Mit gewohnter Lakonik und schwarzem Humor legt Evelyn Grill Zeugnis ab von der Einsamkeit in schwierigen Zeiten. Eine alte Frau sitzt in ihrem Lehnstuhl, ihre Gedanken gehen zu ihrer Tante Paula, von der sie dieses Möbelstück geerbt hat, und zu ihrer eigenen aufgezwungenen Einsamkeit. Denn es herrscht Pandemie und sie ist zur "vulnerablen Person" erklärt worden. Als solche wird sie vorsorglich abgesondert und "keimfrei aufbewahrt", vielleicht wird sie unter dieser Schutzglocke ja hundert Jahre alt. Tante Paula hingegen ist keine fünfzig geworden, sie wurde deportiert und der Lehnstuhl ist alles, was von ihr geblieben ist. Zwischen glasklarer Erkenntnis und zunehmender Verwirrung kreist das Denken der alten Frau um das Leben, das geschützt wird, und jenes, das als "unwert" bezeichnet wird, um gesellschaftliche Gewalt - und um das Glück, von niemandem behelligt zu werden.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Feinstes Handwerk ist der Roman von Evelyn Grill, schreibt die gerührte Literaturwissenschaftlerin Lerke von Saalfeld. Angetan zitiert sie, was die fast gleichaltrige Österreicherin oft recht frech über das Älterwerden und das Alter schreibt. Ausgangspunkt sind Grills Gedanken über sich selbst als "vulnerabler" Mensch in der Corona-Pandemie, die sie aus ihrem Lehnstuhl aufstehen und in den Keller gehen lassen, um eine Mappe mit Erinnerungen zu heben - Briefe ihrer jüdischen Familie und ihres Mannes aus den 1940er Jahren. Dass diese den letzten Teil des autobiografischen Romans ausmachen, ist für von Saalfeld eine der Stärken dieses Buches, die andere, dass die achtzig Jahre alte Grill ihre Erinnerungen und Gefühle als Ausgestoßene zur Klammer ihrer Geschichte macht. Entstanden sei ein "poetisches Memorial", frei von Vorwürfen, aber voller Sehnsucht einer Überlebenden nach den Toten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2022Man kann sich ja nicht vorbereiten darauf
Parallelaktion der Dinge und der Aussonderungen: Evelyn Grills bewegende Altersbilanz "Der Nachlass"
,"Sie ist schon alt, sie hat es sich lange nicht eingestehen wollen, doch seit einiger Zeit klappt es mit einem gewissen sadistischen Stolz." So die mit der Autorin identische Erzählerin in Evelyn Grills neuem Roman "Der Nachlass". Sie nennt sich meist nur in der dritten Person "die alte Frau", und auch dies glaubt sie nicht wirklich, immer wieder schleicht sich ein "eigentlich" dazwischen: "Sie sagt gerne: Ich bin schon alt. Eigentlich fühlt sie sich in ihrem Altsein irgendwie geborgen. Man darf in Maßen vergesslich sein, auch seltsames Verhalten wird entschuldigt." Sicher, die Schriftstellerin Grill kokettiert ein wenig mit ihrem Alter, aber sie ist auch erschrocken, dass es um sie keinen charmanten Bogen gemacht hat, dass sie manchmal umschattet ist von der Einsamkeit, die sie umgibt.
In einem gepolsterten hölzernen Lehnstuhl sitzend, der an die hundert Jahre alt ist und ächzt und knarrt und knurrt, bedenkt sie das Leben, das Alter, das Alleinsein. Die Dame ist im Moment der Niederschrift fast achtzig Jahre alt und hat am 15. Jänner Geburtstag, genau wie ihr Lieblingsdichter Franz Grillparzer - beide wohl ein wenig aus der Mode gekommen, nicht mehr so recht in die Zeit passend, aber dennoch trotzig und lebensfroh, wenn's denn sein muss.
Die alte Dame fühlt sich ausgestoßen, an den Rand gedrängt. Es herrscht Corona-Zeit, sie gilt als "vulnerabel" und soll sich vor Kontakten mit Menschen und der Gesellschaft schützen. Die alte Frau ist empört. Ihr wird die Freiheit genommen, sich offen zu bewegen, weil dieser Verzicht nur zu ihrem Besten wäre. Da müssen die Gedanken andere Spaziergänge machen, und die alte Frau erinnert sich an eine rote Ledermappe, die irgendwo seit ihrem Umzug von Freiburg nach Linz im Keller lagert. Es dauert eine Weile, bis sie es wagt, die Mappe mit in die Wohnung zu nehmen und zu öffnen. Ebenso viel Zeit braucht sie, um endlich den alten Lehnstuhl mit Leinöl einzureiben, damit er länger lebt und nicht so entsetzlich knarzt.
Der Sessel wie die rote Ledermappe sind wie eine österreichische Parallelaktion. Sie stammen beide aus dem Nachlass der Familie des Ehemannes der alten Frau, des Literaturwissenschaftlers Joachim W. Storck: Es sind zwei Dinge, die von ausgelöschtem Leben erzählen, Kleinode der Erinnerung aus einer Welt, die gar nicht so fern liegt.
Die Ledermappe enthält Originalbriefe aus der Zeit Anfang der Vierzigerjahre, verfasst von Paula, ihrer Mutter und anderen Verwandten des verstorbenen Ehemanns von Grill. Alle sind in derselben Situation: Sie stehen kurz vor der Deportation in die Vernichtungslager und versuchen stoisch, das drohende Schicksal zu bewältigen. "Wie lange mag das noch gehen, manchmal ist man zuversichtlich, dann wieder weniger. Na wir müssen abwarten." Oder: "Es kann z. B. sein, dass man eine Wohnung innerhalb 8 Tage verlassen muß. Und eines Tages wird Mutter auch drankommen. Aber man kann sich ja nicht vorbereiten darauf." Dann: "Unser Schicksal ist besiegelt, wir kommen Mittwoch fort und zwar angeblich nach Theresienstadt." Die Sorge um verschollene Verwandte, von denen man nichts mehr hört, ist groß, Briefkontakte brechen ab, Adressen stimmen nicht mehr, jeder versucht, den anderen zu trösten, und bedarf doch selbst des Trostes.
Evelyn Grill setzt dieses Konvolut Originalbriefe - ohne Kommentar - in das letzte Drittel ihres Romans. Sie sprechen für sich, sie bedürfen keiner Erläuterungen. Alle diese Menschen sind ausgesondert, und die merkwürdige Parallele dabei ist ja: Auch die alte Frau fühlt sich ausgesondert, durch Corona ihrer Freiheit beraubt. Sie möchte Paula nahe sein, aber es ist unmöglich: "Wenn sie sich in den knarrenden Sessel mit der bequemen Rückenlehne setzt und es sich gemütlich macht, wenn sie über das glatte Holz streicht, denkt sie an Paula: Sie hat sie nicht persönlich gekannt, doch sie hätte sie gerne gekannt. Es wäre zeitlich nicht möglich gewesen, denn als man Paula ermordet hat, war sie kaum geboren." Geblieben sind der Lehnstuhl und die Mappe mit den Briefen, geblieben sind zwei Stolpersteine in Stuttgart-Gablenberg für Klara Straus, ermordet am 10. November 1944 in Theresienstadt, und deren Tochter Paula, ermordet am 10. Februar 1943.
Geblieben sind auch ein paar Schmuckarbeiten, die Paula als Goldschmiedin gefertigt hat. Sie war eine damals gefragte Pionierin des Bauhausstils. Evelyn Grill hat das Wenige, was von ihrem Werk erhalten ist - denn alles, was davon im Stil des Bauhauses gefertigt war, wurde zerstört, allein schon wegen des Materialwertes eingeschmolzen -, geerbt und es als Schenkung ans Jüdische Museum in Berlin gegeben, in Erinnerung an ihren Ehemann Joachim W. Storck.
Entstanden ist und bleiben wird ein poetisches Memorial, das frei von jedem Pathos, streng in der stilistischen Eleganz und mit einem anrührenden Hauch von Wehmut das Band zwischen den Überlebenden und den Toten knüpft. "Der Nachlass" ist das persönlichste Buch, das die 1942 geborene Evelyn Grill bisher geschrieben hat, eine fein ziselierte literarische Goldschmiedearbeit. LERKE VON SAALFELD
Evelyn Grill: "Der Nachlass". Roman.
Residenz Verlag, Salzburg 2022. 107 S. geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Parallelaktion der Dinge und der Aussonderungen: Evelyn Grills bewegende Altersbilanz "Der Nachlass"
,"Sie ist schon alt, sie hat es sich lange nicht eingestehen wollen, doch seit einiger Zeit klappt es mit einem gewissen sadistischen Stolz." So die mit der Autorin identische Erzählerin in Evelyn Grills neuem Roman "Der Nachlass". Sie nennt sich meist nur in der dritten Person "die alte Frau", und auch dies glaubt sie nicht wirklich, immer wieder schleicht sich ein "eigentlich" dazwischen: "Sie sagt gerne: Ich bin schon alt. Eigentlich fühlt sie sich in ihrem Altsein irgendwie geborgen. Man darf in Maßen vergesslich sein, auch seltsames Verhalten wird entschuldigt." Sicher, die Schriftstellerin Grill kokettiert ein wenig mit ihrem Alter, aber sie ist auch erschrocken, dass es um sie keinen charmanten Bogen gemacht hat, dass sie manchmal umschattet ist von der Einsamkeit, die sie umgibt.
In einem gepolsterten hölzernen Lehnstuhl sitzend, der an die hundert Jahre alt ist und ächzt und knarrt und knurrt, bedenkt sie das Leben, das Alter, das Alleinsein. Die Dame ist im Moment der Niederschrift fast achtzig Jahre alt und hat am 15. Jänner Geburtstag, genau wie ihr Lieblingsdichter Franz Grillparzer - beide wohl ein wenig aus der Mode gekommen, nicht mehr so recht in die Zeit passend, aber dennoch trotzig und lebensfroh, wenn's denn sein muss.
Die alte Dame fühlt sich ausgestoßen, an den Rand gedrängt. Es herrscht Corona-Zeit, sie gilt als "vulnerabel" und soll sich vor Kontakten mit Menschen und der Gesellschaft schützen. Die alte Frau ist empört. Ihr wird die Freiheit genommen, sich offen zu bewegen, weil dieser Verzicht nur zu ihrem Besten wäre. Da müssen die Gedanken andere Spaziergänge machen, und die alte Frau erinnert sich an eine rote Ledermappe, die irgendwo seit ihrem Umzug von Freiburg nach Linz im Keller lagert. Es dauert eine Weile, bis sie es wagt, die Mappe mit in die Wohnung zu nehmen und zu öffnen. Ebenso viel Zeit braucht sie, um endlich den alten Lehnstuhl mit Leinöl einzureiben, damit er länger lebt und nicht so entsetzlich knarzt.
Der Sessel wie die rote Ledermappe sind wie eine österreichische Parallelaktion. Sie stammen beide aus dem Nachlass der Familie des Ehemannes der alten Frau, des Literaturwissenschaftlers Joachim W. Storck: Es sind zwei Dinge, die von ausgelöschtem Leben erzählen, Kleinode der Erinnerung aus einer Welt, die gar nicht so fern liegt.
Die Ledermappe enthält Originalbriefe aus der Zeit Anfang der Vierzigerjahre, verfasst von Paula, ihrer Mutter und anderen Verwandten des verstorbenen Ehemanns von Grill. Alle sind in derselben Situation: Sie stehen kurz vor der Deportation in die Vernichtungslager und versuchen stoisch, das drohende Schicksal zu bewältigen. "Wie lange mag das noch gehen, manchmal ist man zuversichtlich, dann wieder weniger. Na wir müssen abwarten." Oder: "Es kann z. B. sein, dass man eine Wohnung innerhalb 8 Tage verlassen muß. Und eines Tages wird Mutter auch drankommen. Aber man kann sich ja nicht vorbereiten darauf." Dann: "Unser Schicksal ist besiegelt, wir kommen Mittwoch fort und zwar angeblich nach Theresienstadt." Die Sorge um verschollene Verwandte, von denen man nichts mehr hört, ist groß, Briefkontakte brechen ab, Adressen stimmen nicht mehr, jeder versucht, den anderen zu trösten, und bedarf doch selbst des Trostes.
Evelyn Grill setzt dieses Konvolut Originalbriefe - ohne Kommentar - in das letzte Drittel ihres Romans. Sie sprechen für sich, sie bedürfen keiner Erläuterungen. Alle diese Menschen sind ausgesondert, und die merkwürdige Parallele dabei ist ja: Auch die alte Frau fühlt sich ausgesondert, durch Corona ihrer Freiheit beraubt. Sie möchte Paula nahe sein, aber es ist unmöglich: "Wenn sie sich in den knarrenden Sessel mit der bequemen Rückenlehne setzt und es sich gemütlich macht, wenn sie über das glatte Holz streicht, denkt sie an Paula: Sie hat sie nicht persönlich gekannt, doch sie hätte sie gerne gekannt. Es wäre zeitlich nicht möglich gewesen, denn als man Paula ermordet hat, war sie kaum geboren." Geblieben sind der Lehnstuhl und die Mappe mit den Briefen, geblieben sind zwei Stolpersteine in Stuttgart-Gablenberg für Klara Straus, ermordet am 10. November 1944 in Theresienstadt, und deren Tochter Paula, ermordet am 10. Februar 1943.
Geblieben sind auch ein paar Schmuckarbeiten, die Paula als Goldschmiedin gefertigt hat. Sie war eine damals gefragte Pionierin des Bauhausstils. Evelyn Grill hat das Wenige, was von ihrem Werk erhalten ist - denn alles, was davon im Stil des Bauhauses gefertigt war, wurde zerstört, allein schon wegen des Materialwertes eingeschmolzen -, geerbt und es als Schenkung ans Jüdische Museum in Berlin gegeben, in Erinnerung an ihren Ehemann Joachim W. Storck.
Entstanden ist und bleiben wird ein poetisches Memorial, das frei von jedem Pathos, streng in der stilistischen Eleganz und mit einem anrührenden Hauch von Wehmut das Band zwischen den Überlebenden und den Toten knüpft. "Der Nachlass" ist das persönlichste Buch, das die 1942 geborene Evelyn Grill bisher geschrieben hat, eine fein ziselierte literarische Goldschmiedearbeit. LERKE VON SAALFELD
Evelyn Grill: "Der Nachlass". Roman.
Residenz Verlag, Salzburg 2022. 107 S. geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main