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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Rückkehr nach hundert Jahren: Oskar Loerkes "Oger"
Oskar Loerke, der 1884 geborene und 1941 verstorbene Großmeister der naturmagischen Lyrik, war auf dem besten Weg, in Vergessenheit zu geraten. Zuletzt, im vergangenen Juli, hörte man, der Berliner Senat wolle ihm sein Ehrengrab kündigen, also die Pflege seiner Grabstätte auf dem Friedhof Frohnau einstellen. In dieser Zeitung wurde erfolgreich dagegen protestiert (F.A.Z. vom 24. Juli 2021). Da trifft es sich gut, dass der Düsseldorfer Leske-Verlag nun die Erinnerung an Loerke nährt, indem er dessen erzählerisches Hauptwerk, den 1921 erschienenen Roman "Der Oger", in einer schön aufgemachten und vorzüglich kommentierten Ausgabe unter dem Reihen-Label "Kometen der Moderne" der Lektüre empfiehlt. Zu Recht! Es ist ein Werk, das es in hohem Maße verdient hat, nicht nur vorrätig gehalten, sondern auch gelesen zu werden. Zwar wirken Geschichte und Stil zunächst etwas befremdend, aber wer sich hineinfindet, wird reichlich belohnt. "Der Oger" ist ein existenziell tiefsinniges und erzählerisch faszinierendes Buch.
Geschildert wird die sich von 1750 bis 1910 erstreckende Geschichte eines im Weichselland ansässigen Bauerngeschlechts, das in dieser Zeitspanne Aufstieg und Fall erlebt. Mehrfach wird die Familie Wendenich Opfer einer bösen Lebensmacht, die allgegenwärtig zu sein scheint und in den mythopoetischen Passagen des Romans als "Oger" imaginiert wird: eine riesenhafte Nebelgestalt, die sich in vielerlei Formen zeigt und allen Lebewesen, Menschen und Tieren, feindlich entgegentritt. Die umsichtigen Herausgeber, die Germanisten Dieter Heimböckel und Claus Zittel, verweisen in ihrem instruktiven Nachwort auf eine beachtliche literarische Grundierung, zu der unter anderem auch Goethes Schauerballade vom "Erlkönig" gehört.
In die Geschichte der Familie Wendenich greift dieser gespenstische Oger mehrfach bösartig ein. Den Hofbesitzer Andreas stürzt er vom Baugerüst, sodass der fortan als Krüppel durchs Leben humpeln muss. Andreas' Frau Christine, eine Inkarnation weiblicher Liebenswürdigkeit und Güte, lässt der Oger an Krebs sterben, ihren Sohn Johann bedenkt er mit der "Fallsucht" (Epilepsie), was zum familiären Desaster führt. Zwar wehrt sich Johann tapfer gegen das Schicksal, bekommt sein Leben in den Griff und kann das Gut für eine Weile leiten. Dann aber sorgen neue Anfälle für wirtschaftlichen Abstieg und eine familiäre Tragödie.
Davon ist auch der Erzähler des Romans, ein Sohn Johanns, betroffen. Im Streit sagt er sich vom Vater los, doch lastet die Familiengeschichte wie ein Fluch auf ihm und zwingt ihn, sich mit ihr auseinanderzusetzen, um sich von ihr emanzipieren und sich als eigene Person konstituieren zu können. Dem verdankt sich die "Familienchronik" der Wendenichs, die dieser Sohn um 1910/11 niederschreibt, unterbrochen durch zwei innerlich extrem bewegende Fahrten auf einem Fischdampfer.
Sowohl die Rahmenerzählungen über diese beiden Fischfangfahrten als auch die Binnenerzählungen vom Schicksal der Wendenichs sind von eigentümlichen, stark profilierten Figuren mit bemerkenswerten Lebensgeschichten bevölkert. Würdevolles und Verschrobenes, Tragisches und Skurriles wohnen eng beieinander und treten in ein meist bedrückendes Wechselspiel. Über dem ganzen Geschehen liegt ein fast immerzu spürbarer Hauch des Unglücks, des Leidens und Mitleidens, der Trauer und der Klage. Aber mehr noch als durch diesen Zug zur Passion wird der Charakter des Oger-Romans durch seine grandiose sprachliche Wucht bestimmt. Die ganze Verdichtungskraft, die man aus Loerkes Lyrik kennt, darf sich in diesem Roman in epischer Breite entfalten.
Alle Mittel, die von der literarischen Entwicklung der vorausgehenden Jahrzehnte zur Verfügung gestellt wurden - naturalistische Drastik, nervenkünstlerische Introspektion, expressionistische Evokationskraft -, werden aufgeboten und in dicht aufeinander folgenden Passagen von unerhörter sprachlicher Dynamik und Bilderfülle ausgespielt. Ein Kapitel wie das, in dem der verzweifelte Johann unter einem apokalyptischen Himmel versucht ist, sich von einer Windmühle in den Tod schleudern zu lassen, prägt sich tief ein. In der Darstellung sowohl der epileptischen Anfälle als auch der momentanen Bestürzung und der dauerhaften Beängstigung, die die Krankheit bei Betroffenen und Angehörigen auslöst, erreicht "Der Oger" eine Intensität, die Entsprechungen vielleicht nur noch bei Dostojewski hat.
Das kam freilich nicht von ungefähr: Oskar Loerke war der Sohn eines Epileptikers. "Der Oger" ist auch das Dokument einer langen Auseinandersetzung mit der Krankheit und mit der Angst vor ihr. Erst der Erzähler des Romans, Martin Wendenich, überwindet sie. Gegen Ende sagt er sich: "Es gibt keine Krankheit." Die Herausgeber ergänzen dies in ihrem Nachwort unter Verweis auf Ludwig Fleck: "Sondern nur das, was man aus ihr macht."
Es wäre denn auch verfehlt oder zumindest unzureichend, "Der Oger" als Epilepsieroman zu lesen. Die Fallsucht des Johann Wendenich ist Metapher für Schicksal, Anlass für erschütternde existenzielle Erfahrungen und vor allem Herausforderung für die Selbstkonstituierung des Ichs gegenüber zermalmen wollenden Lebensmächten. Der Erzähler verdankt dieser Erfahrung eine ihn immer wieder erschütternde Sensibilität für das Leid der Welt und insbesondere für das Leiden der Kreatur. Die Schilderung des Fischfangs, des Auswerfens und Hievens der ogerhaften Netze, des panischen Trommelns und elenden Erstickens der gefangenen Tiere auf den Deckplanken, ihres blutigen Aufschlitzens und Ausräumens, ist von fast schockierender Eindringlichkeit. Wer es gelesen hat, wird es nicht wieder vergessen.
Vor hundert Jahren erhielt "Der Oger" ein gutes Dutzend anerkennender Rezensionen. Danach aber scheint er aus dem Bewusstsein des Publikums und der literarisch tonangebenden Zeitgenossen rasch verschwunden zu sein. In der extensiven Romandebatte der Zwanzigerjahre spielt er keine Rolle; vorbildlich wirkte er wohl nur für Hans Henny Jahnn, neuerdings vielleicht für Lutz Seiler. In literaturgeschichtlichen Epochendarstellungen wird er nicht erwähnt, was die Herausgeber beklagen, ohne indessen zu fragen, wie es zu dem raschen und gründlichen Vergessen kam. Verantwortlich sind wohl mehrere Faktoren: Als der Roman 1921 erschien, ging die Zeit der expressionistischen Exaltationen, von denen "Der Oger" mitgeprägt ist, zu Ende. Statt visionärer Weltschau wurde Sachlichkeit verlangt, statt Pathos Nüchternheit. Und Politik. Die großen Romane, in denen die Zeitgenossenschaft sich vorzugsweise reflektiert fand und die deswegen als die besten Spiegel der Epoche gelten, führen in den Krieg (Thomas Manns "Zauberberg" von 1924 und Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" von 1930), spielen im Krieg (Hermann Brochs "Huguenau oder Die Sachlichkeit" von 1932) oder haben Helden, die durch den Krieg und die von ihm ausgelösten sozialen und politischen Verwerfungen beschädigt sind (Hermann Hesses "Steppenwolf" von 1927 und Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" von 1929). Dagegen wirkt "Der Oger" wie eine reine Privatgeschichte aus der sozusagen vorpolitischen Zeit der "machtgeschützten Innerlichkeit" (Thomas Mann). Das macht den Roman nicht bedeutungslos, relativiert aber seine epochale Repräsentativität. HELMUTH KIESEL
Oskar Loerke: "Der Oger". Roman.
Hrsg. von Dieter Heimböckel und Claus Zittel. C. W. Leske Verlag, Düsseldorf 2021. 455 S., geb., 28,- Euro.
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