«Man verschlingt dieses Buch wie ein nächtliches Mahl in der Küche.» (New York Times) In seiner Mitternachts-Radioshow tröstet Gabriel Noone unzählige Menschen, aber er selbst ist nicht glücklich. Da bekommt er Post von einem 13-jährigen Fan: Pete ist unheilbar krank, verfügt jedoch über Lebenskraft und ein ungewöhnliches Schreibtalent. In langen Telefonaten freunden sich die beiden an, doch als Gabriel auf eine Begegnung drängt, entzieht sich Pete. Lange wehrt sich Gabriel gegen einen schlimmen Verdacht ... Ein neuer Roman vom Autor der «Stadtgeschichten» - «Das stärkste Buch, das Armistead Maupin je geschrieben hat.»(Stern)
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2002Vom Telefonat zum Skandal
Lauschangriff: Armistead Maupin tischt eine kolossale Lüge auf
Kaum ein anderer Autor hat das literarische Bild San Franciscos so geprägt wie Armistead Maupin. Die weltweit millionenfach verbreiteten "Stadtgeschichten" des ehemaligen Journalisten, die ab 1975 fünfzehn Jahre lang als Kolumne im "San Francisco Chronicle" erschienen, popularisierten den Mythos der liebeslustigen, lebenstollen Metropole, den die Dichter der Beat-Generation geschaffen hatten. In täglich achthundert Worten jagte Maupin einen Haufen sympathischer Exzentriker durch eine rauschhafte Ära, als die Mieten noch niedrig waren und Drogen allgegenwärtig, als das Schwulsein zum ersten Mal unkompliziert schien und die ärgste Bedrohung Ronald Reagan hieß. Heute liest sich diese Seifenoper in Zeitungsformat, die in der deutschen Übersetzung sechs Bücher gefüllt hat, wie ein Bericht aus ferner Zeit. Aids ist wie eine Seuche über die Stadt gekommen, und Aufstieg und Fall der dot.com-Industrie haben ihr viel von ihrem anarchischen Charme geraubt.
Mit seinen Geschichten ist auch Maupin gealtert. Sein neues Buch "Der nächtliche Lauscher" ist düsterer und grüblerischer als die schaumigen Fortsetzungsromane, und es ist ehrgeiziger. Der Reporter versucht sich als Romancier - und verhebt sich gründlich. Maupin erzählt die Geschichte des erfolgreichen Autors Gabriel Noone, erkennbar ein Alter ego des Schriftstellers, ein geborener "Fabulierer", der nachts im Radio "kleine, packende Kamingeschichten" vorliest und damit eine treue Hörerschaft beglückt, sich selbst aber von allem Glück verlassen fühlt. Nach der Trennung von seinem langjährigen Freund Jess vergräbt er sich in seinem Haus, lamentiert über den wachsenden Umfang seines Bauches oder streunt durch das Szeneviertel Castro, "maßlos erstaunt, noch immer da zu sein, noch immer auf der Jagd nach Liebe".
Tiefer und tiefer stolpert Noone in eine Schreibblockade, aus der ihn erst die freche Stimme eines Jungen am Telefon erlöst, eine Stimme, "kindlicher, als ich sie mir vorgestellt hatte, aber kiebig wie nur was, wie ein rotznasiger Taschendieb unserer Zeit". Pete Lomax heißt der heftig pubertierende Anrufer, der ein Buch geschrieben hat, für das Noone den Klappentext verfassen soll. Es ist ein Buch von unfaßbarer Grausamkeit und radikalem Mut, der Lebensbericht des Dreizehnjährigen, der von seinen Eltern von Geburt an gequält und an Päderasten vermietet wurde, sich bei einem seiner Schänder mit dem HI-Virus infizierte, endlich ausreißen konnte, Zuflucht bei einer Pflegemutter fand, seine Erlebnisse zu Papier gebracht hat und nun den Tod erwartet.
Natürlich ist Noone überwältigt von dem Text und hingerissen von der verzweifelten Aggressivität seines neuen Freundes. Wieder und wieder telefonieren die beiden miteinander, bis sie einander schließlich unter Tränen "Vater" und "Sohn" nennen. Paßgenau füllt der kleine Pete jenes Loch, das die Trennung von Jess in Noones Herzen gerissen hat. Mit jedem Telefonat wächst die Zuneigung - und der Zweifel. Denn ausgerechnet Jess, der ab und an ebenfalls mit Pete gesprochen hat, weist Noone darauf hin, daß der Junge exakt dieselbe Stimme hat wie seine Pflegemutter Donna. Empört und verletzt von dem Verdacht, er könne betrogen worden sein, macht sich Noone auf die Suche nach Pete.
Man wäre geneigt, diese Handlungsexposition wahlweise kitschig oder raffiniert zu nennen, wenn die Geschichte nicht auf einer wahren Begebenheit beruhte. Oder genauer: auf einer kolossalen Lüge. Wie schon in seinen "Stadtgeschichten", die bei aller Lust an der Übertreibung ein ziemlich präzises Sittenbild San Franciscos zeichneten, hat sich Maupin auch in seinem Roman eng an die Realität gehalten. Kaum verhüllt verarbeitet er in "Der nächtliche Lauscher" eine Begebenheit, die Amerika seit bald zehn Jahren bewegt: die Geschichte des Tony Godby Johnson, die herzzerreißende Leidenschronik eines Teenagers, der von seinen leiblichen Eltern jahrelang mißbraucht wurde und sich schließlich alle Qualen in dem Buch "A Rock and a Hard Place" von der Seele geschrieben hat. Einem Werk, das auf Anhieb zum Bestseller wurde, unendliche Empörung und Wogen des Mitgefühls auslöste und den jugendlichen Autor gleich einem gebrochenen Engel zur Lichtgestalt werden ließ. Noch heute finden sich im Internet zahllose Lobpreisungen des Buches und immer neue Huldigungen des gequälten Tony.
Dabei ist der längst als Erfindung seiner "Pflegemutter" Vicky Johnson entlarvt. Im vergangenen November hat der Journalist Tad Friend im "New Yorker" den detailsatten Nachweis geführt, daß "A Rock and a Hard Place" kein Tatsachenbericht, sondern Fiktion ist, und Tony Godby Johnson ebenso eine Romanfigur wie Maupins Pete Lomax. Ein Junge, dessen vermeintliche Bilder zwar im Netz kursieren, der stundenlange Telefonate mit Prominenten führte, darunter auch mit Armistead Maupin, den aber nie ein Mensch gesehen hat. Eine Kopfgeburt der mutmaßlich schizophrenen Vicky Johnson, die den Verleger des Buches ebenso wie Reporter und Leser zehn Jahre lang virtuos getäuscht hat, weil die sich alle täuschen lassen wollten.
Das ist, keine Frage, ein eminenter Stoff. Der Stoff für einen großen amerikanischen Roman. Nur ist er bei Armistead Maupin in den falschen Händen. Denn der ahnt nichts von der politischen Brisanz seines Materials. Er interessiert sich nicht für den beispiellosen Medienskandal, will partout nichts wissen von der Sehnsucht der Öffentlichkeit, betrogen zu werden, und ignoriert das Bedürfnis nach Betroffenheit, das sich in der Schwindelei entlarvt. Nicht einmal die Motive der Pflegemutter kümmern ihn. Statt dessen verdünnt er die öffentliche Angelegenheit zum Privatissimum zwischen seinen Protagonisten Pete und Noone, sucht sie zu einer schwulen Vater-Sohn-Tragödie zu stilisieren, verschenkt aber auch dieses Thema in immer neuen Schüben von Geschwätzigkeit, um schließlich ins Krimigenre auszuweichen, als der mißtrauisch gewordene Noone loszieht, den rätselhaften Anrufer aufzustöbern.
Zu seinem eigenen Unglück und zum Verdruß der Leser hat sich Armistead Maupin, der Virtuose der kleinen Form, in seinem neuen Roman all das durchgehen lassen, was das Zeitungsformat der "Stadtgeschichten" verbot: Abschweifungen, Pirouetten, Tratsch. Er verliert sich in Beschreibungen des Hodensacks seines Helden, räsoniert über das Altern der Boheme, über die Liebe in den Zeiten nach Aids, über den unerfüllbaren Wunsch eines Homosexuellen nach einem Sohn, kommt dabei aber nie über das psychologische Niveau von Lebenshilfe in Frauenzeitschriften hinaus. Selbst sein ureigenstes Thema, San Francisco, entgleitet Maupin. In "Der nächtliche Lauscher" taucht die Metropole am Goldenen Tor nur noch als austauschbare Kulisse auf, die nichts zur Geschichte beiträgt. Statt von seiner Stadt erzählt Maupin von sich selbst, und das ist beileibe nicht so interessant.
HEINRICH WEFING
Armistead Maupin: "Der nächtliche Lauscher". Roman. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 352 S., geb., 19,90 [Euro].
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Lauschangriff: Armistead Maupin tischt eine kolossale Lüge auf
Kaum ein anderer Autor hat das literarische Bild San Franciscos so geprägt wie Armistead Maupin. Die weltweit millionenfach verbreiteten "Stadtgeschichten" des ehemaligen Journalisten, die ab 1975 fünfzehn Jahre lang als Kolumne im "San Francisco Chronicle" erschienen, popularisierten den Mythos der liebeslustigen, lebenstollen Metropole, den die Dichter der Beat-Generation geschaffen hatten. In täglich achthundert Worten jagte Maupin einen Haufen sympathischer Exzentriker durch eine rauschhafte Ära, als die Mieten noch niedrig waren und Drogen allgegenwärtig, als das Schwulsein zum ersten Mal unkompliziert schien und die ärgste Bedrohung Ronald Reagan hieß. Heute liest sich diese Seifenoper in Zeitungsformat, die in der deutschen Übersetzung sechs Bücher gefüllt hat, wie ein Bericht aus ferner Zeit. Aids ist wie eine Seuche über die Stadt gekommen, und Aufstieg und Fall der dot.com-Industrie haben ihr viel von ihrem anarchischen Charme geraubt.
Mit seinen Geschichten ist auch Maupin gealtert. Sein neues Buch "Der nächtliche Lauscher" ist düsterer und grüblerischer als die schaumigen Fortsetzungsromane, und es ist ehrgeiziger. Der Reporter versucht sich als Romancier - und verhebt sich gründlich. Maupin erzählt die Geschichte des erfolgreichen Autors Gabriel Noone, erkennbar ein Alter ego des Schriftstellers, ein geborener "Fabulierer", der nachts im Radio "kleine, packende Kamingeschichten" vorliest und damit eine treue Hörerschaft beglückt, sich selbst aber von allem Glück verlassen fühlt. Nach der Trennung von seinem langjährigen Freund Jess vergräbt er sich in seinem Haus, lamentiert über den wachsenden Umfang seines Bauches oder streunt durch das Szeneviertel Castro, "maßlos erstaunt, noch immer da zu sein, noch immer auf der Jagd nach Liebe".
Tiefer und tiefer stolpert Noone in eine Schreibblockade, aus der ihn erst die freche Stimme eines Jungen am Telefon erlöst, eine Stimme, "kindlicher, als ich sie mir vorgestellt hatte, aber kiebig wie nur was, wie ein rotznasiger Taschendieb unserer Zeit". Pete Lomax heißt der heftig pubertierende Anrufer, der ein Buch geschrieben hat, für das Noone den Klappentext verfassen soll. Es ist ein Buch von unfaßbarer Grausamkeit und radikalem Mut, der Lebensbericht des Dreizehnjährigen, der von seinen Eltern von Geburt an gequält und an Päderasten vermietet wurde, sich bei einem seiner Schänder mit dem HI-Virus infizierte, endlich ausreißen konnte, Zuflucht bei einer Pflegemutter fand, seine Erlebnisse zu Papier gebracht hat und nun den Tod erwartet.
Natürlich ist Noone überwältigt von dem Text und hingerissen von der verzweifelten Aggressivität seines neuen Freundes. Wieder und wieder telefonieren die beiden miteinander, bis sie einander schließlich unter Tränen "Vater" und "Sohn" nennen. Paßgenau füllt der kleine Pete jenes Loch, das die Trennung von Jess in Noones Herzen gerissen hat. Mit jedem Telefonat wächst die Zuneigung - und der Zweifel. Denn ausgerechnet Jess, der ab und an ebenfalls mit Pete gesprochen hat, weist Noone darauf hin, daß der Junge exakt dieselbe Stimme hat wie seine Pflegemutter Donna. Empört und verletzt von dem Verdacht, er könne betrogen worden sein, macht sich Noone auf die Suche nach Pete.
Man wäre geneigt, diese Handlungsexposition wahlweise kitschig oder raffiniert zu nennen, wenn die Geschichte nicht auf einer wahren Begebenheit beruhte. Oder genauer: auf einer kolossalen Lüge. Wie schon in seinen "Stadtgeschichten", die bei aller Lust an der Übertreibung ein ziemlich präzises Sittenbild San Franciscos zeichneten, hat sich Maupin auch in seinem Roman eng an die Realität gehalten. Kaum verhüllt verarbeitet er in "Der nächtliche Lauscher" eine Begebenheit, die Amerika seit bald zehn Jahren bewegt: die Geschichte des Tony Godby Johnson, die herzzerreißende Leidenschronik eines Teenagers, der von seinen leiblichen Eltern jahrelang mißbraucht wurde und sich schließlich alle Qualen in dem Buch "A Rock and a Hard Place" von der Seele geschrieben hat. Einem Werk, das auf Anhieb zum Bestseller wurde, unendliche Empörung und Wogen des Mitgefühls auslöste und den jugendlichen Autor gleich einem gebrochenen Engel zur Lichtgestalt werden ließ. Noch heute finden sich im Internet zahllose Lobpreisungen des Buches und immer neue Huldigungen des gequälten Tony.
Dabei ist der längst als Erfindung seiner "Pflegemutter" Vicky Johnson entlarvt. Im vergangenen November hat der Journalist Tad Friend im "New Yorker" den detailsatten Nachweis geführt, daß "A Rock and a Hard Place" kein Tatsachenbericht, sondern Fiktion ist, und Tony Godby Johnson ebenso eine Romanfigur wie Maupins Pete Lomax. Ein Junge, dessen vermeintliche Bilder zwar im Netz kursieren, der stundenlange Telefonate mit Prominenten führte, darunter auch mit Armistead Maupin, den aber nie ein Mensch gesehen hat. Eine Kopfgeburt der mutmaßlich schizophrenen Vicky Johnson, die den Verleger des Buches ebenso wie Reporter und Leser zehn Jahre lang virtuos getäuscht hat, weil die sich alle täuschen lassen wollten.
Das ist, keine Frage, ein eminenter Stoff. Der Stoff für einen großen amerikanischen Roman. Nur ist er bei Armistead Maupin in den falschen Händen. Denn der ahnt nichts von der politischen Brisanz seines Materials. Er interessiert sich nicht für den beispiellosen Medienskandal, will partout nichts wissen von der Sehnsucht der Öffentlichkeit, betrogen zu werden, und ignoriert das Bedürfnis nach Betroffenheit, das sich in der Schwindelei entlarvt. Nicht einmal die Motive der Pflegemutter kümmern ihn. Statt dessen verdünnt er die öffentliche Angelegenheit zum Privatissimum zwischen seinen Protagonisten Pete und Noone, sucht sie zu einer schwulen Vater-Sohn-Tragödie zu stilisieren, verschenkt aber auch dieses Thema in immer neuen Schüben von Geschwätzigkeit, um schließlich ins Krimigenre auszuweichen, als der mißtrauisch gewordene Noone loszieht, den rätselhaften Anrufer aufzustöbern.
Zu seinem eigenen Unglück und zum Verdruß der Leser hat sich Armistead Maupin, der Virtuose der kleinen Form, in seinem neuen Roman all das durchgehen lassen, was das Zeitungsformat der "Stadtgeschichten" verbot: Abschweifungen, Pirouetten, Tratsch. Er verliert sich in Beschreibungen des Hodensacks seines Helden, räsoniert über das Altern der Boheme, über die Liebe in den Zeiten nach Aids, über den unerfüllbaren Wunsch eines Homosexuellen nach einem Sohn, kommt dabei aber nie über das psychologische Niveau von Lebenshilfe in Frauenzeitschriften hinaus. Selbst sein ureigenstes Thema, San Francisco, entgleitet Maupin. In "Der nächtliche Lauscher" taucht die Metropole am Goldenen Tor nur noch als austauschbare Kulisse auf, die nichts zur Geschichte beiträgt. Statt von seiner Stadt erzählt Maupin von sich selbst, und das ist beileibe nicht so interessant.
HEINRICH WEFING
Armistead Maupin: "Der nächtliche Lauscher". Roman. Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002. 352 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man verschlingt dieses Buch wie ein nächtliches Mahl in der Küche. The New York Times