Es ist Sommer in Norwegen. Eigentlich eine beschauliche, sonnengetränkte Zeit. Doch nun scheint etwas aus den Fugen geraten zu sein. Krabben spazieren an Land, Ratten tauchen an überraschenden Stellen auf, eine Katze kommt unter seltsamen Umständen ums Leben. Kurzum: Die Tiere verhalten sich wider ihre Natur. In seinem neuen Roman schildert Karl Ove Knausgård eine Welt, in der die Natur und die Menschen aus dem Gleichgewicht sind, obwohl das Buch eigentlich ganz realistisch vom Leben einiger Menschen, neun an der Zahl, während mehrerer Hochsommertage erzählt, und zwar in deren eigenen Worten. Da ist der Literaturprofessor Arne, der mit seiner Familie die Tage im Sommerhaus verbringt, an sich selbst zweifelt und mit seinem Nachbarn Egil über den Glauben an Gott diskutiert. Da ist die Pastorin Kathrine, die plötzlich merkt, dass sie ihre Ehe als Gefängnis empfindet. Da ist der Journalist Jostein, der auf einer exzessiven Trinktour von den mysteriösen Morden an Mitgliedern einer Death Metal Band hört, während seine Frau Turid in einer psychiatrischen Anstalt als Nachtwache arbeitet. Ihnen allen unerklärlich ist das Auftauchen eines neuen Sterns am Himmel, den auch die Wissenschaft nicht wirklich erklären kann. Ist er der Vorbote von etwas Bösem oder im Gegenteil die Verheißung von etwas Gutem?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.04.2022Unser Mann in Schwarz
Im neuen Roman des norwegischen Autors Karl Ove Knausgård erscheint ein neuer Stern am Himmel. Was nach religiöser Meditation klingt, könnte aber auch nur die Lust am Schauder sein.
Es gibt in den Geschichten des amerikanischen Schriftstellers Stephen King immer wieder den Augenblick, an dem eine Gruppe von ganz normalen Menschen, die von einem Horror heimgesucht werden, den sie sich nicht erklären können, verstehen, dass er real ist. Dass er nicht mehr aus der Welt wegzuerklären ist. Dass wirklich der Teufel in ihre Kleinstadt eingezogen ist. Die Vampire kommen. Die Toten auferstehen. Und sich das niemand eingebildet hat. "Die erschreckendste Frage dürfte sein, wie viel Grauen der menschliche Geist zu ertragen vermag, ohne seine wache, offene, unverminderte Gesundheit einzubüßen", heißt es in Kings "Friedhof der Kuscheltiere" von 1983. "Von einem bestimmten Punkt an wird alles fast komisch, und das kann der Punkt sein, an dem die geistige Gesundheit entweder obsiegt oder sich biegt und zusammenbricht, der Punkt, an dem sich der Sinn eines Menschen für Humor wieder durchzusetzen beginnt."
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård steuert diesen Punkt, an dem das Unwirkliche zur Wirklichkeit wird und sich alle auf diese neue Wirklichkeit verständigen, in seinem neuen Roman lange an - um ihn aber dann zu überspringen. Jostein, einer aus der Gruppe von Menschen, um die es in "Der Morgenstern" geht, ein ziemlich ekelhafter Journalist, wacht nach dreizehn Tagen Koma im Krankenhaus wieder auf. Er ist an einer irren Geschichte dran gewesen und will sofort wieder einsteigen, es geht um eine satanistische Heavy-Metal-Band, die rituell umgebracht worden ist; Jostein hatte vom Tatort berichtet, bevor dann alles dunkel um ihn wurde. "Sie können es ruhig angehen lassen", sagt sein Arzt jetzt aber lächelnd. "In den letzten zwei Wochen ist so viel mehr passiert, dass sich dafür bestimmt keiner mehr interessiert." Was denn, fragt Jostein, was könnte größer sein als meine Story?
Wir werden es nicht erfahren. Denn an dieser Stelle, nach achthundert Seiten über sehr heiße Tage in der norwegischen Küstenstadt Bergen, Tage, an denen Menschen schreiend durch die Straßen rennen oder in Zungen reden, Vögel mit Schuppen und Kindergesichtern durch die Luft fliegen, Krebse aus dem Meer in die Wälder fliehen, eine Pfarrerin einen Mann beerdigt, mit dem sie am Abend zuvor noch im Flugzeug gesessen hat und den sie auch nach der Beerdigung wiedersieht, Tage, an denen ein Riese mit Stierkopf und drei Zöpfen am nackten Schädel im Unterholz auftaucht und vor allem ein neuer Stern am Himmel erscheint, hell und groß und dominant, bricht Knausgård seine Handlung ab.
Und lässt den Roman dann knapp hundert Seiten lang mit einem Essay enden: "Über den Tod und die Toten". Den hat eine seiner Figuren geschrieben, Egil, der als Privatier in einem Sommerhaus am Fjord lebt, dort seinen Kierkegaard- und Bibelforschungen nachgeht und dessen Erkenntnisse nun in den Essay einfließen. Der dreht sich erst um drei Fragen - "Was ist der Tod? Was ist der Körper? Was ist der Traum?" -, um dann doch wieder zu einer Erzählung zu werden, zu einer Erinnerung an einen unbekannten Mann, Frank, den Egil zufällig im Zug kennengelernt hatte, um ihn dann auf die Beerdigung seiner Tochter zu begleiten, die danach beiden noch einmal erscheint. Diese Erinnerung schließt dann ab mit dem Auftauchen des Morgensterns am Himmel über Bergen. Was in den dreizehn Tagen danach geschieht, bleibt unausgesprochen.
Diese Technik, Texte und Essays in Romane einzuschieben, hatte Karl Ove Knausgård schon in den sechs Bänden seines autobiografischen Projekts praktiziert, das ihn vor Jahren für kurze Zeit lang zu dem internationalen Phänomen der Literatur gemacht hatte. Ausverkaufte Lesereisen, Reportageprojekte für den "New Yorker" und die "New York Times", Skandale um Persönlichkeitsverletzungen: Der Norweger war mit der abertausendseitigen Erzählung seines eigenen Lebens als Mann im Westen des 21. Jahrhunderts zum Star des Memoir-Genres aufgestiegen. Knausgård hatte dieses Genre zwar nicht erfunden (Autorinnen von Joan Didion bis Annie Ernaux können sich das zuschreiben), er hatte dann aber einen solchen Hype ausgelöst, dass sein Rückzug nur logisch erschien. Am Ende seines letzten autobiografischen Bandes, "Kämpfen" (auf Deutsch 2017), kündigte er dann auch an, nicht mehr schreiben zu wollen.
Das hielt er nicht durch. Er begann den nächsten Zyklus über Jahreszeiten, kuratierte eine eigene Ausstellung mit Gemälden seines Landsmanns Edvard Munch, im Herbst 2020 kam dann sein Debütroman "Aus der Welt" (1998) erstmals auf Deutsch heraus - und jetzt also folgt "Der Morgenstern" - ein neunhundertseitiges Buch, das Knausgårds Beschäftigung mit Tod und Religion und Apokalypse fortsetzt - und lange so wirkt, als würde er hier nur den nächsten jener Romane über eine verschobene Wirklichkeit eigenartiger Naturphänomene schreiben, die seit einiger Zeit ständig erscheinen: ein bisschen seltsame Tiere, ein paar atmosphärische Störungen und eine Welt, die aus den Fugen gerät und ihre Menschen damit ins Rutschen bringt. Sind sie schuld daran? "Warum wurde die Welt unruhig? Was quälte sie, woran dachte sie?"
Die Menschen unter dem neuen Stern sind: Emil, der in der Kita arbeitet, Iselin, die an der Supermarktkasse steht, Arne, der mit seiner Familie Ferien am Fjord macht und mit dem Bibelforscher Egil befreundet ist, Jostein, der eklige Journalist, Turid, dessen Frau, die in der Psychiatrie arbeitet, Kathrine, die Pfarrerin, die Krankenschwester Solveig, die Kuratorin Vibeke. Nach und nach wird klar, dass sie untereinander verbunden sind, Kathrine ist beispielsweise mit Egil zur Schule gegangen. Aber was sie eigentlich verbindet, ist ihre Unverbundenheit: Dieser Bruch zwischen all diesen Figuren und ihren Männern, Frauen, Kindern, Müttern. Der mangelnde Austausch, die Beschädigung und Unerfülltheit, die sie alle teilen: Hier ist niemand im Reinen mit sich, hier malt sich jeder und jede etwas Besseres für sich aus oder wünscht sich, dass die, mit denen sie ihr Leben teilen, anders wären.
Knausgårds Interesse daran, was Individualität eigentlich ist, seine Suche nach der richtigen Dosis aus Nähe und Alleinsein kehren also wieder, aber diesmal in Gestalt einer ganzen Reihe von Menschen: Sie alle erzählen in eigenen Kapiteln aus der Ich-Perspektive von ihren Tagen unter dem Morgenstern. Und wie Knausgård es schafft, auch in diesem Roman wieder einen Grad an beiläufiger Lebensverlabertheit zu erreichen, wie hier ein Text zu einer Situation wird, das ist einfach erstaunlich. Man merkt dem Roman gar nicht an, dass er geschrieben worden ist, so makellos verlabert ist er. Einmal versucht Arne, der Familienvater, ein Kätzchen unter seinem Bett hervorzulocken: "Ich hatte es ins Bett mitnehmen wollen, damit es neben mir schlafen und ein wenig Gesellschaft bekommen konnte. Jetzt muss es mit seinem pochenden Herzen und seinen leuchtenden Augen unter mir auf dem Fußboden liegen, dachte ich oder sah es eher vor mir, denn Gedanken kommen ebenso als Bilder wie auch als Worte, ähnlich wie das Licht sowohl in Wellen wie auch in Partikeln kommt, könnte man sich vorstellen, und das hatte ich natürlich viele Male getan." Am letzten Halbsatz hängt der Witz. Was man halt so redet, mit sich selbst.
Aber während im sechsbändigen autobiografischen Projekt diese hochtourige Prosamaschine noch dazu da war, einen vergangenen Augenblick schreibend wieder an sich heranzuholen, merkt man beim neuen Roman schnell, dass der Sound zwar noch immer dazu dient, Figuren zum Leben zu erwecken und Konflikte anzufeuern (Knausgård ist der Chef, wenn es um demolierte Ehekommunikation geht), es dem Autor aber doch wohl vor allem um die Meditation einer Endzeiterfahrung geht: Was, wenn eines Tages ein Stern am Himmel erscheint und wir gerichtet sind? Was, wenn unsere Bedürfnisse nach Einzigartigkeit, unsere Herzlosigkeit und der ganze Ehrgeiz nicht ungestraft bleiben?
"Mir drängte sich das Gefühl auf, dass er etwas über mich wusste, was mir selbst nicht bekannt war", sagt Arne früh im Roman über Egil. "Dieses Gefühl überkam mich oft, wenn ich mich mit Egil unterhielt." Dass Egil in diesem Buch das letzte Wort behält und er es dazu nutzt, sich den Tod vorzustellen, den er sich nicht vorstellen kann, und sich dazu einmal quer durch die Überlieferung des Abendlandes zitiert, gibt der Geschichte eine Richtung, der man aber nicht trauen muss.
Knausgård hat dann auch noch eine Website zu seinem Roman gestaltet (themorningstar.no), die wie ein Mood Board düstere Fotos von Tod und All und Ewigkeit und einen Soundtrack und eine Bücherliste zu seinen Figuren versammelt: Was aus dem religiösen Drift seines neuen Romans dann doch eine stark ästhetische Veranstaltung macht: dieser unwiderstehliche Schauder, sich Bilder von William Blake anzuschauen und dazu Songs von Nick Cave anzuhören. "Es sieht so aus, als stellte sich, wenn die Dunkelheit tiefer und tiefer wird, ein Steigerungseffekt ein", schrieb Stephen King in "Friedhof der Kuscheltiere": "Die menschliche Erfahrung neigt, so ungern man es auch zugeben mag, in vielerlei Hinsicht zu der Vorstellung, dass, wenn der Albtraum schwarz genug ist, Grauen weiteres Grauen hervorbringt." In Kings Dystopien schafft das Grauen aber am Ende immer Solidarität. Karl Ove Knausgård spart diese Frage in seinem neuen Roman aus. "Der Morgenstern" ist etwas für Fans. Und das passt dann wieder zu seinem Autor.
TOBIAS RÜTHER
Karl Ove Knausgård, "Der Morgenstern". Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, 896 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im neuen Roman des norwegischen Autors Karl Ove Knausgård erscheint ein neuer Stern am Himmel. Was nach religiöser Meditation klingt, könnte aber auch nur die Lust am Schauder sein.
Es gibt in den Geschichten des amerikanischen Schriftstellers Stephen King immer wieder den Augenblick, an dem eine Gruppe von ganz normalen Menschen, die von einem Horror heimgesucht werden, den sie sich nicht erklären können, verstehen, dass er real ist. Dass er nicht mehr aus der Welt wegzuerklären ist. Dass wirklich der Teufel in ihre Kleinstadt eingezogen ist. Die Vampire kommen. Die Toten auferstehen. Und sich das niemand eingebildet hat. "Die erschreckendste Frage dürfte sein, wie viel Grauen der menschliche Geist zu ertragen vermag, ohne seine wache, offene, unverminderte Gesundheit einzubüßen", heißt es in Kings "Friedhof der Kuscheltiere" von 1983. "Von einem bestimmten Punkt an wird alles fast komisch, und das kann der Punkt sein, an dem die geistige Gesundheit entweder obsiegt oder sich biegt und zusammenbricht, der Punkt, an dem sich der Sinn eines Menschen für Humor wieder durchzusetzen beginnt."
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård steuert diesen Punkt, an dem das Unwirkliche zur Wirklichkeit wird und sich alle auf diese neue Wirklichkeit verständigen, in seinem neuen Roman lange an - um ihn aber dann zu überspringen. Jostein, einer aus der Gruppe von Menschen, um die es in "Der Morgenstern" geht, ein ziemlich ekelhafter Journalist, wacht nach dreizehn Tagen Koma im Krankenhaus wieder auf. Er ist an einer irren Geschichte dran gewesen und will sofort wieder einsteigen, es geht um eine satanistische Heavy-Metal-Band, die rituell umgebracht worden ist; Jostein hatte vom Tatort berichtet, bevor dann alles dunkel um ihn wurde. "Sie können es ruhig angehen lassen", sagt sein Arzt jetzt aber lächelnd. "In den letzten zwei Wochen ist so viel mehr passiert, dass sich dafür bestimmt keiner mehr interessiert." Was denn, fragt Jostein, was könnte größer sein als meine Story?
Wir werden es nicht erfahren. Denn an dieser Stelle, nach achthundert Seiten über sehr heiße Tage in der norwegischen Küstenstadt Bergen, Tage, an denen Menschen schreiend durch die Straßen rennen oder in Zungen reden, Vögel mit Schuppen und Kindergesichtern durch die Luft fliegen, Krebse aus dem Meer in die Wälder fliehen, eine Pfarrerin einen Mann beerdigt, mit dem sie am Abend zuvor noch im Flugzeug gesessen hat und den sie auch nach der Beerdigung wiedersieht, Tage, an denen ein Riese mit Stierkopf und drei Zöpfen am nackten Schädel im Unterholz auftaucht und vor allem ein neuer Stern am Himmel erscheint, hell und groß und dominant, bricht Knausgård seine Handlung ab.
Und lässt den Roman dann knapp hundert Seiten lang mit einem Essay enden: "Über den Tod und die Toten". Den hat eine seiner Figuren geschrieben, Egil, der als Privatier in einem Sommerhaus am Fjord lebt, dort seinen Kierkegaard- und Bibelforschungen nachgeht und dessen Erkenntnisse nun in den Essay einfließen. Der dreht sich erst um drei Fragen - "Was ist der Tod? Was ist der Körper? Was ist der Traum?" -, um dann doch wieder zu einer Erzählung zu werden, zu einer Erinnerung an einen unbekannten Mann, Frank, den Egil zufällig im Zug kennengelernt hatte, um ihn dann auf die Beerdigung seiner Tochter zu begleiten, die danach beiden noch einmal erscheint. Diese Erinnerung schließt dann ab mit dem Auftauchen des Morgensterns am Himmel über Bergen. Was in den dreizehn Tagen danach geschieht, bleibt unausgesprochen.
Diese Technik, Texte und Essays in Romane einzuschieben, hatte Karl Ove Knausgård schon in den sechs Bänden seines autobiografischen Projekts praktiziert, das ihn vor Jahren für kurze Zeit lang zu dem internationalen Phänomen der Literatur gemacht hatte. Ausverkaufte Lesereisen, Reportageprojekte für den "New Yorker" und die "New York Times", Skandale um Persönlichkeitsverletzungen: Der Norweger war mit der abertausendseitigen Erzählung seines eigenen Lebens als Mann im Westen des 21. Jahrhunderts zum Star des Memoir-Genres aufgestiegen. Knausgård hatte dieses Genre zwar nicht erfunden (Autorinnen von Joan Didion bis Annie Ernaux können sich das zuschreiben), er hatte dann aber einen solchen Hype ausgelöst, dass sein Rückzug nur logisch erschien. Am Ende seines letzten autobiografischen Bandes, "Kämpfen" (auf Deutsch 2017), kündigte er dann auch an, nicht mehr schreiben zu wollen.
Das hielt er nicht durch. Er begann den nächsten Zyklus über Jahreszeiten, kuratierte eine eigene Ausstellung mit Gemälden seines Landsmanns Edvard Munch, im Herbst 2020 kam dann sein Debütroman "Aus der Welt" (1998) erstmals auf Deutsch heraus - und jetzt also folgt "Der Morgenstern" - ein neunhundertseitiges Buch, das Knausgårds Beschäftigung mit Tod und Religion und Apokalypse fortsetzt - und lange so wirkt, als würde er hier nur den nächsten jener Romane über eine verschobene Wirklichkeit eigenartiger Naturphänomene schreiben, die seit einiger Zeit ständig erscheinen: ein bisschen seltsame Tiere, ein paar atmosphärische Störungen und eine Welt, die aus den Fugen gerät und ihre Menschen damit ins Rutschen bringt. Sind sie schuld daran? "Warum wurde die Welt unruhig? Was quälte sie, woran dachte sie?"
Die Menschen unter dem neuen Stern sind: Emil, der in der Kita arbeitet, Iselin, die an der Supermarktkasse steht, Arne, der mit seiner Familie Ferien am Fjord macht und mit dem Bibelforscher Egil befreundet ist, Jostein, der eklige Journalist, Turid, dessen Frau, die in der Psychiatrie arbeitet, Kathrine, die Pfarrerin, die Krankenschwester Solveig, die Kuratorin Vibeke. Nach und nach wird klar, dass sie untereinander verbunden sind, Kathrine ist beispielsweise mit Egil zur Schule gegangen. Aber was sie eigentlich verbindet, ist ihre Unverbundenheit: Dieser Bruch zwischen all diesen Figuren und ihren Männern, Frauen, Kindern, Müttern. Der mangelnde Austausch, die Beschädigung und Unerfülltheit, die sie alle teilen: Hier ist niemand im Reinen mit sich, hier malt sich jeder und jede etwas Besseres für sich aus oder wünscht sich, dass die, mit denen sie ihr Leben teilen, anders wären.
Knausgårds Interesse daran, was Individualität eigentlich ist, seine Suche nach der richtigen Dosis aus Nähe und Alleinsein kehren also wieder, aber diesmal in Gestalt einer ganzen Reihe von Menschen: Sie alle erzählen in eigenen Kapiteln aus der Ich-Perspektive von ihren Tagen unter dem Morgenstern. Und wie Knausgård es schafft, auch in diesem Roman wieder einen Grad an beiläufiger Lebensverlabertheit zu erreichen, wie hier ein Text zu einer Situation wird, das ist einfach erstaunlich. Man merkt dem Roman gar nicht an, dass er geschrieben worden ist, so makellos verlabert ist er. Einmal versucht Arne, der Familienvater, ein Kätzchen unter seinem Bett hervorzulocken: "Ich hatte es ins Bett mitnehmen wollen, damit es neben mir schlafen und ein wenig Gesellschaft bekommen konnte. Jetzt muss es mit seinem pochenden Herzen und seinen leuchtenden Augen unter mir auf dem Fußboden liegen, dachte ich oder sah es eher vor mir, denn Gedanken kommen ebenso als Bilder wie auch als Worte, ähnlich wie das Licht sowohl in Wellen wie auch in Partikeln kommt, könnte man sich vorstellen, und das hatte ich natürlich viele Male getan." Am letzten Halbsatz hängt der Witz. Was man halt so redet, mit sich selbst.
Aber während im sechsbändigen autobiografischen Projekt diese hochtourige Prosamaschine noch dazu da war, einen vergangenen Augenblick schreibend wieder an sich heranzuholen, merkt man beim neuen Roman schnell, dass der Sound zwar noch immer dazu dient, Figuren zum Leben zu erwecken und Konflikte anzufeuern (Knausgård ist der Chef, wenn es um demolierte Ehekommunikation geht), es dem Autor aber doch wohl vor allem um die Meditation einer Endzeiterfahrung geht: Was, wenn eines Tages ein Stern am Himmel erscheint und wir gerichtet sind? Was, wenn unsere Bedürfnisse nach Einzigartigkeit, unsere Herzlosigkeit und der ganze Ehrgeiz nicht ungestraft bleiben?
"Mir drängte sich das Gefühl auf, dass er etwas über mich wusste, was mir selbst nicht bekannt war", sagt Arne früh im Roman über Egil. "Dieses Gefühl überkam mich oft, wenn ich mich mit Egil unterhielt." Dass Egil in diesem Buch das letzte Wort behält und er es dazu nutzt, sich den Tod vorzustellen, den er sich nicht vorstellen kann, und sich dazu einmal quer durch die Überlieferung des Abendlandes zitiert, gibt der Geschichte eine Richtung, der man aber nicht trauen muss.
Knausgård hat dann auch noch eine Website zu seinem Roman gestaltet (themorningstar.no), die wie ein Mood Board düstere Fotos von Tod und All und Ewigkeit und einen Soundtrack und eine Bücherliste zu seinen Figuren versammelt: Was aus dem religiösen Drift seines neuen Romans dann doch eine stark ästhetische Veranstaltung macht: dieser unwiderstehliche Schauder, sich Bilder von William Blake anzuschauen und dazu Songs von Nick Cave anzuhören. "Es sieht so aus, als stellte sich, wenn die Dunkelheit tiefer und tiefer wird, ein Steigerungseffekt ein", schrieb Stephen King in "Friedhof der Kuscheltiere": "Die menschliche Erfahrung neigt, so ungern man es auch zugeben mag, in vielerlei Hinsicht zu der Vorstellung, dass, wenn der Albtraum schwarz genug ist, Grauen weiteres Grauen hervorbringt." In Kings Dystopien schafft das Grauen aber am Ende immer Solidarität. Karl Ove Knausgård spart diese Frage in seinem neuen Roman aus. "Der Morgenstern" ist etwas für Fans. Und das passt dann wieder zu seinem Autor.
TOBIAS RÜTHER
Karl Ove Knausgård, "Der Morgenstern". Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, 896 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Aldo Keel stellt sich mit Karl Ove Knausgard die Frage nach dem Tod und seiner Wirklichkeit. Für Keel gelingt dem Autor mit diesem Buch der Ausbruch aus dem Kerker der Autofiktion. Stark findet Keel die Konzentration des massigen Textes auf zwei Sommertage in Bergen und das Erscheinen eines Himmelsphänomens, das die Menschen aus der Fassung bringt. Krebse fliegen und Tote erwachen zum Leben und Keel fühlt sich wie bei Stephen King. Oder wie bei einem spirituell gewordenen Knausgard.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.04.2022Wird böse
enden
Die Welt ist außer Rand und Band,
aber der Alltag muss weitergehen:
Karl Ove Knausgårds „Der Morgenstern“ ist
ein Roman für alle, die mit seiner Ich-Beschau
bisher nichts anfangen konnten
VON JOHANNA-CHARLOTTE HORST
Die Dinge gehen ihren gewohnten Gang. Der Alltag läuft einfach weiter. Und doch ist alles in ein anderes Licht getaucht. Am Himmel gibt es einen neuen Stern. Die Leute nennen ihn Morgenstern. Ohne Eile erzählt Karl Ove Knausgård in seinem Roman „Der Morgenstern“ alles, was nur irgendwie erzählbar ist. Die üblichen Knausgård-Zutaten fehlen nicht. Es werden Kinder gefüttert, Küchen aufgeräumt, Kaffee getrunken, Zigaretten geraucht. Ab und zu schieben sich mehr oder weniger gescheite Reflexionen über Gott und die Welt zwischen die alltäglichen Routinen. Und auch der besondere Sound ist zum Glück noch da. Wer Knausgård kauft, will auch Knausgård lesen. Er ist mittlerweile zu einer Marke geworden. Sie ist so markant, dass man sie entweder liebt und nach immer mehr vom Gleichen lechzt. Oder man will nichts mehr von diesem narzisstischen Norweger hören.
Das Geschehen entfaltet sich über mehrere Hundert Seiten in epischer, präziser: in episodischer Breite. Denn eines ist doch neu an diesem neuen Buch: Knausgårds stabile Ich-Konzentration, die die Leserschaft bisher zur Identifikation von Erzähler und Autor zwang, zerstreut sich auf die Vielfalt verschiedener Perspektiven.
Zwei Tage erzählte Zeit verteilen sich auf fünf Erzählerinnen und vier Erzähler. Augenscheinlich war der Autor bei der Zusammenstellung seines Figuren-Ensembles um Vielfalt bemüht. Da gibt es eine sehr junge Frau mit türkisch klingendem Namen und einen verwirrten Literaturprofessor, der wie sein Freund, ein Dokumentarfilmer, zu viel Alkohol trinkt. Da gibt es eine Krankenschwester, die ihre Arbeit hasst und ihren Ehemann, ein abgehalfterter Journalist, der um Aufmerksamkeit ringt, eine Pastorin, die unglücklich und eine Kuratorin, die glücklich verheiratet ist. Einen Diversitäts-Check würde diese Gruppe sicher nicht bestehen. Wahrscheinlich geht es dem Autor darum auch gar nicht. Trotz ihrer je eigenen Erfahrungen leben alle Figuren in der gleichen Welt. Und zwar in einer, die mit dem Auftauchen des unbekannten Sterns aus den Fugen zu geraten droht.
Damit trifft Knausgård, was die kollektive Erfahrung der Gegenwart ausmacht. Pandemie, Krieg und Klimawandel machen kaum Halt vor dem Alltagsleben. Nur noch punktuell lassen sich die verschiedenen Krisen ignorieren.
Jostein, einer der Protagonisten, bringt auf den Punkt, was auch die anderen auf die eine oder andere Weise fühlen. Der Stern sei „schön und unheimlich“. Warum unheimlich? Jostein findet erst einmal keine Antwort darauf. Wie alle anderen hofft auch er auf eine wissenschaftliche Erklärung. Von einer ähnlich bedrohlichen Erfahrung berichtete Don DeLillos Roman „Weißes Rauschen“ aus dem Jahr 1985. Ein Chemieunfall mit unabsehbaren Folgen stürzt das Leben einer US-amerikanischen Kleinstadt ins Chaos. Nebeneffekt des Debakels sind besonders farbintensive Sonnenuntergänge. Obwohl alle die Ursache für das Naturspektakel kennen, wird das ästhetische Vergnügen in vollen Zügen genossen.
Auch in „Der Morgenstern“ begegnet man der Schönheit des Sterns ambivalent. Die Menschen fürchten, dass er eine Katastrophe ankündigt. Eine der Erzählerinnen weiß: „Etwas Schreckliches würde geschehen.“ Quälend ist in dieser Situation vor allem die Ungewissheit darüber, was das sein könnte. Kierkegaard, der bei Knausgård immer dann auftaucht, wenn Tiefsinn auf dem Plan steht, unterscheidet zwischen Furcht und Angst. Man fürchtet sich vor etwas Bestimmten, vor Unbekanntem hat man Angst. Wie in einem Horrorfilm ist der Grusel gerade deshalb so unerträglich, weil man nicht weiß, was einen erwartet. Der Morgenstern steht wie ein Zeichen am Himmel, das nicht entzifferbar ist. Gleichzeitig passieren auf der Erde unerklärliche Dinge: Vögel kreischen ganz anders als sonst, Elche kommen den Menschen viel näher als üblich, klinisch für tot erklärte Menschen wachen gegen alle wissenschaftliche Vernunft wieder auf.
Offensichtlich hat all das mit dem Auftauchen des Sterns zu tun. Aber wie, bleibt bis zum Schluss ein Rätsel. Die Spannung wird im Laufe des Buches immer größer. Oft brechen die Episoden gerade dann abrupt ab, wenn die Leserin sich kurz vor der Auflösung wähnt. Die Welt ist aus den Fugen. Etwas Grundsätzliches stimmt nicht mehr. Dabei lässt der große Knall auf sich warten. Den Protagonisten bleibt nichts anderes, als weiterzumachen wie immer. So kann Knausgård bei seinem Lieblingsthema bleiben und ausführlich über den Alltag schreiben. Der Leserin geht es ähnlich wie den Romanfiguren: Alles erscheint normal im Knausgård-Universum. Er erzählt mal wieder vom Einkaufen und Aufräumen, während es im Untergrund brodelt.
Wenn eine der Romanheldinnen feststellt, der Stern definiere den Himmel neu, dann ist das auch ein Sinnbild für die Poetik dieses Romans. Der Autor probiert hier etwas Neues aus. Er erzählt zwar noch von Alltäglichem, gleichzeitig aber auch von einer weltumspannenden Krise: „Es ging darum, dass die Welt, so still und glatt, auf einmal anfing, unruhig zu werden.“
Diesen Satz denkt der Ich-Erzähler Egil, der fürs Theoretische zuständig ist. Mit einem Essay, als dessen Autor diese Figur firmiert, endet der Roman. Er trägt den existenziellen Titel „Über den Tod und die Toten“. Zwischen Philosophischem und Anekdotischem mäandernd kommen hier die vielen narrativen Fäden in der Frage nach dem Tod zusammen. Der Essayist meint erkannt zu haben, dass die Schriftsprache der Horizont der Kultur, der Tod der Horizont des Lebens sei.
Die Schriftsprache sei als Erstes dazu benutzt worden, sich dem Tod zuzuwenden. Kurz: Alle Literatur hat mit dem Tod zu tun. Das klingt nach flachem Tiefsinn. Wann immer Knausgård Essayartiges in seine Bücher hineinmontiert, unterbricht er seine Poetik des Rohen, die auf das Lektorat programmatisch verzichtet. In diesem Modus überträgt sich der Rausch des Schreibens auf die Leserschaft. Wie beim Binge-Watching von Serien führt Knausgårds Binge-Writing zum Binge-Reading. Egils Essay bremst diese Dynamik am Ende aus, ohne dass er mehr als Bildungsbeflissenes zu schreiben weiß.
Interessant ist dennoch, dass Knausgård selbst sich beim Schreiben immer schon mit dem Tod beschäftigt hat. Das ist nicht zu überlesen. Der erste Band seiner monumentalen Autobiografie trägt den Titel „Sterben“. Gleich zu Beginn ist da von der Allgegenwart der Toten die Rede. Mehrere Tausend Seiten später wird der Tod gar als Metapher für den Alltag ausgewiesen. Die Gewissheit zu sterben, so Knausgård, ist die „vollständige menschliche Katastrophe“. Sie ist nicht außeralltäglich, sondern steckt immer schon im Gewöhnlichen. In „Der Morgenstern“ tritt der Tod unter umgekehrten Vorzeichen auf. Bedrohlich ist nicht das Sterben. Als noch schrecklicher erweist es sich, wenn niemand mehr ins Reich der Toten Einlass findet. Der Dante-Leser Knausgård ist mit der Architektur des Limbus vertraut. Schön ist sie nicht. In einem Essay zur „Göttlichen Komödie“ stellt Knausgård die Vorhölle vor Augen. Eine Landschaft voll blubbernden Schlamms und stinkenden Morasts, in der die beschädigten Körper der Untoten herumlungern und keine Ruhe finden.
Am Ende von „Der Morgenstern“, so viel sei verraten, wird einer der Protagonisten an den Rand des Totenreichs katapultiert. Warum und wie es weitergeht, das erfährt die Leserschaft hoffentlich in den angekündigten Fortsetzungsromanen. Knausgård scheint nicht anders zu können, als einfach immer weiter zu schreiben. Wer nicht warten möchte, der kann zur Auflösung im Gesamtœuvre von vorn anfangen. Da ist alles schon gesagt. Denn Knausgård produziert nicht einfach ein Buch nach dem anderen, er erschafft eine ganze Welt, in der alles mit allem zusammenhängt. Das ist aufregend und stattet jedes neue Werk mit einer besonderen Wucht aus.
Und wer es mit den autobiografischen Büchern versucht hat, aber nicht für den Charme des Familienvaters Knausgård empfänglich ist, wer nicht wissen will, was bei den Knausgårds zurzeit los ist, für den könnte „Der Morgenstern“ doch noch etwas sein. In diesem Buch geht es nicht um das Privatleben des Autors, sondern um die Gegenwart und ihre Krisen.
Knausgård schreibt nicht einfach
ein Buch nach dem anderen,
er erschafft eine ganze Welt
Karl Ove Knausgård:
Der Morgenstern. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand,
München 2022.
896 Seiten, 28 Euro.
Beginnt einen neuen Mehrteiler: Der norwegische Autor Karl Ove Knausgård.
Foto: Beatrice Lundborg/imago/TT
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
enden
Die Welt ist außer Rand und Band,
aber der Alltag muss weitergehen:
Karl Ove Knausgårds „Der Morgenstern“ ist
ein Roman für alle, die mit seiner Ich-Beschau
bisher nichts anfangen konnten
VON JOHANNA-CHARLOTTE HORST
Die Dinge gehen ihren gewohnten Gang. Der Alltag läuft einfach weiter. Und doch ist alles in ein anderes Licht getaucht. Am Himmel gibt es einen neuen Stern. Die Leute nennen ihn Morgenstern. Ohne Eile erzählt Karl Ove Knausgård in seinem Roman „Der Morgenstern“ alles, was nur irgendwie erzählbar ist. Die üblichen Knausgård-Zutaten fehlen nicht. Es werden Kinder gefüttert, Küchen aufgeräumt, Kaffee getrunken, Zigaretten geraucht. Ab und zu schieben sich mehr oder weniger gescheite Reflexionen über Gott und die Welt zwischen die alltäglichen Routinen. Und auch der besondere Sound ist zum Glück noch da. Wer Knausgård kauft, will auch Knausgård lesen. Er ist mittlerweile zu einer Marke geworden. Sie ist so markant, dass man sie entweder liebt und nach immer mehr vom Gleichen lechzt. Oder man will nichts mehr von diesem narzisstischen Norweger hören.
Das Geschehen entfaltet sich über mehrere Hundert Seiten in epischer, präziser: in episodischer Breite. Denn eines ist doch neu an diesem neuen Buch: Knausgårds stabile Ich-Konzentration, die die Leserschaft bisher zur Identifikation von Erzähler und Autor zwang, zerstreut sich auf die Vielfalt verschiedener Perspektiven.
Zwei Tage erzählte Zeit verteilen sich auf fünf Erzählerinnen und vier Erzähler. Augenscheinlich war der Autor bei der Zusammenstellung seines Figuren-Ensembles um Vielfalt bemüht. Da gibt es eine sehr junge Frau mit türkisch klingendem Namen und einen verwirrten Literaturprofessor, der wie sein Freund, ein Dokumentarfilmer, zu viel Alkohol trinkt. Da gibt es eine Krankenschwester, die ihre Arbeit hasst und ihren Ehemann, ein abgehalfterter Journalist, der um Aufmerksamkeit ringt, eine Pastorin, die unglücklich und eine Kuratorin, die glücklich verheiratet ist. Einen Diversitäts-Check würde diese Gruppe sicher nicht bestehen. Wahrscheinlich geht es dem Autor darum auch gar nicht. Trotz ihrer je eigenen Erfahrungen leben alle Figuren in der gleichen Welt. Und zwar in einer, die mit dem Auftauchen des unbekannten Sterns aus den Fugen zu geraten droht.
Damit trifft Knausgård, was die kollektive Erfahrung der Gegenwart ausmacht. Pandemie, Krieg und Klimawandel machen kaum Halt vor dem Alltagsleben. Nur noch punktuell lassen sich die verschiedenen Krisen ignorieren.
Jostein, einer der Protagonisten, bringt auf den Punkt, was auch die anderen auf die eine oder andere Weise fühlen. Der Stern sei „schön und unheimlich“. Warum unheimlich? Jostein findet erst einmal keine Antwort darauf. Wie alle anderen hofft auch er auf eine wissenschaftliche Erklärung. Von einer ähnlich bedrohlichen Erfahrung berichtete Don DeLillos Roman „Weißes Rauschen“ aus dem Jahr 1985. Ein Chemieunfall mit unabsehbaren Folgen stürzt das Leben einer US-amerikanischen Kleinstadt ins Chaos. Nebeneffekt des Debakels sind besonders farbintensive Sonnenuntergänge. Obwohl alle die Ursache für das Naturspektakel kennen, wird das ästhetische Vergnügen in vollen Zügen genossen.
Auch in „Der Morgenstern“ begegnet man der Schönheit des Sterns ambivalent. Die Menschen fürchten, dass er eine Katastrophe ankündigt. Eine der Erzählerinnen weiß: „Etwas Schreckliches würde geschehen.“ Quälend ist in dieser Situation vor allem die Ungewissheit darüber, was das sein könnte. Kierkegaard, der bei Knausgård immer dann auftaucht, wenn Tiefsinn auf dem Plan steht, unterscheidet zwischen Furcht und Angst. Man fürchtet sich vor etwas Bestimmten, vor Unbekanntem hat man Angst. Wie in einem Horrorfilm ist der Grusel gerade deshalb so unerträglich, weil man nicht weiß, was einen erwartet. Der Morgenstern steht wie ein Zeichen am Himmel, das nicht entzifferbar ist. Gleichzeitig passieren auf der Erde unerklärliche Dinge: Vögel kreischen ganz anders als sonst, Elche kommen den Menschen viel näher als üblich, klinisch für tot erklärte Menschen wachen gegen alle wissenschaftliche Vernunft wieder auf.
Offensichtlich hat all das mit dem Auftauchen des Sterns zu tun. Aber wie, bleibt bis zum Schluss ein Rätsel. Die Spannung wird im Laufe des Buches immer größer. Oft brechen die Episoden gerade dann abrupt ab, wenn die Leserin sich kurz vor der Auflösung wähnt. Die Welt ist aus den Fugen. Etwas Grundsätzliches stimmt nicht mehr. Dabei lässt der große Knall auf sich warten. Den Protagonisten bleibt nichts anderes, als weiterzumachen wie immer. So kann Knausgård bei seinem Lieblingsthema bleiben und ausführlich über den Alltag schreiben. Der Leserin geht es ähnlich wie den Romanfiguren: Alles erscheint normal im Knausgård-Universum. Er erzählt mal wieder vom Einkaufen und Aufräumen, während es im Untergrund brodelt.
Wenn eine der Romanheldinnen feststellt, der Stern definiere den Himmel neu, dann ist das auch ein Sinnbild für die Poetik dieses Romans. Der Autor probiert hier etwas Neues aus. Er erzählt zwar noch von Alltäglichem, gleichzeitig aber auch von einer weltumspannenden Krise: „Es ging darum, dass die Welt, so still und glatt, auf einmal anfing, unruhig zu werden.“
Diesen Satz denkt der Ich-Erzähler Egil, der fürs Theoretische zuständig ist. Mit einem Essay, als dessen Autor diese Figur firmiert, endet der Roman. Er trägt den existenziellen Titel „Über den Tod und die Toten“. Zwischen Philosophischem und Anekdotischem mäandernd kommen hier die vielen narrativen Fäden in der Frage nach dem Tod zusammen. Der Essayist meint erkannt zu haben, dass die Schriftsprache der Horizont der Kultur, der Tod der Horizont des Lebens sei.
Die Schriftsprache sei als Erstes dazu benutzt worden, sich dem Tod zuzuwenden. Kurz: Alle Literatur hat mit dem Tod zu tun. Das klingt nach flachem Tiefsinn. Wann immer Knausgård Essayartiges in seine Bücher hineinmontiert, unterbricht er seine Poetik des Rohen, die auf das Lektorat programmatisch verzichtet. In diesem Modus überträgt sich der Rausch des Schreibens auf die Leserschaft. Wie beim Binge-Watching von Serien führt Knausgårds Binge-Writing zum Binge-Reading. Egils Essay bremst diese Dynamik am Ende aus, ohne dass er mehr als Bildungsbeflissenes zu schreiben weiß.
Interessant ist dennoch, dass Knausgård selbst sich beim Schreiben immer schon mit dem Tod beschäftigt hat. Das ist nicht zu überlesen. Der erste Band seiner monumentalen Autobiografie trägt den Titel „Sterben“. Gleich zu Beginn ist da von der Allgegenwart der Toten die Rede. Mehrere Tausend Seiten später wird der Tod gar als Metapher für den Alltag ausgewiesen. Die Gewissheit zu sterben, so Knausgård, ist die „vollständige menschliche Katastrophe“. Sie ist nicht außeralltäglich, sondern steckt immer schon im Gewöhnlichen. In „Der Morgenstern“ tritt der Tod unter umgekehrten Vorzeichen auf. Bedrohlich ist nicht das Sterben. Als noch schrecklicher erweist es sich, wenn niemand mehr ins Reich der Toten Einlass findet. Der Dante-Leser Knausgård ist mit der Architektur des Limbus vertraut. Schön ist sie nicht. In einem Essay zur „Göttlichen Komödie“ stellt Knausgård die Vorhölle vor Augen. Eine Landschaft voll blubbernden Schlamms und stinkenden Morasts, in der die beschädigten Körper der Untoten herumlungern und keine Ruhe finden.
Am Ende von „Der Morgenstern“, so viel sei verraten, wird einer der Protagonisten an den Rand des Totenreichs katapultiert. Warum und wie es weitergeht, das erfährt die Leserschaft hoffentlich in den angekündigten Fortsetzungsromanen. Knausgård scheint nicht anders zu können, als einfach immer weiter zu schreiben. Wer nicht warten möchte, der kann zur Auflösung im Gesamtœuvre von vorn anfangen. Da ist alles schon gesagt. Denn Knausgård produziert nicht einfach ein Buch nach dem anderen, er erschafft eine ganze Welt, in der alles mit allem zusammenhängt. Das ist aufregend und stattet jedes neue Werk mit einer besonderen Wucht aus.
Und wer es mit den autobiografischen Büchern versucht hat, aber nicht für den Charme des Familienvaters Knausgård empfänglich ist, wer nicht wissen will, was bei den Knausgårds zurzeit los ist, für den könnte „Der Morgenstern“ doch noch etwas sein. In diesem Buch geht es nicht um das Privatleben des Autors, sondern um die Gegenwart und ihre Krisen.
Knausgård schreibt nicht einfach
ein Buch nach dem anderen,
er erschafft eine ganze Welt
Karl Ove Knausgård:
Der Morgenstern. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand,
München 2022.
896 Seiten, 28 Euro.
Beginnt einen neuen Mehrteiler: Der norwegische Autor Karl Ove Knausgård.
Foto: Beatrice Lundborg/imago/TT
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