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hundert Jahren
Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, von der
Philologin Inka Mülder-Bach neu entdeckt – und wie!
VON THOMAS STEINFELD
Es war ein Tag im August 1913, und über Wien schien die Sonne. „Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit.“ Viele Menschen kennen diese Sätze. Es ist der Anfang eines der berühmtesten Romane der modernen Literaturgeschichte: des „Mannes ohne Eigenschaften“ von Robert Musil.
Zwar ist der erste Band dieses Werkes erst siebzehn Jahre später erschienen und der erste Teil des zweiten Bands noch einmal zwei Jahre danach, nämlich 1932, und den Rest gibt es streng genommen nur als ein gewaltiges Konvolut von Notizen, die sich im Ungefähren verlieren. Der Anfang jedoch ist präzise festgehalten, im Roman als „schöner Augusttag“, in den Aufzeichnungen des Schriftstellers als der Tag, an dem er eine Zeichnung und Beschreibungen von Straßenzügen, Plätzen und Gebäuden des 3. Bezirks in Wien anfertigte, des Viertels, in dem nicht nur Robert Musil später selber lebte, sondern in dem er auch Ulrich, seinen Helden, wohnen lässt. Von der Zeichnung ist sogar das Datum ihrer Entstehung bekannt: Es ist der 7. August 1913, der Tag vor hundert Jahren.
Es gibt Menschen, für die dieser Roman eines der großen Leseerlebnisse ist. Wenn sie davon erzählen, dann berichten sie von einer existenziellen Erfahrung: Wie ihnen bei der Lektüre die Zeitbegriffe abhandenkamen, wie sie von einem Sog erfasst wurden, in dem sich die erzählte Zeit – eben das Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – auflöste und in einen irrwitzigen Strudel von Wiederholungen und Neuanfängen geriet. Den meisten aber bleibt das Buch fremd. Es scheint sich in seinen vielen Stimmen und Perspektiven zu verlieren, es bietet zu wenig Handlung und zu viel Nachdenken. Und dann gibt es nicht einmal ein Ende.
Von solchen Lesern, sagt die Münchner Germanistin Inka Mülder-Bach, weiß die Forschung zwar wenig. Sie dürften aber die Mehrheit der Menschen ausmachen, die mit der Lektüre begannen: „Die einen sollen paranoid geworden sein, andere hysterisch, eine dritte Gruppe wird vermisst, man vermutet, sie sei nie über das erste Kapitel hinausgekommen oder in einem Ozean von Zeichen ertrunken.“ Letzteren wird nicht mehr zu helfen sein. Für den Rest aber, für die vielen Halb- oder Viertelkundigen, gilt, dass ihnen möglicherweise nur eine Handreichung, ein kundiges Gespräch über den Roman fehlt, um zu erkennen, was der „Mann ohne Eigenschaften“ tatsächlich ist: eines der kühnsten und interessantesten Experimente, die in der Literatur je unternommen wurden.
Denn dieser Roman handelt von der Wahrheit, buchstäblich. Genauer: Er handelt von einem Ideal von Wahrheit, wie es im neunzehnten Jahrhundert in die Welt kam und sich vor allem in den Naturwissenschaften geltend machte. Dass diese Vorstellung von Wahrheit als einer empirisch gegründeten, wiederholbaren und sich notwendig in einem System erschöpfenden Angelegenheit noch hundert Jahre später in Kraft ist, konnte Robert Musil zwar nicht wissen. Dieser Umstand verleiht dem Roman aber eine umso größere Kraft, weil die gleichen Hoffnungen auf Erlösung durch Vereinheitlichung, die im Roman auf die angewandte Psychologie, auf die Geschichtswissenschaft oder die Evolutionstheorie gerichtet sind, heute der Mikrobiologie oder der Computertechnik gelten.
In diese scheinbar wissenschaftliche Idee von Wahrheit schickt Robert Musil seinen Helden Ulrich, der vor allem deshalb keine Eigenschaften besitzen soll, weil er ein Mann ohne absolute Wahrheit ist. Er ist der Beobachter, der „Urlaub vom Leben“ genommen hat, was ihm gestattet, vieles zu berühren, ohne sich eines zum Anliegen zu machen. Um ihn herum hat sich eine Welt, die gerade noch geordnet und zielbewusst zu verlaufen schien, in ein Durcheinander von Diesem und Jenem verwandelt, in eine unübersehbare Vielfalt der Meinungen und Ansichten, allem voran die österreichisch-ungarische Monarchie, die gar nicht mehr zu wissen scheint, was sie ist und was sie will.
Man kann den Roman lesen, mit Vergnügen und zur Belehrung, auch wenn man nur einen Bruchteil der Erfahrungen und des Wissens erkennt, die Robert Musil in zahllosen Arbeitsgängen hineinwob. Das in diesen Tagen erschienene Buch, das Inka Mülder-Bach dem „Mann ohne Eigenschaften“ und seinem Autor widmet ( Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Hanser Verlag, München 2013. 541 S., 34,90 Euro ), erhöht die intellektuelle Anziehungskraft dieses Romans allerdings beträchtlich. Denn eher, als dass sie versucht, in den Roman einzugehen (das Werk hat Wissenschaftler wie Dilettanten immer wieder zu radikal positivistischen Annäherungen verführt), führt sie ein Gespräch mit ihm. Oder besser: Sie moderiert ein Gespräch mit ihm, geht mit ihm in eine große Bibliothek, stellt die Bücher in einen Kreis und lässt sie miteinander reden.
Tief in diesen Roman hinein führt dieses Gespräch, tief auch in die Gesellschaft und die Wissenschaft jener Zeit. Warum aber gibt es diese Tiefe, warum muss sich, wenn Ulrich über Träume und Gleichnisse nachdenkt, darin eine Anspielung nicht nur auf Rainer Maria Rilke, sondern auch auf Charles Darwins Werk „Die Entstehung der Arten“ verbergen? Warum gehen in die Beschreibung der Fahrt, die den Sexualmörder Moosbrugger in ein anderes Gefängnis befördert, die Befunde ein, die der Psychologe Max Wertheimer im Jahr 1912 in seiner Abhandlung „Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung“ festhielt? Warum all diese verborgenen Übernahmen und Referenzen, denen Inka Mülder-Bach auf eine Weise nachgeht, in der sich das Philologische mit dem Detektivischen so glücklich verbindet, dass sich der Leser fragt, wie sie das alles herausgefunden haben kann. Die Antwort lautet: Weil Robert Musil nach einer Form sucht, das Durcheinander zu organisieren, weil in jedem Fragment vielleicht doch die Wahrheit aller Wahrheiten stecken könnte – und es doch nicht tut. Der Leser muss diese Absolutheit nicht teilen. Er kann den Roman bewundern, wie er einen Ameisenhaufen bestaunt, ohne sich dabei genötigt zu sehen, den Weg jeder Ameise zu verfolgen.
Falsch wird der Wille zur Wahrheit, wenn er versucht, Arbeitsweisen aus den sogenannten exakten Wissenschaften auf das geistige Leben zu übertragen – oder anders gesagt: wenn die Wissenschaften philosophisch werden und universale Systeme begründen wollen. Deswegen gibt es diesen Anfang, der den schönen Tag in Wien über die Meteorologie erklärt. Deswegen soll Österreich ein „Weltexperiment“ sein und deswegen hat die 1906 vom Stapel gelaufene HMS Dreadnought einen Auftritt, das erste Schlachtschiff der Welt, das aus allen Rohren mit einheitlichen Kalibern schoss – als Wiedergängerin von Sebastian Brants spätmittelalterlichem „Narrenschiff“ wie als Illustration der Verbindung von Wissenschaft und Militär, die der Roman nebeneinanderrückt, weil beide unablässig an der Ordnung der Welt arbeiten. Was von dieser Ordnung zu halten ist, offenbart schließlich die Bibliothek, in die General Stumm von Bordwehr, eine der Hauptfiguren des Buches, voller Begeisterung vordringt: Dort herrscht tatsächlich eine universale Ordnung, und sie hat sogar einen Befehlshaber, den Bibliothekar. Dessen Herrschaft über die Bücher allerdings gründet sich darauf, dass er keines von ihnen gelesen hat.
Zwei Romane gibt es, die dem „Mann ohne Eigenschaften“ eng verwandt sind. Der eine ist fünfzig Jahre älter, nämlich Gustave Flauberts „Bouvard und Pécuchet“, die Geschichte zweier Schreiber (oder „Sekretäre“), die einen unendlich langen Urlaub vom Leben nehmen, um irgendwo in der normannischen Provinz das gesamte Wissen ihrer Zeit auf dessen wahren Kern, nämlich die universale Dummheit, zu führen. Und weil die Dummheiten, vor allem die Dummheiten der Wissenschaft, viel zu disparat sind, als dass man sie, alle zusammen, in einen Roman zwingen könnte, blieb auch dieses Buch ein Fragment. Der andere Roman wurde nur sieben Jahre vor dem ersten Band des „Mannes ohne Eigenschaften“ veröffentlicht: Thomas Manns „Zauberberg“. Auch dieses Werk ist die romanhafte Enzyklopädie einer ganzen Epoche, kaleidoskopisch verfasst, notwendig kontingent – und wenn es am Ende in den Ersten Weltkrieg hinüberklingt, so findet dieser Schluss doch nur auf der Oberfläche der Erzählung statt.
Ein enzyklopädischer Roman kann eigentlich kein Ende haben, auch wenn im „Mann ohne Eigenschaften“ das , was nach dem großen Durcheinander zu erwarten ist, im „Unfall“ des ersten Kapitels und in Formeln wie der „querschlagenden Bewegung“ angedeutet wird. Das Buch beschwört, manchmal nostalgisch, gelegentlich satirisch, immer ironisch, die lange Friedenszeit vor dem Ersten Weltkrieg. Es schildert die letzten, scheinbar tief friedlichen Monate vor dem Übergang der technischen Moderne in das industrialisierte Morden – aber es erreicht den August 1914 nicht. Es kann ihn nicht erreichen. Denn sein Gestaltungsprinzip hat nur deshalb Bestand, weil die Wahrheit des Fortschrittsglaubens, der dieser Gesellschaft zugrunde liegt, noch nicht ausgesprochen ist: die Wahrheit, dass die Realität ihrer Modernität der Krieg ist. Nicht die Bibliothek ist es, die das Geschehen dieser Zeit in eine einheitliche Form bringt, sondern der Roman, um den Preis, dass er aus Fragmenten besteht und selber Fragment bleibt.
Inka Mülder-Bach spricht deshalb, im letzten Kapitel ihres Buches, vom „und“ als dem Grundmuster des Romans. „Weit davon entfernt, zu Scheidungen und Abstraktionen fähig zu sein, zu Lösungen und Bindungen, Analysen und Synthesen, verfügt es nicht mehr über jene grundlegende Denkökonomie, die Zeit durch Temporalangaben wie ,als‘, ,ehe‘ und ,nachdem‘ strukturiert.“ Und wenn Ulrich, der Held des Romans, vor allem im zweiten Teil aus dieser schlechten Unendlichkeit herausfindet, gelegentlich, in der mythisch überhöhten Gemeinschaft mit seiner Schwester Agathe, so nur durch einen anderen Abschied von der Zeit, durch die Versenkung in den Augenblick. „Schwebt nicht die ganze feste Welt, mit all unseren Empfindungen, Häusern, Landschaften, Taten auf unzähligen kleinen Wölkchen?“, zitiert Inka Mülder-Bach aus einem nachgelassenen Kapitel-Entwurf. Waren es nicht die besten Leser dieses Romans, die davon erzählen, wie ihnen bei der Lektüre die Zeitbegriffe abhandenkamen?
Der „Mann ohne Eigenschaften“ ist einer der berühmtesten Romane der Literaturgeschichte. Er ist auch eines ihrer klügsten Bücher. Bekannt ist aber vor allem sein Titel, bekannt sind vielleicht noch die ersten Seiten, während der Rest des Werkes, der zweite Band zumal, weithin ungelesen ist. Kein anderes Werk der Weltliteratur dürfte es geben, mit Ausnahme des „Ulysses“, bei dem sich das Verhältnis zwischen Eigentlich-Gelesen-Haben-Wollen und Gelesen-Haben so schief darstellt wie bei diesem Roman – wobei der „Mann ohne Eigenschaften“ durchaus leichter zu lesen ist als der „Ulysses“. Um diesem Missverhältnis wenigstens ein wenig von seiner Schärfe zu nehmen, wird Inka Mülder-Bach in den kommenden Wochen in diesem Feuilleton, in acht kleinen Stücken, in den „Mann ohne Eigenschaften“ einführen.
Die Autorin moderiert ein
Gespräch mit dem Roman –
in der Universalbibliothek
Ein enzyklopädischer Roman
wie dieser kann nun einmal
kein Ende haben
Robert Musil in den 1930er-Jahren.
FOTO: MONDADORI PORTFOLIO/GETTY
Wien auf einem handkolorierten Diapositiv aus dem Jahr 1913: Noch scheint alles
friedlich zu sein an der Freyung im ersten Bezirk. Musils Roman erzählt
von der Flucht aus dem Frieden. FOTO: ÖSTERREICHSCHES VOLKSHOCHSCHULARCHIV/IMAGNO/GETTY
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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