sich hinab zu ihm, der ihr ewige Liebe schwor, dann aber schweigend mit ansah, wie sie und ihre Mutter nach dem Tod des Großvaters fortgeschickt wurden. Dass sie ein gutes Leben hatte, versichert sie Antonius, und keinen Funken Groll scheint sie gegen ihn zu hegen trotz seinem Verrat. Und so kann, während er dort liegt und stirbt, der heilige Antonius die Versäumnisse seines eigenen Lebens zwar nicht wiedergutmachen, aber immerhin sie noch einmal an sich vorbeiziehen lassen und in seinem Delirium glauben, dass auch ihm Versöhnung beschert ist, selbst wenn all die Gebete und Predigten trügerisch gewesen sein sollten.
Ganz sicher kann, wer will, Köhlmeier trotz seines Humors einen nicht unerheblichen sentimentalen Unterstrom attestieren. Aber für die konzentrierte, im Ton zurückgenommene Strecke dieser Novelle legt man sich nur allzu gern neben Antonius auf das harte Pflaster und lässt sich von Köhlmeiers Sanftmut eine glückliche Weile tragen.
WIEBKE POROMBKA
Michael Köhlmeier: "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet". Novelle.
Hanser Verlag, München 2017. 160 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Michael Köhlmeier zeigt die großen Figuren der Weltgeschichte in ihrer Menschlichkeit. In der Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" begleitet er den sterbenden heiligen Antonius von Padua.
Michael Köhlmeier versteht es, auf betörende Weise die großen Figuren der Weltgeschichte auf ihre vermeintlich kleinen privaten Momente herunterzubrechen, um sie auf diese Weise aber nur umso mehr zum Leuchten zu bringen - in ihrer Nahbarkeit. Der nächtliche Spaziergang etwa, den Köhlmeier Charlie Chaplin und Winston Churchill in "Zwei Herren am Strand" unternehmen lässt, ist ein solcher Moment. Heimlich haben sich die beiden öffentlichen Lichtgestalten von einer mondänen Party fortgeschlichen und erkennen, während sie den Santa Monica Beach hinunterwandern, dass sie etwas verbindet, nicht nur die durch das Pazifikwasser ruinierten Schuhe, sondern das Dunkel der Depression. Das wird sie fortan verbinden.
In Köhlmeiers Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" werden Gespräche nurmehr noch erinnert, imaginiert oder bei halbem Bewusstsein geführt. Und was leuchtet, ist der Himmel über dem Platz vor dem Kloster des kleinen italienischen Städtchens Arcella. Dort liegt der heilige Antonius, schaut hinauf in das Blau über ihm und weiß, dass er nun sterben wird. Eigentlich hatte er es bis nach Padua schaffen wollen, wenn schon der Weg in seine Heimat Portugal zu weit war. Aber der Transport auf einem Pferdewagen, eingeklemmt zwischen zwei Bierfässern, um ein Hinunterfallen des Heiligen zu verhindern, war zu beschwerlich und musste deshalb abgebrochen werden.
Wir schreiben das Jahr 1231. Um den heiligen Antonius herum, in gebührendem Abstand, steht die Menge, die ebenso ehrfürchtig wie neugierig den Heiligen betrachtet, der kurz zuvor noch wortmächtig zu ihr gepredigt hat und von dem sie sich doch Erlösung erhoffte. Die Beichte hätte er den Menschen abnehmen sollen: "In seinem Daumen, hieß es weiter, ritze er am Beginn der Prozedur mit einem Messerchen das Zeichen des Kreuzes, und den Daumen drücke er zur Absolution dem Beichtling auf die Stirn, nachdem er einen Blutstropfen herausgequetscht habe, so werde Zeit gespart, und dreitausend könne an einem einzigen Tag Erleichterung verschafft werden."
Nun aber liegt Antonius da, kann sich nicht mehr rühren, kaum mehr die an den Zähnen klebenden Lippen bewegen, denn ihn quält neben Schmerzen vor allem eines: unglaublicher Durst. Kaum vernehmbar hat er, der große Rhetoriker, dies gerade noch flüstern können. Allein, niemand der dreitausend Umstehenden wagt es, dem heiligen Mann von seinem Wasser anzubieten. Und als sich doch endlich ein junger Mönch mit seinem Wasserschlauch zu ihm hocken will, wird er vom Prior aufgehalten und das Wasser aufs Pflaster gegossen. In Handlungen Gottes dürfe der Mensch nicht eingreifen, auch nicht aus vorgeblicher Nächstenliebe.
Die Szenerie, in der das Mächtige sich abrupt ins Hilflose verdreht hat, von Köhlmeier mit behutsamem, manchmal zaghaft kalauerndem Witz durchzogen, könnte anrührender und absurder schwerlich sein. Und zugleich kaum wahrer. Die mächtigen Glaubenssätze über Liebe und Sünde stehen seltsam gekappt und leer im Raum. Mit der Wirklichkeit, das sieht man jetzt, haben sie herzlich wenig zu tun. Und für einen flüchtigen Augenblick scheint in Antonius die Angst aufzublitzen, dass es doch ein Irrtum gewesen sein könnte, sein Leben Gott verschrieben zu haben. Und dass es womöglich gar nicht nötig sein wird, dass er der pockennarbigen Frau, die nicht nur zwei Kinder mit ihrem Mann hat, sondern zwei weitere mit ihrem Dienstherrn, mit dem sie seit Jahren ein Liebesverhältnis pflegt, die Beichte abzunehmen. Denn vielleicht ist diese praktizierte Liebe, auch wo sie gegen Konventionen verstößt, die wesentliche und wahre. Für Antonius indes ist es jetzt zu spät, darüber zu befinden.
Michael Köhlmeier aber ist vor allem auch eines: ein gnädiger Erzähler. Zwar kann der heilige Antonius weder dem Tod entrinnen, noch seinem harten Lager auf dem Pflaster, noch nicht einmal den quälenden Durst darf er stillen. Aber es besuchen ihn als Erscheinungen und Luftgestalten, die nur er sehen kann, noch einmal jene, die ihm - dem die Fähigkeit zum Auflesen der dem Glauben abtrünnigen Seelen zugesprochen wird - selbst verlorengegangen sind in früheren Jahren. Sein Großvater etwa, ein herrlich unkonventioneller Mann, der den Jungen, der damals noch Fernando hieß, mit ersponnenen Geschichten tröstete. Aber worin eigentlich unterscheiden sich diese Märchen des Großvaters von den Wundererzählungen der Kirche? Die Deutungsmacht der Kirchenobrigen wird fadenscheiniger, je tiefer Antonius in seine stumme, stille Agonie fällt und dabei zusehends durchlässiger wird.
Schließlich steht auch Antonius' Jugendliebe Basima dort auf dem Platz vor dem Kloster und beugt sich hinab zu ihm, der ihr ewige Liebe schwor, dann aber schweigend mit ansah, wie sie und ihre Mutter nach dem Tod des Großvaters fortgeschickt wurden. Dass sie ein gutes Leben hatte, versichert sie Antonius, und keinen Funken Groll scheint sie gegen ihn zu hegen trotz seinem Verrat. Und so kann, während er dort liegt und stirbt, der heilige Antonius die Versäumnisse seines eigenen Lebens zwar nicht wiedergutmachen, aber immerhin sie noch einmal an sich vorbeiziehen lassen und in seinem Delirium glauben, dass auch ihm Versöhnung beschert ist, selbst wenn all die Gebete und Predigten trügerisch gewesen sein sollten.
Ganz sicher kann, wer will, Köhlmeier trotz seines Humors einen nicht unerheblichen sentimentalen Unterstrom attestieren. Aber für die konzentrierte, im Ton zurückgenommene Strecke dieser Novelle legt man sich nur allzu gern neben Antonius auf das harte Pflaster und lässt sich von Köhlmeiers Sanftmut eine glückliche Weile tragen.
WIEBKE POROMBKA
Michael Köhlmeier: "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet". Novelle.
Hanser Verlag, München 2017. 160 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eine mutige und ungemein dichte Novelle." Ulrich Deuter, WDR 3, 06.09.17
"Köhlmeier erinnert uns mit seinem Antonius sowohl an die Menschlichkeit des Zweifelns als auch an das Urmotiv des Christentums: die Nächstenliebe. Sie kennt keine Glaubensunterschiede. So wird der Erzähler dieses kunstvoll komponierten Textes selbst zum Mann, der Verlorenes wiederfindet. Michael Köhlmeiers neue Novelle liest sich wie ein Klassiker." Carsten Otte, Der Tagesspiegel, 27.08.17
"Köhlmeier erschafft Erzählwelten, die aus eigenem Recht leuchten." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 23.08.17
"Die Aktualität dieses brillianten Textes liegt darin, dass er Antonius in seiner ganzen Menschenfreundlichkeit als Kontrapunkt gegen die Hassprediger, Demagogen und Religionskrieger der Gegenwart setzt." Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung, 07.08.17
"Köhlmeier erinnert uns sowohl an die Menschlichkeit des Zweifelns als auch an das Urmotiv des Christentums, nämlich an die Nächstenliebe, die keine Glaubensunterschiede kennt." Carsten Otte, SWR2, 31.07.17
"Michael Köhlmeier versteht es, auf betörende Weise die großen Figuren der Weltgeschichte auf ihre vermeintlich kleinen privaten Momente herunterzubrechen, um sie auf diese Weise aber nur umso mehr zum Leuchten zu bringen... Für die konzentrierte, im Ton zurückgenommene Strecke dieser Novelle legt man sich nur allzu gern neben Antonius auf das harte Pflaster und lässt sich von Köhlmeiers Sanftmut eine glückliche Weile tragen." Wiebke Porombka, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.17
"Köhlmeier erinnert uns mit seinem Antonius sowohl an die Menschlichkeit des Zweifelns als auch an das Urmotiv des Christentums: die Nächstenliebe. Sie kennt keine Glaubensunterschiede. So wird der Erzähler dieses kunstvoll komponierten Textes selbst zum Mann, der Verlorenes wiederfindet. Michael Köhlmeiers neue Novelle liest sich wie ein Klassiker." Carsten Otte, Der Tagesspiegel, 27.08.17
"Köhlmeier erschafft Erzählwelten, die aus eigenem Recht leuchten." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 23.08.17
"Die Aktualität dieses brillianten Textes liegt darin, dass er Antonius in seiner ganzen Menschenfreundlichkeit als Kontrapunkt gegen die Hassprediger, Demagogen und Religionskrieger der Gegenwart setzt." Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung, 07.08.17
"Köhlmeier erinnert uns sowohl an die Menschlichkeit des Zweifelns als auch an das Urmotiv des Christentums, nämlich an die Nächstenliebe, die keine Glaubensunterschiede kennt." Carsten Otte, SWR2, 31.07.17
"Michael Köhlmeier versteht es, auf betörende Weise die großen Figuren der Weltgeschichte auf ihre vermeintlich kleinen privaten Momente herunterzubrechen, um sie auf diese Weise aber nur umso mehr zum Leuchten zu bringen... Für die konzentrierte, im Ton zurückgenommene Strecke dieser Novelle legt man sich nur allzu gern neben Antonius auf das harte Pflaster und lässt sich von Köhlmeiers Sanftmut eine glückliche Weile tragen." Wiebke Porombka, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.17