Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Im neuen Roman des norwegischen Autors Karl Ove Knausgård erscheint ein neuer Stern am Himmel. Was nach religiöser Meditation klingt, könnte aber auch nur die Lust am Schauder sein.
Es gibt in den Geschichten des amerikanischen Schriftstellers Stephen King immer wieder den Augenblick, an dem eine Gruppe von ganz normalen Menschen, die von einem Horror heimgesucht werden, den sie sich nicht erklären können, verstehen, dass er real ist. Dass er nicht mehr aus der Welt wegzuerklären ist. Dass wirklich der Teufel in ihre Kleinstadt eingezogen ist. Die Vampire kommen. Die Toten auferstehen. Und sich das niemand eingebildet hat. "Die erschreckendste Frage dürfte sein, wie viel Grauen der menschliche Geist zu ertragen vermag, ohne seine wache, offene, unverminderte Gesundheit einzubüßen", heißt es in Kings "Friedhof der Kuscheltiere" von 1983. "Von einem bestimmten Punkt an wird alles fast komisch, und das kann der Punkt sein, an dem die geistige Gesundheit entweder obsiegt oder sich biegt und zusammenbricht, der Punkt, an dem sich der Sinn eines Menschen für Humor wieder durchzusetzen beginnt."
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård steuert diesen Punkt, an dem das Unwirkliche zur Wirklichkeit wird und sich alle auf diese neue Wirklichkeit verständigen, in seinem neuen Roman lange an - um ihn aber dann zu überspringen. Jostein, einer aus der Gruppe von Menschen, um die es in "Der Morgenstern" geht, ein ziemlich ekelhafter Journalist, wacht nach dreizehn Tagen Koma im Krankenhaus wieder auf. Er ist an einer irren Geschichte dran gewesen und will sofort wieder einsteigen, es geht um eine satanistische Heavy-Metal-Band, die rituell umgebracht worden ist; Jostein hatte vom Tatort berichtet, bevor dann alles dunkel um ihn wurde. "Sie können es ruhig angehen lassen", sagt sein Arzt jetzt aber lächelnd. "In den letzten zwei Wochen ist so viel mehr passiert, dass sich dafür bestimmt keiner mehr interessiert." Was denn, fragt Jostein, was könnte größer sein als meine Story?
Wir werden es nicht erfahren. Denn an dieser Stelle, nach achthundert Seiten über sehr heiße Tage in der norwegischen Küstenstadt Bergen, Tage, an denen Menschen schreiend durch die Straßen rennen oder in Zungen reden, Vögel mit Schuppen und Kindergesichtern durch die Luft fliegen, Krebse aus dem Meer in die Wälder fliehen, eine Pfarrerin einen Mann beerdigt, mit dem sie am Abend zuvor noch im Flugzeug gesessen hat und den sie auch nach der Beerdigung wiedersieht, Tage, an denen ein Riese mit Stierkopf und drei Zöpfen am nackten Schädel im Unterholz auftaucht und vor allem ein neuer Stern am Himmel erscheint, hell und groß und dominant, bricht Knausgård seine Handlung ab.
Und lässt den Roman dann knapp hundert Seiten lang mit einem Essay enden: "Über den Tod und die Toten". Den hat eine seiner Figuren geschrieben, Egil, der als Privatier in einem Sommerhaus am Fjord lebt, dort seinen Kierkegaard- und Bibelforschungen nachgeht und dessen Erkenntnisse nun in den Essay einfließen. Der dreht sich erst um drei Fragen - "Was ist der Tod? Was ist der Körper? Was ist der Traum?" -, um dann doch wieder zu einer Erzählung zu werden, zu einer Erinnerung an einen unbekannten Mann, Frank, den Egil zufällig im Zug kennengelernt hatte, um ihn dann auf die Beerdigung seiner Tochter zu begleiten, die danach beiden noch einmal erscheint. Diese Erinnerung schließt dann ab mit dem Auftauchen des Morgensterns am Himmel über Bergen. Was in den dreizehn Tagen danach geschieht, bleibt unausgesprochen.
Diese Technik, Texte und Essays in Romane einzuschieben, hatte Karl Ove Knausgård schon in den sechs Bänden seines autobiografischen Projekts praktiziert, das ihn vor Jahren für kurze Zeit lang zu dem internationalen Phänomen der Literatur gemacht hatte. Ausverkaufte Lesereisen, Reportageprojekte für den "New Yorker" und die "New York Times", Skandale um Persönlichkeitsverletzungen: Der Norweger war mit der abertausendseitigen Erzählung seines eigenen Lebens als Mann im Westen des 21. Jahrhunderts zum Star des Memoir-Genres aufgestiegen. Knausgård hatte dieses Genre zwar nicht erfunden (Autorinnen von Joan Didion bis Annie Ernaux können sich das zuschreiben), er hatte dann aber einen solchen Hype ausgelöst, dass sein Rückzug nur logisch erschien. Am Ende seines letzten autobiografischen Bandes, "Kämpfen" (auf Deutsch 2017), kündigte er dann auch an, nicht mehr schreiben zu wollen.
Das hielt er nicht durch. Er begann den nächsten Zyklus über Jahreszeiten, kuratierte eine eigene Ausstellung mit Gemälden seines Landsmanns Edvard Munch, im Herbst 2020 kam dann sein Debütroman "Aus der Welt" (1998) erstmals auf Deutsch heraus - und jetzt also folgt "Der Morgenstern" - ein neunhundertseitiges Buch, das Knausgårds Beschäftigung mit Tod und Religion und Apokalypse fortsetzt - und lange so wirkt, als würde er hier nur den nächsten jener Romane über eine verschobene Wirklichkeit eigenartiger Naturphänomene schreiben, die seit einiger Zeit ständig erscheinen: ein bisschen seltsame Tiere, ein paar atmosphärische Störungen und eine Welt, die aus den Fugen gerät und ihre Menschen damit ins Rutschen bringt. Sind sie schuld daran? "Warum wurde die Welt unruhig? Was quälte sie, woran dachte sie?"
Die Menschen unter dem neuen Stern sind: Emil, der in der Kita arbeitet, Iselin, die an der Supermarktkasse steht, Arne, der mit seiner Familie Ferien am Fjord macht und mit dem Bibelforscher Egil befreundet ist, Jostein, der eklige Journalist, Turid, dessen Frau, die in der Psychiatrie arbeitet, Kathrine, die Pfarrerin, die Krankenschwester Solveig, die Kuratorin Vibeke. Nach und nach wird klar, dass sie untereinander verbunden sind, Kathrine ist beispielsweise mit Egil zur Schule gegangen. Aber was sie eigentlich verbindet, ist ihre Unverbundenheit: Dieser Bruch zwischen all diesen Figuren und ihren Männern, Frauen, Kindern, Müttern. Der mangelnde Austausch, die Beschädigung und Unerfülltheit, die sie alle teilen: Hier ist niemand im Reinen mit sich, hier malt sich jeder und jede etwas Besseres für sich aus oder wünscht sich, dass die, mit denen sie ihr Leben teilen, anders wären.
Knausgårds Interesse daran, was Individualität eigentlich ist, seine Suche nach der richtigen Dosis aus Nähe und Alleinsein kehren also wieder, aber diesmal in Gestalt einer ganzen Reihe von Menschen: Sie alle erzählen in eigenen Kapiteln aus der Ich-Perspektive von ihren Tagen unter dem Morgenstern. Und wie Knausgård es schafft, auch in diesem Roman wieder einen Grad an beiläufiger Lebensverlabertheit zu erreichen, wie hier ein Text zu einer Situation wird, das ist einfach erstaunlich. Man merkt dem Roman gar nicht an, dass er geschrieben worden ist, so makellos verlabert ist er. Einmal versucht Arne, der Familienvater, ein Kätzchen unter seinem Bett hervorzulocken: "Ich hatte es ins Bett mitnehmen wollen, damit es neben mir schlafen und ein wenig Gesellschaft bekommen konnte. Jetzt muss es mit seinem pochenden Herzen und seinen leuchtenden Augen unter mir auf dem Fußboden liegen, dachte ich oder sah es eher vor mir, denn Gedanken kommen ebenso als Bilder wie auch als Worte, ähnlich wie das Licht sowohl in Wellen wie auch in Partikeln kommt, könnte man sich vorstellen, und das hatte ich natürlich viele Male getan." Am letzten Halbsatz hängt der Witz. Was man halt so redet, mit sich selbst.
Aber während im sechsbändigen autobiografischen Projekt diese hochtourige Prosamaschine noch dazu da war, einen vergangenen Augenblick schreibend wieder an sich heranzuholen, merkt man beim neuen Roman schnell, dass der Sound zwar noch immer dazu dient, Figuren zum Leben zu erwecken und Konflikte anzufeuern (Knausgård ist der Chef, wenn es um demolierte Ehekommunikation geht), es dem Autor aber doch wohl vor allem um die Meditation einer Endzeiterfahrung geht: Was, wenn eines Tages ein Stern am Himmel erscheint und wir gerichtet sind? Was, wenn unsere Bedürfnisse nach Einzigartigkeit, unsere Herzlosigkeit und der ganze Ehrgeiz nicht ungestraft bleiben?
"Mir drängte sich das Gefühl auf, dass er etwas über mich wusste, was mir selbst nicht bekannt war", sagt Arne früh im Roman über Egil. "Dieses Gefühl überkam mich oft, wenn ich mich mit Egil unterhielt." Dass Egil in diesem Buch das letzte Wort behält und er es dazu nutzt, sich den Tod vorzustellen, den er sich nicht vorstellen kann, und sich dazu einmal quer durch die Überlieferung des Abendlandes zitiert, gibt der Geschichte eine Richtung, der man aber nicht trauen muss.
Knausgård hat dann auch noch eine Website zu seinem Roman gestaltet (themorningstar.no), die wie ein Mood Board düstere Fotos von Tod und All und Ewigkeit und einen Soundtrack und eine Bücherliste zu seinen Figuren versammelt: Was aus dem religiösen Drift seines neuen Romans dann doch eine stark ästhetische Veranstaltung macht: dieser unwiderstehliche Schauder, sich Bilder von William Blake anzuschauen und dazu Songs von Nick Cave anzuhören. "Es sieht so aus, als stellte sich, wenn die Dunkelheit tiefer und tiefer wird, ein Steigerungseffekt ein", schrieb Stephen King in "Friedhof der Kuscheltiere": "Die menschliche Erfahrung neigt, so ungern man es auch zugeben mag, in vielerlei Hinsicht zu der Vorstellung, dass, wenn der Albtraum schwarz genug ist, Grauen weiteres Grauen hervorbringt." In Kings Dystopien schafft das Grauen aber am Ende immer Solidarität. Karl Ove Knausgård spart diese Frage in seinem neuen Roman aus. "Der Morgenstern" ist etwas für Fans. Und das passt dann wieder zu seinem Autor.
TOBIAS RÜTHER
Karl Ove Knausgård, "Der Morgenstern". Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, 896 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH