Adam Thirlwell, der brillanteste junge Kopf der britischen Literatur lässt uns teilhaben an seinen funkensprühenden Ideen und Gedanken: über das Glück des europäischen Romans, die Tücken des Übersetzens, die Freude am Lesen und am Leben an sich. Wir erfahren, warum die Übersetzung von >Madame Bovary< ins Englische einer gewissen Miss Herbert verloren ging, was es mit Nabokovs Lieblingsreisetasche auf sich hat und wieso uns die eigene Erfahrung stets überholt. Ein kluges und witziges Buch über Schriftsteller und Sprache, über Reisen von Rio nach Triest und Prag, und darüber, dass die Literatur eine Geschichte von Leidenschaft, Verlust und Irrtum ist.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Großartig findet Paul Ingendaay die Verve dieses jungen Autors. Dass Adam Thirlwell sich in diesem Buch einmal nicht mit einem eigenen Plot beschäftigt, sondern mit dem Abenteuer des Schreibens an sich, lässt den Rezensenten zwar zunächst skeptisch prüfen, was dabei Neues herauskommt (nicht sooo viel). Am Ende aber spielt das für Ingendaay keine große Rolle. Denn Thirlwell ist kein akademischer Langweiler. Das Umwerfende am Buch ist für Ingendaay gerade die Unerschrockenheit, mit der der Autor postmoderne Denbatten wieder aufgreift, um sie spielerisch seinen eigenen Steckenpferden anzupassen. Es geht um Poetik und die Anverwandlung fremder Texte als genuinen Teil des literarischen Prozesses, um Übersetzungsarbeit und ausdauernden Stil, um das Mikroskopische bei Kafka und die Häuslichkeit Flauberts. Für Ingendaay aber geht es nicht zuletzt darum, wie hier ein junger neugieriger Schreiber die Literaturgeschichte liest. Das geschieht zwar mitunter wolkig, kess und auch unvollständig, doch auch und vor allem mit Leidenschaft, erklärt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.01.2014Verachtet mir bloß Klau und Pfuscherei nicht!
Fröhliche Übersetzungswissenschaft: Der englische Schriftsteller Adam Thirlwell durchwandert mit "Der multiple Roman" die Welt seiner eigenen Kunst
Manche Bücher beziehen ihren Wert daraus, was sie zu einer bestimmten Zeit auslösen, welche Gedanken sie provozieren und auf welche Fährten sie den Leser führen. Ein solches Buch ist "Der multiple Roman" des englischen Schriftstellers Adam Thirlwell. Schon der weitschweifige Untertitel, der die Erzählkonvention des achtzehnten Jahrhunderts zitiert, könnte befremden: "Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst, verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen und mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern, Übersetzern und anderen Phantasiewesen".
Die Verwunderung steigert sich noch, wenn man bedenkt, dass Thirlwell erst fünfunddreißig Jahre alt ist und bisher vor allem mit zwei Romanen hervorgetreten ist. Wenn er in seinem fünfhundert Seiten starken Band nun eine Untersuchung über den Roman vorlegt, die teils Poetik, teils Beziehungsgeschichte und Kuriositätenkabinett ist, das Funde aus rund dreihundert Jahren ausstellt, dann stimmt abermals etwas nicht. Dergleichen philologisches Großgemälde erwartet man eher aus den Computern von Universitätsprofessoren. Es mag sogar Leser geben, die dem jungen Mann schamloses name dropping vorwerfen. Aber das wäre falsch. Wie Thirlwell das alles gelesen (und begriffen) haben kann, was er hier aufruft, ist nicht die Frage. Sondern: Was ist das für eine Phantasie? Und was hat sie mit der Gegenwart des Erzählens zu tun?
Zum Beispiel die Sache mit den Übersetzungen. Thirlwell findet, Romane würden oft in unsauberer, ja falscher Form weitergereicht, nähmen aber dennoch keinen wesentlichen Schaden, weil jede Übertragung ein kreativer Verwandlungsprozess sei. Auf Wörtlichkeit oder philologische Treue, diese Fetische, komme es dabei nicht an. Die Geschichten, die der Autor darüber erzählt, sind teils wohlbekannt, doch hier finden sie sich gestapelt und erzielen einen neuartigen Effekt. Was wir literarische Überlieferung nennen, so Thirlwell, ist oft Klau und Pfuscherei, deswegen aber nicht etwa zu entlarven, sondern erst recht zu würdigen: als natürlicher Weg des polyglotten Texttransports durch die Jahrhunderte, der die Schriftsteller verschiedener Kulturen und Kontinente über die Zeiten hinweg miteinander verknüpft. Und der, könnte man hinzufügen, ein Köpfchen wie Adam Thirlwell zum Glühen bringt.
Der brasilianische Schriftsteller Joaquim Maria Machado de Assis etwa übersetzte zwecks Broterwerb nicht nur schlechte französische Romane ins Portugiesische, er war auch gezwungen, die internationale Weltliteratur auf Französisch zu lesen. Den "Tristram Shandy" zum Beispiel, weil er kein Englisch konnte und es bis ins zwanzigste Jahrhundert keine Übersetzung von Laurence Sterne ins Portugiesische gab. Trotz der fehlerhaften Übertragung könnte Machado viel von Sterne gelernt haben.
Hier ist Thirwell in seinem Element und schafft aus allen Himmelsrichtungen Belege für seine These heran, Stil überlebe jede Art von Migration, "nicht nur in eine zweite Sprache, sondern auch in eine beliebige dritte Sprache". So musste der Pole Witold Gombrowicz den "Ulysses" ebenfalls auf Französisch lesen, obwohl er Joyces Roman eigentlich für unübersetzbar hielt. Von seinem eigenen Roman "Ferdydurke" fertigte eine argentinische Übersetzergruppe eine spanische Version an, ohne des Polnischen mächtig zu sein, während Gombrowicz wiederum wenig Spanisch konnte. Der Weltruhm von Edgar Allan Poe, so Thirlwell, beruhe allein auf Baudelaires Übersetzung von dessen Erzählungen: So wurde "die mittelmäßige Bedeutungslosigkeit von Poes Stil im Französischen zu la poésie pure".
Die Leiden Nabokovs an seinem angestammten Russisch und die Mühen, die er als Übersetzer damit hatte, sind bekannt. Als er seinen auf Englisch geschriebenen Roman "Lolita" in die Heimatsprache bringen wollte, quälte ihn "das Klirren meiner rostigen russischen Saiten". Und was ist mit Beckett, der es nicht schaffte, sich selbst wortgetreu vom Französischen ins Englische zu übersetzen, nachdem er in seiner Literatursprache zuvor vom Englischen ins Französische gewechselt war? Borges übrigens las den "Don Quijote" zuerst auf Englisch und empfand später das spanische Original als schlechte Kopie der Übersetzung.
Übersetzungen sind aber nur ein Teil des epochen- und länderübergreifenden Beziehungsgeflechts, das Thirlwell in seinem passionierten Rundgang durch die Romanliteratur am Werk sieht. Er denkt auch über Stil, Komposition und literarische Sensibilität nach, über Neigungen, Marotten und biographische Zufälle. Er entdeckt die Häuslichkeit bei Flaubert, das Mikroskopische bei Kafka ("seine Effekte sind Anhäufungen kleiner Dinge"), widmet ein wunderbares Kapitel dem weithin unbekannten russischen Schriftsteller Sigismund Krschischanowski (1887 bis 1950), erzählt vom close reading der stalinistischen Zensurbehörde, analysiert den Stilwandel bei Saul Bellow und das Jiddische im Stil des eingewanderten Amerikaners Isaac Bashevis Singer. Romane sind, wenn man den oft originellen, hin und wieder auch koketten Wendungen von Thirlwells Denken folgt, "ein Zirkus", ein Sammelsurium, und ihr Charakteristikum ist "der Krempel".
Abschweifungen können darin zum Fortschritt werden. Jeder Autor bedient sich, wo er kann, verformt und verbiegt sein Material nach Bedarf. Schreiben heißt Weltbürgertum, worin man auch ein Bekenntnis Thirlwells sehen darf: Die wahre Heimat liegt in der Sprache. Überhaupt seien Romane "als Netzwerk angelegt" und - um endlich zum Schlüsselbegriff der ganzen Untersuchung zu kommen - "ein Multiple", also ein Vielfaches: mehrwertig, vielgestaltig, ungezähmt, polyglott, ein "sich selbst konstruierendes Flugzeug".
Die Namen dort oben sind nur eine Andeutung des kompakten Heers von literarischen Gewährsleuten, das Thirwell in die Schlacht führt. Den Russen und Osteuropäern sowie den Franzosen gilt seine besondere Neigung, die Fixsterne heißen Diderot, Flaubert, Nabokov, Kundera, Roland Barthes. Schöne Exkurse widmet Thirlwell auch Carlo Emilio Gadda und Bohumil Hrabal. Englische Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts? Charles Dickens ist der modernste Brite, der hier betrachtet wird. Herman Melville, Juan Rulfo, Juan Carlos Onetti? Nicht vertreten. "Verortet auf fast allen Kontinenten"? Das klingt nun doch etwas kess, wenn man Asien, Afrika und Australien weiträumig umfährt.
Macht nichts. Thirlwell braucht ja keine Vollständigkeit anzustreben. "Der multiple Roman" erzählt von den Leseabenteuern eines einzigen Mannes, der sich von Dichtern, Lektoren und einflussreichen Zeitschriftenherausgebern beraten ließ, wie die lange Danksagung vermerkt. In der vorliegenden Form ist das Werk eine "vollkommen überarbeitete Ausgabe" des Buchs "Miss Herbert", das im Original 2007 erschien. Der Titel bezieht sich auf Flauberts Englischlehrerin, von der Thirlwell erzählt, sie sei mit der Übersetzung von "Madame Bovary" im Koffer wieder nach Hause gereist, und irgendwo dabei sei das Manuskript verschwunden und bis heute nicht wiederaufgetaucht.
Jetzt zum Serviceteil. Dies ist kein Buch zum Verschlingen, dafür ist es zu wolkig und verspielt, und wer sich durch intellektuelle Anregungen einschüchtern lässt, mag darin die Rechtfertigung finden, gar nicht erst hineinzuschauen. Auch ist die Übersetzung von Hannah Arnold eher unelegant, besonders in den Ketten überflüssiger "Dass"-Sätze, die ein entschlossenes Lektorat leicht hätte tilgen können. Aber da sie andererseits viel zuverlässiger ist als so manche Übertragung, von der Thirlwell hier berichtet, wird sich, sofern die Theorie des Autors stimmt, der Schaden in Grenzen halten. Strukturell erinnert Thirlwells Vorgehen an Borges' "Biogramme", prägnante Mitteilungen über die Weltliteratur, die mit Hilfe eines sprechenden Details oder eines Zitats größere Werkzusammenhänge beleuchten. Dies also ist ein Buch, das Leser mit Interesse an der Form des Romans immer wieder hervorziehen werden.
Natürlich sind viele von Thirlwells Überlegungen zur Romankunst nicht neu, und dass hier ständig vom "internationalen Leser" die Rede ist, ohne dass ein Studienfach wie die Komparatistik, in der mehrsprachiges Vergleichen und Analysieren an der Tagesordnung ist, je erwähnt würde, ist abenteuerlich. Viele theoretische Beobachtungen gab es so oder ähnlich schon in den Debatten um Postmoderne und "Metafiktion" in den achtziger Jahren zu lesen. Doch wie das Beispiel von Pierre Menard, dem Helden der berühmten Erzählung von Borges, lehrt, kommt es nicht nur darauf an, was geschrieben wird, sondern auch, von wem, in welchem Kontext und zu welcher Zeit. Adam Thirlwell ist kein Akademiker, sondern ein junger Autor. Man würde es ihm nachsehen, wenn er sich nur um seine eigenen Sachen kümmerte. Dass sich so einer vom Mainstream abkoppelt, um sich in die Lektüre zu werfen und von den Abenteuern des Schreibens zu erzählen, ohne die Erneuerer der Romankunst zu billig zu verkaufen, ist grandios. Lesen und Schreiben, sagt der amerikanische Dichter Thomas Lynch, sind zwei Seiten derselben Medaille.
PAUL INGENDAAY
Adam Thirlwell: "Der multiple Roman". Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst, verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen und mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern, Übersetzern und anderen Phantasiewesen.
Aus dem Englischen von Hannah Arnold. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 530 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fröhliche Übersetzungswissenschaft: Der englische Schriftsteller Adam Thirlwell durchwandert mit "Der multiple Roman" die Welt seiner eigenen Kunst
Manche Bücher beziehen ihren Wert daraus, was sie zu einer bestimmten Zeit auslösen, welche Gedanken sie provozieren und auf welche Fährten sie den Leser führen. Ein solches Buch ist "Der multiple Roman" des englischen Schriftstellers Adam Thirlwell. Schon der weitschweifige Untertitel, der die Erzählkonvention des achtzehnten Jahrhunderts zitiert, könnte befremden: "Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst, verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen und mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern, Übersetzern und anderen Phantasiewesen".
Die Verwunderung steigert sich noch, wenn man bedenkt, dass Thirlwell erst fünfunddreißig Jahre alt ist und bisher vor allem mit zwei Romanen hervorgetreten ist. Wenn er in seinem fünfhundert Seiten starken Band nun eine Untersuchung über den Roman vorlegt, die teils Poetik, teils Beziehungsgeschichte und Kuriositätenkabinett ist, das Funde aus rund dreihundert Jahren ausstellt, dann stimmt abermals etwas nicht. Dergleichen philologisches Großgemälde erwartet man eher aus den Computern von Universitätsprofessoren. Es mag sogar Leser geben, die dem jungen Mann schamloses name dropping vorwerfen. Aber das wäre falsch. Wie Thirlwell das alles gelesen (und begriffen) haben kann, was er hier aufruft, ist nicht die Frage. Sondern: Was ist das für eine Phantasie? Und was hat sie mit der Gegenwart des Erzählens zu tun?
Zum Beispiel die Sache mit den Übersetzungen. Thirlwell findet, Romane würden oft in unsauberer, ja falscher Form weitergereicht, nähmen aber dennoch keinen wesentlichen Schaden, weil jede Übertragung ein kreativer Verwandlungsprozess sei. Auf Wörtlichkeit oder philologische Treue, diese Fetische, komme es dabei nicht an. Die Geschichten, die der Autor darüber erzählt, sind teils wohlbekannt, doch hier finden sie sich gestapelt und erzielen einen neuartigen Effekt. Was wir literarische Überlieferung nennen, so Thirlwell, ist oft Klau und Pfuscherei, deswegen aber nicht etwa zu entlarven, sondern erst recht zu würdigen: als natürlicher Weg des polyglotten Texttransports durch die Jahrhunderte, der die Schriftsteller verschiedener Kulturen und Kontinente über die Zeiten hinweg miteinander verknüpft. Und der, könnte man hinzufügen, ein Köpfchen wie Adam Thirlwell zum Glühen bringt.
Der brasilianische Schriftsteller Joaquim Maria Machado de Assis etwa übersetzte zwecks Broterwerb nicht nur schlechte französische Romane ins Portugiesische, er war auch gezwungen, die internationale Weltliteratur auf Französisch zu lesen. Den "Tristram Shandy" zum Beispiel, weil er kein Englisch konnte und es bis ins zwanzigste Jahrhundert keine Übersetzung von Laurence Sterne ins Portugiesische gab. Trotz der fehlerhaften Übertragung könnte Machado viel von Sterne gelernt haben.
Hier ist Thirwell in seinem Element und schafft aus allen Himmelsrichtungen Belege für seine These heran, Stil überlebe jede Art von Migration, "nicht nur in eine zweite Sprache, sondern auch in eine beliebige dritte Sprache". So musste der Pole Witold Gombrowicz den "Ulysses" ebenfalls auf Französisch lesen, obwohl er Joyces Roman eigentlich für unübersetzbar hielt. Von seinem eigenen Roman "Ferdydurke" fertigte eine argentinische Übersetzergruppe eine spanische Version an, ohne des Polnischen mächtig zu sein, während Gombrowicz wiederum wenig Spanisch konnte. Der Weltruhm von Edgar Allan Poe, so Thirlwell, beruhe allein auf Baudelaires Übersetzung von dessen Erzählungen: So wurde "die mittelmäßige Bedeutungslosigkeit von Poes Stil im Französischen zu la poésie pure".
Die Leiden Nabokovs an seinem angestammten Russisch und die Mühen, die er als Übersetzer damit hatte, sind bekannt. Als er seinen auf Englisch geschriebenen Roman "Lolita" in die Heimatsprache bringen wollte, quälte ihn "das Klirren meiner rostigen russischen Saiten". Und was ist mit Beckett, der es nicht schaffte, sich selbst wortgetreu vom Französischen ins Englische zu übersetzen, nachdem er in seiner Literatursprache zuvor vom Englischen ins Französische gewechselt war? Borges übrigens las den "Don Quijote" zuerst auf Englisch und empfand später das spanische Original als schlechte Kopie der Übersetzung.
Übersetzungen sind aber nur ein Teil des epochen- und länderübergreifenden Beziehungsgeflechts, das Thirlwell in seinem passionierten Rundgang durch die Romanliteratur am Werk sieht. Er denkt auch über Stil, Komposition und literarische Sensibilität nach, über Neigungen, Marotten und biographische Zufälle. Er entdeckt die Häuslichkeit bei Flaubert, das Mikroskopische bei Kafka ("seine Effekte sind Anhäufungen kleiner Dinge"), widmet ein wunderbares Kapitel dem weithin unbekannten russischen Schriftsteller Sigismund Krschischanowski (1887 bis 1950), erzählt vom close reading der stalinistischen Zensurbehörde, analysiert den Stilwandel bei Saul Bellow und das Jiddische im Stil des eingewanderten Amerikaners Isaac Bashevis Singer. Romane sind, wenn man den oft originellen, hin und wieder auch koketten Wendungen von Thirlwells Denken folgt, "ein Zirkus", ein Sammelsurium, und ihr Charakteristikum ist "der Krempel".
Abschweifungen können darin zum Fortschritt werden. Jeder Autor bedient sich, wo er kann, verformt und verbiegt sein Material nach Bedarf. Schreiben heißt Weltbürgertum, worin man auch ein Bekenntnis Thirlwells sehen darf: Die wahre Heimat liegt in der Sprache. Überhaupt seien Romane "als Netzwerk angelegt" und - um endlich zum Schlüsselbegriff der ganzen Untersuchung zu kommen - "ein Multiple", also ein Vielfaches: mehrwertig, vielgestaltig, ungezähmt, polyglott, ein "sich selbst konstruierendes Flugzeug".
Die Namen dort oben sind nur eine Andeutung des kompakten Heers von literarischen Gewährsleuten, das Thirwell in die Schlacht führt. Den Russen und Osteuropäern sowie den Franzosen gilt seine besondere Neigung, die Fixsterne heißen Diderot, Flaubert, Nabokov, Kundera, Roland Barthes. Schöne Exkurse widmet Thirlwell auch Carlo Emilio Gadda und Bohumil Hrabal. Englische Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts? Charles Dickens ist der modernste Brite, der hier betrachtet wird. Herman Melville, Juan Rulfo, Juan Carlos Onetti? Nicht vertreten. "Verortet auf fast allen Kontinenten"? Das klingt nun doch etwas kess, wenn man Asien, Afrika und Australien weiträumig umfährt.
Macht nichts. Thirlwell braucht ja keine Vollständigkeit anzustreben. "Der multiple Roman" erzählt von den Leseabenteuern eines einzigen Mannes, der sich von Dichtern, Lektoren und einflussreichen Zeitschriftenherausgebern beraten ließ, wie die lange Danksagung vermerkt. In der vorliegenden Form ist das Werk eine "vollkommen überarbeitete Ausgabe" des Buchs "Miss Herbert", das im Original 2007 erschien. Der Titel bezieht sich auf Flauberts Englischlehrerin, von der Thirlwell erzählt, sie sei mit der Übersetzung von "Madame Bovary" im Koffer wieder nach Hause gereist, und irgendwo dabei sei das Manuskript verschwunden und bis heute nicht wiederaufgetaucht.
Jetzt zum Serviceteil. Dies ist kein Buch zum Verschlingen, dafür ist es zu wolkig und verspielt, und wer sich durch intellektuelle Anregungen einschüchtern lässt, mag darin die Rechtfertigung finden, gar nicht erst hineinzuschauen. Auch ist die Übersetzung von Hannah Arnold eher unelegant, besonders in den Ketten überflüssiger "Dass"-Sätze, die ein entschlossenes Lektorat leicht hätte tilgen können. Aber da sie andererseits viel zuverlässiger ist als so manche Übertragung, von der Thirlwell hier berichtet, wird sich, sofern die Theorie des Autors stimmt, der Schaden in Grenzen halten. Strukturell erinnert Thirlwells Vorgehen an Borges' "Biogramme", prägnante Mitteilungen über die Weltliteratur, die mit Hilfe eines sprechenden Details oder eines Zitats größere Werkzusammenhänge beleuchten. Dies also ist ein Buch, das Leser mit Interesse an der Form des Romans immer wieder hervorziehen werden.
Natürlich sind viele von Thirlwells Überlegungen zur Romankunst nicht neu, und dass hier ständig vom "internationalen Leser" die Rede ist, ohne dass ein Studienfach wie die Komparatistik, in der mehrsprachiges Vergleichen und Analysieren an der Tagesordnung ist, je erwähnt würde, ist abenteuerlich. Viele theoretische Beobachtungen gab es so oder ähnlich schon in den Debatten um Postmoderne und "Metafiktion" in den achtziger Jahren zu lesen. Doch wie das Beispiel von Pierre Menard, dem Helden der berühmten Erzählung von Borges, lehrt, kommt es nicht nur darauf an, was geschrieben wird, sondern auch, von wem, in welchem Kontext und zu welcher Zeit. Adam Thirlwell ist kein Akademiker, sondern ein junger Autor. Man würde es ihm nachsehen, wenn er sich nur um seine eigenen Sachen kümmerte. Dass sich so einer vom Mainstream abkoppelt, um sich in die Lektüre zu werfen und von den Abenteuern des Schreibens zu erzählen, ohne die Erneuerer der Romankunst zu billig zu verkaufen, ist grandios. Lesen und Schreiben, sagt der amerikanische Dichter Thomas Lynch, sind zwei Seiten derselben Medaille.
PAUL INGENDAAY
Adam Thirlwell: "Der multiple Roman". Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst, verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen und mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern, Übersetzern und anderen Phantasiewesen.
Aus dem Englischen von Hannah Arnold. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2013. 530 S., geb., 24,99 [Euro].
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Thirlwells eigene Leistung ist unbestritten ein anregendes Buch über gute Romane. Martin Zähringer Neue Zürcher Zeitung 20140321
Großartig findet Paul Ingendaay die Verve dieses jungen Autors. Dass Adam Thirlwell sich in diesem Buch einmal nicht mit einem eigenen Plot beschäftigt, sondern mit dem Abenteuer des Schreibens an sich, lässt den Rezensenten zwar zunächst skeptisch prüfen, was dabei Neues herauskommt (nicht sooo viel). Am Ende aber spielt das für Ingendaay keine große Rolle. Denn Thirlwell ist kein akademischer Langweiler. Das Umwerfende am Buch ist für Ingendaay gerade die Unerschrockenheit, mit der der Autor postmoderne Denbatten wieder aufgreift, um sie spielerisch seinen eigenen Steckenpferden anzupassen. Es geht um Poetik und die Anverwandlung fremder Texte als genuinen Teil des literarischen Prozesses, um Übersetzungsarbeit und ausdauernden Stil, um das Mikroskopische bei Kafka und die Häuslichkeit Flauberts. Für Ingendaay aber geht es nicht zuletzt darum, wie hier ein junger neugieriger Schreiber die Literaturgeschichte liest. Das geschieht zwar mitunter wolkig, kess und auch unvollständig, doch auch und vor allem mit Leidenschaft, erklärt der Rezensent.
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