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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Politik in der "Zeitenwende" - und ein Plädoyer für das Nachdenken über die Zeit, wenn die akute Krise vorbei ist.
Vollkommen zu Recht ist "Zeitenwende" zum Wort des Jahres 2022 gewählt worden. In zahlreichen Leitartikeln, Abhandlungen und Büchern ist die jetzt schon ikonische Kanzlerrede von Olaf Scholz kurz nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine sowie die geplante Neuausrichtung der Bundeswehr erschöpfend seziert worden. Auch Julia Berghofer resümiert in ihrem Buch "Der neue Kalte Krieg" die Herausforderungen und Misserfolge der Zeitenwende - das meiste davon war bekannt. Doch die Autorin spannt einen größeren, globaleren Bogen: von dem ihrem Wortlaut nach "ersten Kalten Krieg" über das Tauwetter zwischen Ost und West nach dem Ende der Sowjetunion bis zum "neuen Kalten Krieg" nach der russischen Invasion 2022 einschließlich der Folgen für die deutsche und globale Sicherheitspolitik. Ein Kalter Krieg, der auf "unbegrenzte Dauer" vorherrschen werde, wie sie schreibt. Auch wenn die Kalter-Krieg-Phrase mittlerweile abgegriffen scheint, schafft es Berghofer, sie durch schlüssige Argumentation mit Leben zu füllen.
Für die Fachfrau für Sicherheitspolitik, euroatlantische Sicherheit und nukleare Rüstungskontrolle ähnelt der neue Kalte Krieg zwar in Teilen dem ersten, unterscheidet sich jedoch in vielen Bereichen maßgeblich von diesem. Der interessanteste Punkt ist die zunehmende hybride Kriegsführung, die Russland laut Berghofer "meisterhaft" beherrscht. Der Autorin gelingt es, den unscharfen Begriff, der seit Moskaus Angriffskrieg inflationär benutzt wird, auf den Punkt zu bringen. Eine einheitliche Definition gibt es nicht, aber mit verschiedenen Begriffsverständnissen auch seitens der NATO und EU wird deutlich, was damit gemeint ist: eine komplexe und langfristig zugeschnittene Kombination aus konventionellen Waffen, Desinformation (auch im digitalen Raum), Cyberangriffen, Terrorismus oder anderen irregulären Taktiken, die den Gegner destabilisieren sollen. Dabei stehen all diese Aktivitäten nicht für sich allein, sondern werden erst "hybrid", wenn sie synchron angewendet werden. Ziele könnten dabei sowohl politische Führungen sein, aber auch die Zivilgesellschaft oder kritische Infrastruktur. Üblicherweise befänden sich hybride Aktionen unter der Schwelle des Krieges, schreibt Berghofer. "Doch sie verwischen auch ganz grundsätzlich die Grenze zwischen Krieg und Frieden."
Einen Aspekt der hybriden Kriegsführung, der wenig Aufmerksamkeit erhält, bezeichnet Berghofer mit Verweis auf die Definition von Charles J. Dunlap als "Lawfare". Das meint die Strategie, statt konventioneller militärischer Mitteln das Recht einzusetzen (oder zu missbrauchen), um ein politisches Ziel zu erreichen. Als Beispiel nennt die Autorin die von Moskau organisierten Scheinreferenden 2022 in den besetzten ukrainischen Regionen Cherson, Saporischschja, Luhansk und Donezk, die in die Unterzeichnung von vier Annexionsverträgen mündeten. Aber auch die Klage der Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Russland könne als "Lawfare" verstanden werden - mit dem Ziel, die russische Aggression zu delegitimieren.
Berghofer geht ausführlich auf die Entwicklung der nuklearen Abschreckung ein - während des ersten Kalten Krieges und danach. Das Kapitel gleicht einer historischen Aufzählung. Interessant wird es, wenn die Autorin das nukleare Dilemma schildert, das Spannungsverhältnis zwischen Abrüstung und Abschreckung. Besonders in Deutschland habe sich dieses Dilemma mit der Ära des Präsidenten Trump und dem Ukrainekrieg nochmals verschärft hat. Die nukleare Teilhabe - in deren Rahmen die Bundeswehr Kampfflugzeuge bereithält, die in der Lage sind, amerikanische Atomwaffen zu transportieren - scheine von Politik und Fachleuten oft als notwendiges Übel gesehen zu werden, "dessen man sich früher oder später entledigen wollte". Dies zeige auch die mühsame Nachfolgersuche für das nuklearwaffenfähige Kampfflugzeug Tornado, die von zwei aufeinanderfolgenden großen Koalitionen "verschleppt" worden sei. Erst kurz nach der russischen Invasion entschied sich die Ampelkoalition für das amerikanische Modell Lockheed Martin F-35 Lightning II, das ab 2027 auf dem Fliegerhorst Büchel stationiert werden soll, um im Ernstfall die nukleare Teilhabe zu gewährleisten.
Teilweise kommt Berghofer allerdings der rote Faden abhanden. Das Kapitel zur feministischen Außenpolitik wirkt zunächst wie ein willkürlicher Einschub. Der Kreis schließt sich wieder, als die Autorin die Frage stellt (und beantwortet), was feministische Außenpolitik denn im Krieg zu suchen habe. Gerade dann müsse diese Form der Außenpolitik eine Rolle spielen, konstatiert die Autorin: mit dem Ziel, benachteiligte Gruppen zu schützen sowie die gleichberechtigte Partizipation von Frauen und marginalisierten Personen auch im militärischen Bereich zu fördern. Außerdem richtet Berghofer die Aufmerksamkeit auf das unterrepräsentierte Thema sexualisierte Gewalt gegen Männer im Krieg: Auch wenn Frauen davon viel häufiger betroffen sind, handle es sich nicht um Einzelfälle, schreibt sie und führt als Beispiele unter anderem den Tschetschenienkrieg oder den Nordirlandkonflikt an.
Trotz des ernüchternden Tons meint Berghofer, dass ein professioneller Austausch gerade zwischen jüngeren russischen und ukrainischen Fachleuten gemeinsam mit ihren amerikanischen und europäischen Kollegen weiterhin gefördert werden sollte. So zitiert die Autorin einen russischen Fachmann, der Moskaus Invasion als ein Ereignis beschreibt, das die drei weitgehend friedlichen Dekaden in Europa nach dem Kalten Krieg beendet habe. Aber: "Die Krise wird eines Tages vorüber sein, und wenn es so weit ist, braucht es Leute, die einander vertrauen und die den Frieden von Neuem aufbauen können." GREGOR GROSSE
Julia Berghofer: Der neue Kalte Krieg. Atomwaffen, Cyberattacken, hybride Gefahren. Wie der Westen der neuen Bedrohung begegnen muss.
Quadriga Verlag, Berlin 2023. 318 S., 22,- Euro.
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