»Der Osten hat keine Zukunft, solange er nur als Herkunft begriffen wird.« Was bedeutet es, eine Ost-Identität auferlegt zu bekommen? Eine Identität, die für die wachsende gesellschaftliche Spaltung verantwortlich gemacht wird? Der Attribute wie Populismus, mangelndes Demokratieverständnis, Rassismus, Verschwörungsmythen und Armut zugeschrieben werden? Dirk Oschmann zeigt in seinem augenöffnenden Buch, dass der Westen sich über dreißig Jahre nach dem Mauerfall noch immer als Norm definiert und den Osten als Abweichung. Unsere Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft werden von westdeutschen Perspektiven dominiert. Pointiert durchleuchtet Oschmann, wie dieses Othering unserer Gesellschaft schadet, und initiiert damit eine überfällige Debatte. »Wer über den Beitritt und die Folgen sprechen will, wird um dieses Buch nicht herumkommen.« Ingo Schulze
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ja, Dirk Oschmann schießt übers Ziel hinaus, das gibt Rezensentin Claudia Schwartz gern zu. Er wird unsachlich und verharmlost die AfD ebenso wie die Putin-Anhängerschaft im Osten. Dennoch hat sein Buch in ihren Augen Gewicht, denn es sei einfach nicht von der Hand zu weisen, mit welcher Abschätzigkeit und Ignoranz der Westen dem Osten begegne. Das hat für Schwartz schon nach der Wende begonnen, als etwa Intellektuelle wie Arnulf Baring und Wolf Jobst Siedler von einem "verzwergten Menschenschlag" und der "Kolonisierungsaufgabe" sprachen, und es setzt sich bis heute fort, wenn etwa Armin Laschet erklärt, die DDR habe die Köpfe der Menschen zerstört, oder wenn sich taz und Spiegel über die mosernden Ossis in ihren Kleingärten und Kantinen mokieren, so die Rezensentin. Die Überheblichkeit, mit der das Buch ihrer Ansicht nach im Westen behandelt wird, spricht für Schwartz ebenfalls Bände.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.03.2023Los Wochos in
Lostdeutschland
Professor Dirk Oschmann erwacht
aus eiskaltem Schlaf und
stürmt die Ost-West-Debatte.
Nun heißt es: Aufgepasst und mitgemacht!
VON CORNELIUS POLLMER
In dem Sci-Fi- und Actionklassiker „Demolition Man – Ein eiskalter Bulle“ verbringt Sylvester Stallone einige Jahrzehnte in der Tiefkühltruhe einer kryogenischen Haftanstalt – er liegt regungslos da in einem Kälteschlaf, bevor ihn futuristische Vollzugsbeamte endlich auftauen, damit er sein Leben fortsetzen und die Welt doch noch retten kann. Ähnlich verhält es sich derzeit in der Wirklichkeit mit dem Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann, wobei im direkten Vergleich auf wenigstens einen Unterschied aufmerksam zu machen ist: Oschmann hat sich selbst geweckt.
Nachdem der Professor lange in allen möglichen Ost-West-Debatten nicht vorgekommen war, schrieb er vor einem Jahr für die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Gastbeitrag. Diesen Text hat Oschmann zur Diskursbewirtschaftung nun zu einem Sachbuch ausgebaut und bei Ullstein unter dem Titel „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ vorgelegt. Es ist zwar längst nicht die erste Retro- und Introspektive dieser Art, mit der es die Fachwelt zu tun bekommt, wohl aber handelt es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um den zornigsten und auf eine listige Art schamlosesten Einwurf, den es bislang zu verhandeln galt.
Oschmann tut, erstens und wiewohl Literaturwissenschaftler von Beruf, so, als habe es bisher kaum Diskurs zu dem Thema gegeben, das jetzt auch sein Thema geworden ist. Munter diskutiert er das im Weltmaßstab einmalig dumme Spiegel-Cover mit dem deutschlandfarbenen Anglerhütchen („So tickt er, der Ossi“), als komme dieses Cover frisch aus der Druckerei und nicht aus dem Jahr 2019. Munter zieht er durch auch an anderer Stelle und ohne eine Sekunde zu stutzen über die Unterkomplexität der eigenen These, dass keine Menschengruppe in Deutschland seit 1990 so stark benachteiligt worden sei wie die heute mittelalten und alten ostdeutschen Männer.
In derart umfassender Weise unbelastet von Vorgeschichte führt Oschmann, zweitens, seine nur scheinbar morgentaufrische Kernthese aus. Neben der allgemein messbaren Benachteiligung des Ostens in Kategorien des Wohlstands oder der Repräsentation in Eliten beklagt der Professor auch das Label als solches. „Der Osten“ müsse ideengeschichtlich dem Buchtitel folgend als westdeutsche Erfindung begriffen werden – sozusagen als Trick, um alles von dieser durch den Westen definierten Norm Abweichende nicht nur sprachlich zu fassen und zu brandmarken. Schon wegen solcher Zurücksetzungen sei das Konzept Ostdeutschland bis hin zum jeweiligen Ostbeauftragten der Bundesregierung im Grunde unbrauchbar, eine Zumutung.
Dirk Oschmann nimmt nun, drittens, mit diesem Gedanken und seinem Buch im Medienkarussell Platz und dreht wie andere Diskursritter vor ihm die große Runde. Ausführliche Interviews in Tagesspiegel und Welt, der Spiegel räumt in einer Art Exorzismus in eigener Sache sogar vier Seiten frei und zeigt natürlich seinerseits das Cover mit dem Anglerhut noch mal. Wer das alles gelesen hat, schaltet das Radio an – und „bei uns zu Gast“ ist schon wieder Dirk Oschmann. Der Preis für das schönste Schlusswort aber geht an die Kollegen vom Fernsehen, in die ARD zu ttt. Am Ende des etwas ratlosen Beitrages über Dirk Oschmann fragt eine Stimme, was mit dem neuartigen Ostbuch nach vielen anderen Ostbüchern denn nun anzufangen sei? „Einigen wir uns darauf: Alles zur Wiedervorlage“. Das ist nun fast noch besser als die schwer verzopften Beiträge, die einst am Ende der Hauptnachrichten von der Düsseldorfer Modemesse „Igedo“ resümierten: „Erlaubt ist, was gefällt.“
Müde lächelt also am unteren Bildrand ein unsichtbares Murmeltier und gibt zu Protokoll: So läuft es immer. Jemand äußert etwas über den Osten, dann gibt es eine „Debatte“, am Ende sind alle Diskursfexe müde und kommen sich noch spanischer vor als sonst schon. Wiederum danach passiert eine Weile zu einhundert Prozent nichts. Dann geht es wieder von vorne los mit Los Wochos in Lostdeutschland. So gesehen ist Dirk Oschmann nicht mehr als der Headwriter der aktuellen Staffel von „Ost“. (Selbst diese vorübergehend abschließende Feststellung ist in der Sekunde ihres Formuliertwerdens bereits kalter, wenn nicht eiskalter Kryokaffee.)
Das Bemerkenswerte an dem Buch von Dirk Oschmann ist deswegen nicht, dass er darin den Stuck in seiner Leipziger Altbauwohnung bestaunt oder in einer (für einen Ostdeutschen) wirklich bemerkenswert selbstherrlichen Art und Weise Auskunft gibt über die offenbar ganz tolle Resonanz auf den FAZ-Artikel damals. Bemerkenswert ist nicht, wie Oschmann auch sonstige Privilegien seines Lebens als „anywhere“ (Selbstbeschreibung) reflektiert, obwohl es natürlich irgendwie schräg kommt, dass sich hier einer ohne Wahl zum Sprecher einer Klasse ernennt, der er sich selbst lediglich qua Geburt in Thüringen noch angehörig fühlt.
Bemerkenswert an diesem Buch ist letztlich etwas anderes. Egal ob Oschmann alle bisherigen Debatten zum Thema kaum mitbekommen oder sie absichtlich ignoriert hat, am Ende hat er in verquerer Weise Recht mit seinem Zorn. Am Ende nämlich ist jedwede Gewöhnung an ungerechte Verhältnisse genauso falsch wie die Hinnahme von Be- und Zuschreibungen wie die der Ossis als nur beigetretener Andersdeutscher. Falsch ist letztlich auch eine gewisse Resignation, die sich angesichts des Virtue Signaling in der Edition Ostdeutschland bei vielen längst eingestellt hat. Dabei speist sich aus einem konkreten Wissen über Vergangenheit eine Annahme über die Zukunft: Alles, was uns betrifft, wird immer wieder ganz toll besprochen, bevor sich dann leider weiterhin nichts ändert.
Zu den also tausendfach skizzierten Verhältnissen gehört, dass im Osten Deutschlands weiterhin weniger verdient wird, und dass in allen nur denkbaren Eliten Ostdeutsche himmelweit hinter ihrem Anteil in der Gesamtbevölkerung zurückbleiben. Die allgemeine Erwartung lautet, dass darüber lange und oft genug gesprochen worden und deswegen jetzt mal gut ist. Die Erwartung lautet, dass man als Ostdeutscher sich auf den Marktplatz seiner durchsanierten ostdeutschen Stadt stellt und dankbar ausruft, wie schön doch alles geworden sei, bevor eine kühle Hand sich mit leichtem Druck auf die Schulter legt und der westdeutsche Vermieter den neuen Indexmietvertrag zur Unterschrift reicht.
Für diese quasi-zementierten Verhältnisse findet Oschmann mühelos aktuelle Beispiele. So naiv und weltvergessen sein Zorn einem beim ersten Lesen erscheinen mag: Ist es nicht am Ende viel cooler, diesen Zorn selbst im Angesicht der monströsen Ahnung zu behalten, dass auch er folgenlos bleiben wird wie sämtliche Empört-Euch!-Ausbrüche zuvor?
Denn folgenlos wird, Spoiler, auch dieses Buch bleiben. Es wird sich im Westen Deutschlands keine critical westdeutschness mehr entwickeln, das historische Zeitfenster ist inzwischen verriegelt. Es wird sich auch nichts mehr ändern an der toxischen Beziehung, in der sich West- und Ostdeutschland befinden – die eine Seite fühlt sich überlegen und wohl in dieser Beziehung, die andere verfügt schlicht nicht über die Macht, an ihrem Wesen etwas zu verändern.
Ebenfalls nicht ändern wird sich, dass die meisten Menschen von Oschmanns Buch, seinen Interviews oder diesem Text ohnehin nichts mitkriegen, weil sie mit einem Desinteresse gesegnet sind, das schon das Existenzrecht der Debatte als solcher in Frage stellt. Wahlweise gibt es für solche Menschen keinen Osten oder Westen mehr, alternativ ist intellektuell Schluss nach der sinngemäßen Feststellung „Die DDR war ein Unrechtsstaat, und heute sieht es in Gelsenkirchen schlimmer aus als in Gotha“.
Und damit zur letzten, vielleicht einzigen, mit Sicherheit besten Pointe dieser Fahrt auf dem lustigen Medienkarussell, einer Art Haftungsausschluss: Bei der Süddeutschen Zeitung beteiligen wir uns an diesem bedauernswert folgenlosen Gespräch über Ostdeutschland nicht nur regelmäßig, wir führen es proaktiv selbst – das nächste Mal zum Beispiel im Rahmen der Leipziger Buchmesse am 29. April 2023 um 20 Uhr im Kaiserbad. Moderiert vom Autor dieses Textes trifft die Autorin Anne Rabe dann auf, wen sonst: Dirk Oschmann (wenn er nicht noch absagt).
„Der Osten“? Der Professor hält
das ganze Konzept für nicht
weniger als eine Zumutung
Jemand äußert
etwas über den Osten,
dann gibt es eine „Debatte“
Folgenlos wird auch dieses
Buch bleiben: Eine critical
westdeutschness ist nicht in Sicht
Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche
Erfindung, Ullstein,
224 Seiten, 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Lostdeutschland
Professor Dirk Oschmann erwacht
aus eiskaltem Schlaf und
stürmt die Ost-West-Debatte.
Nun heißt es: Aufgepasst und mitgemacht!
VON CORNELIUS POLLMER
In dem Sci-Fi- und Actionklassiker „Demolition Man – Ein eiskalter Bulle“ verbringt Sylvester Stallone einige Jahrzehnte in der Tiefkühltruhe einer kryogenischen Haftanstalt – er liegt regungslos da in einem Kälteschlaf, bevor ihn futuristische Vollzugsbeamte endlich auftauen, damit er sein Leben fortsetzen und die Welt doch noch retten kann. Ähnlich verhält es sich derzeit in der Wirklichkeit mit dem Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann, wobei im direkten Vergleich auf wenigstens einen Unterschied aufmerksam zu machen ist: Oschmann hat sich selbst geweckt.
Nachdem der Professor lange in allen möglichen Ost-West-Debatten nicht vorgekommen war, schrieb er vor einem Jahr für die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Gastbeitrag. Diesen Text hat Oschmann zur Diskursbewirtschaftung nun zu einem Sachbuch ausgebaut und bei Ullstein unter dem Titel „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ vorgelegt. Es ist zwar längst nicht die erste Retro- und Introspektive dieser Art, mit der es die Fachwelt zu tun bekommt, wohl aber handelt es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um den zornigsten und auf eine listige Art schamlosesten Einwurf, den es bislang zu verhandeln galt.
Oschmann tut, erstens und wiewohl Literaturwissenschaftler von Beruf, so, als habe es bisher kaum Diskurs zu dem Thema gegeben, das jetzt auch sein Thema geworden ist. Munter diskutiert er das im Weltmaßstab einmalig dumme Spiegel-Cover mit dem deutschlandfarbenen Anglerhütchen („So tickt er, der Ossi“), als komme dieses Cover frisch aus der Druckerei und nicht aus dem Jahr 2019. Munter zieht er durch auch an anderer Stelle und ohne eine Sekunde zu stutzen über die Unterkomplexität der eigenen These, dass keine Menschengruppe in Deutschland seit 1990 so stark benachteiligt worden sei wie die heute mittelalten und alten ostdeutschen Männer.
In derart umfassender Weise unbelastet von Vorgeschichte führt Oschmann, zweitens, seine nur scheinbar morgentaufrische Kernthese aus. Neben der allgemein messbaren Benachteiligung des Ostens in Kategorien des Wohlstands oder der Repräsentation in Eliten beklagt der Professor auch das Label als solches. „Der Osten“ müsse ideengeschichtlich dem Buchtitel folgend als westdeutsche Erfindung begriffen werden – sozusagen als Trick, um alles von dieser durch den Westen definierten Norm Abweichende nicht nur sprachlich zu fassen und zu brandmarken. Schon wegen solcher Zurücksetzungen sei das Konzept Ostdeutschland bis hin zum jeweiligen Ostbeauftragten der Bundesregierung im Grunde unbrauchbar, eine Zumutung.
Dirk Oschmann nimmt nun, drittens, mit diesem Gedanken und seinem Buch im Medienkarussell Platz und dreht wie andere Diskursritter vor ihm die große Runde. Ausführliche Interviews in Tagesspiegel und Welt, der Spiegel räumt in einer Art Exorzismus in eigener Sache sogar vier Seiten frei und zeigt natürlich seinerseits das Cover mit dem Anglerhut noch mal. Wer das alles gelesen hat, schaltet das Radio an – und „bei uns zu Gast“ ist schon wieder Dirk Oschmann. Der Preis für das schönste Schlusswort aber geht an die Kollegen vom Fernsehen, in die ARD zu ttt. Am Ende des etwas ratlosen Beitrages über Dirk Oschmann fragt eine Stimme, was mit dem neuartigen Ostbuch nach vielen anderen Ostbüchern denn nun anzufangen sei? „Einigen wir uns darauf: Alles zur Wiedervorlage“. Das ist nun fast noch besser als die schwer verzopften Beiträge, die einst am Ende der Hauptnachrichten von der Düsseldorfer Modemesse „Igedo“ resümierten: „Erlaubt ist, was gefällt.“
Müde lächelt also am unteren Bildrand ein unsichtbares Murmeltier und gibt zu Protokoll: So läuft es immer. Jemand äußert etwas über den Osten, dann gibt es eine „Debatte“, am Ende sind alle Diskursfexe müde und kommen sich noch spanischer vor als sonst schon. Wiederum danach passiert eine Weile zu einhundert Prozent nichts. Dann geht es wieder von vorne los mit Los Wochos in Lostdeutschland. So gesehen ist Dirk Oschmann nicht mehr als der Headwriter der aktuellen Staffel von „Ost“. (Selbst diese vorübergehend abschließende Feststellung ist in der Sekunde ihres Formuliertwerdens bereits kalter, wenn nicht eiskalter Kryokaffee.)
Das Bemerkenswerte an dem Buch von Dirk Oschmann ist deswegen nicht, dass er darin den Stuck in seiner Leipziger Altbauwohnung bestaunt oder in einer (für einen Ostdeutschen) wirklich bemerkenswert selbstherrlichen Art und Weise Auskunft gibt über die offenbar ganz tolle Resonanz auf den FAZ-Artikel damals. Bemerkenswert ist nicht, wie Oschmann auch sonstige Privilegien seines Lebens als „anywhere“ (Selbstbeschreibung) reflektiert, obwohl es natürlich irgendwie schräg kommt, dass sich hier einer ohne Wahl zum Sprecher einer Klasse ernennt, der er sich selbst lediglich qua Geburt in Thüringen noch angehörig fühlt.
Bemerkenswert an diesem Buch ist letztlich etwas anderes. Egal ob Oschmann alle bisherigen Debatten zum Thema kaum mitbekommen oder sie absichtlich ignoriert hat, am Ende hat er in verquerer Weise Recht mit seinem Zorn. Am Ende nämlich ist jedwede Gewöhnung an ungerechte Verhältnisse genauso falsch wie die Hinnahme von Be- und Zuschreibungen wie die der Ossis als nur beigetretener Andersdeutscher. Falsch ist letztlich auch eine gewisse Resignation, die sich angesichts des Virtue Signaling in der Edition Ostdeutschland bei vielen längst eingestellt hat. Dabei speist sich aus einem konkreten Wissen über Vergangenheit eine Annahme über die Zukunft: Alles, was uns betrifft, wird immer wieder ganz toll besprochen, bevor sich dann leider weiterhin nichts ändert.
Zu den also tausendfach skizzierten Verhältnissen gehört, dass im Osten Deutschlands weiterhin weniger verdient wird, und dass in allen nur denkbaren Eliten Ostdeutsche himmelweit hinter ihrem Anteil in der Gesamtbevölkerung zurückbleiben. Die allgemeine Erwartung lautet, dass darüber lange und oft genug gesprochen worden und deswegen jetzt mal gut ist. Die Erwartung lautet, dass man als Ostdeutscher sich auf den Marktplatz seiner durchsanierten ostdeutschen Stadt stellt und dankbar ausruft, wie schön doch alles geworden sei, bevor eine kühle Hand sich mit leichtem Druck auf die Schulter legt und der westdeutsche Vermieter den neuen Indexmietvertrag zur Unterschrift reicht.
Für diese quasi-zementierten Verhältnisse findet Oschmann mühelos aktuelle Beispiele. So naiv und weltvergessen sein Zorn einem beim ersten Lesen erscheinen mag: Ist es nicht am Ende viel cooler, diesen Zorn selbst im Angesicht der monströsen Ahnung zu behalten, dass auch er folgenlos bleiben wird wie sämtliche Empört-Euch!-Ausbrüche zuvor?
Denn folgenlos wird, Spoiler, auch dieses Buch bleiben. Es wird sich im Westen Deutschlands keine critical westdeutschness mehr entwickeln, das historische Zeitfenster ist inzwischen verriegelt. Es wird sich auch nichts mehr ändern an der toxischen Beziehung, in der sich West- und Ostdeutschland befinden – die eine Seite fühlt sich überlegen und wohl in dieser Beziehung, die andere verfügt schlicht nicht über die Macht, an ihrem Wesen etwas zu verändern.
Ebenfalls nicht ändern wird sich, dass die meisten Menschen von Oschmanns Buch, seinen Interviews oder diesem Text ohnehin nichts mitkriegen, weil sie mit einem Desinteresse gesegnet sind, das schon das Existenzrecht der Debatte als solcher in Frage stellt. Wahlweise gibt es für solche Menschen keinen Osten oder Westen mehr, alternativ ist intellektuell Schluss nach der sinngemäßen Feststellung „Die DDR war ein Unrechtsstaat, und heute sieht es in Gelsenkirchen schlimmer aus als in Gotha“.
Und damit zur letzten, vielleicht einzigen, mit Sicherheit besten Pointe dieser Fahrt auf dem lustigen Medienkarussell, einer Art Haftungsausschluss: Bei der Süddeutschen Zeitung beteiligen wir uns an diesem bedauernswert folgenlosen Gespräch über Ostdeutschland nicht nur regelmäßig, wir führen es proaktiv selbst – das nächste Mal zum Beispiel im Rahmen der Leipziger Buchmesse am 29. April 2023 um 20 Uhr im Kaiserbad. Moderiert vom Autor dieses Textes trifft die Autorin Anne Rabe dann auf, wen sonst: Dirk Oschmann (wenn er nicht noch absagt).
„Der Osten“? Der Professor hält
das ganze Konzept für nicht
weniger als eine Zumutung
Jemand äußert
etwas über den Osten,
dann gibt es eine „Debatte“
Folgenlos wird auch dieses
Buch bleiben: Eine critical
westdeutschness ist nicht in Sicht
Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche
Erfindung, Ullstein,
224 Seiten, 19,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2023Her mit dem Generationenkonflikt!
Wie die Bücher von Anne Rabe, Charlotte Gneuß und Dirk Oschmann die Debatte um Ost und West 2023 neu belebten.
Von Tobias Rüther
Es war ein produktives Jahr für die Debatte um die Frage, wie es denen im Osten und denen im Westen untereinander und miteinander so geht. Es war produktiv, weil 2023 darüber debattiert worden ist wie seit Langem nicht mehr. Die Perspektive auf die Geschichte der Deutschen in Ost und West vor und nach dem Mauerfall beginnt sich langsam zu verändern. Vorstellungen, Formeln, die seit Ewigkeiten im Umlauf sind, werden revidiert. Dazu gehört ein Begriff wie die "friedliche Revolution" von 1989, die gar nicht so friedlich war. Oder die Beschwörung der sogenannten "inneren Einheit" - was nicht nur ein unerreichbares Ziel vorgibt, sondern auch die Idee, dass es erstrebenswert für eine pluralistische Gesellschaft sei, wenn sie sich einig ist in der hochindividuellen Frage der Identität. Darin also, wie es uns vielen unterschiedlichen Deutschen unterschiedlicher Herkunft geht, warum es uns so geht und dass es uns am besten entweder so oder so gehen sollte. Das Gelingen einer pluralistischen Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten aber doch daran, dass sie Differenzen aushält oder aushandelt.
Und es tauchten deutsche und deutsch-deutsche Differenzen auf in diesem Jahr 2023. Sie zeigten sich in neuen Büchern, aber genauso auch darin, wie über diese Bücher diskutiert wurde. Über Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" und Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee", über Dirk Oschmanns Polemik "Der Osten", um die drei prominentesten Beispiele zu nennen. 34 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Eine Generation also. Die Frage nach der Identität in West und Ost lässt sich endgültig nicht mehr nur nach Himmelsrichtungen bestimmen. Auch wenn der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seiner Wutschrift vom "Osten" als "westdeutscher Erfindung" das noch einmal in voller Absicht tat. Der Ossi als zurückgesetztes, nie für voll genommenes, geduldetes Mitglied im Weststaat: Oschmann hat mit diesem Stoff sehr viele Bücher verkauft und ist durch die Zeitungen und Talkshows im Westen der Republik getourt - wo er dann verkündete, dass der Westen sich immer noch nicht für den Osten interessiere, wieder und wieder.
Dass sich der Autor der Kritik an seinem Buch nach wie vor stellt (statt sich in die Pose des Verfolgten zurückzuziehen), auch das spricht dafür, dass es doch Räume gibt, in denen man sich seriös austauscht, und sie auch genutzt werden. Von Desinteresse kann keine Rede sein. Von Ressentiments aber natürlich schon. Dass sich im Westen die Vorstellung hält, die AfD sei ein Problem des Ostens, das dürfte sich erledigt haben, seit die Rechtsextremen bei den Wahlen in Hessen zweitstärkste und in Bayern drittstärkste Kraft wurden, mit deutlichen Zugewinnen.
Der Raum aber, in dem sich eine Gesellschaft immer schon besonders intensiv über Widersprüche und Ungereimtheiten, Verdrängtes und Ressentiments austauschen kann, bleibt: die Literatur. Zwei große Romane sind in diesem Jahr erschienen und auf Interesse im Osten wie im Westen gestoßen. Beiden gelingt es, nicht nur von Erinnerung zu handeln: Sie bringen dabei auch zur Sprache, wie überhaupt erinnert wird. Wie schwierig das ist. Wie es aber auch funktionieren kann, dass Erinnern ein gegenwärtiger Prozess ist, der Gestern und Heute verbindet. Beide Romane waren in der engeren und engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreises 2023. Gewonnen hat ihn keiner von beiden. Dass sie aber auf allen Bestenlisten dieses Jahres auftauchen, spricht für sich.
Anne Rabes Familienroman "Die Möglichkeit von Glück" erzählt von Stine, die Mitte der Achtzigerjahre an der Ostsee geboren wird - und sich, als Erwachsene und junge Mutter, dem Verschwiegenen in der eigenen Familie, aber auch den Konflikten der Familien um sie herum stellt. Ins Archiv geht, um die Geschichte ihres Großvaters zu erforschen, der von der Ostfront zurückkehrte und an die neue DDR glaubte - und an das Versprechen, dass es nie wieder Faschismus geben würde, solange sie steht. Seine Tochter, Stines "Mutti", erzieht ihre beiden Kinder in einer brutalen Erbarmungslosigkeit, dass man die Lektüre oft kaum aushält. Einmal quält die Mutti die kleine Stine und den noch kleineren Tim in einer viel zu heißen Badewanne. Der Vater hört seine Kinder auch schreien.
Rabes Roman präpariert - in der skrupulösen Recherche seiner Ich-Erzählerin Stine, die zum Bruch mit der Familie führt und in der Emanzipation endet - die Gewaltgeschichte der DDR heraus. "Die Möglichkeit von Glück" zeigt bedrückend klar, wie untrennbar Privates und Politisches zusammenhängen. Die Gewaltgeschichte der DDR beginnt in den Familien, die von den Traumata und Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt wurden, ohne sich diesem Erbe je zu stellen, weil der staatlich verordnete Antifaschismus ja alle Fragen dazu eh schon beantwortet hatte. Sie geht weiter im Bildungssystem der DDR, mit ihren "Jugendwerkhöfen", fürchterlichen Umerziehungsanstalten. Und nach dem Mauerfall geht die Geschichte auf und wieder weiter in den sogenannten "Baseballschlägerjahren" rechtsradikaler Morde und Terrorakte und der Alltagsbrutalität. Wie haben die Eltern mit den Kindern geredet, als die von der Jagd auf "Ausländer" an den Abendbrottisch heimkamen? Wer hat wen was gefragt? Und wusste, wer dann auf Partys in den aufgelassenen Jugendwerkhöfen feierte, was den Gleichaltrigen ein paar Jahre zuvor dort angetan worden war?
"Die Möglichkeit von Glück" gehört in eine Reihe neuer Bücher, von Daniel Schulz, von Hendrik Bolz, die der Greifswalder Germanist Eckhard Schumacher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Merkur" analysiert hat. Schumacher bringt es auf die Formel "Nachwendenarration als Gewaltgeschichte": Eine Generation meldet sich hier zu Wort und bringt Erfahrungen zur Sprache, die lange in der deutsch-deutschen Gegenwartsliteratur fehlten. Hier schreiben die Kinder der Umbruchzeit, die damals sich selbst überlassen waren mit ihren Fragen, weil ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ein großes Loch aus Schweigen tut sich da auf. Auch Schweigen über den Unrechtsstaat DDR. Wie ihre Erzählerin Stine ist Anne Rabe Mitte der Achtziger in einer ostdeutschen Hafenstadt geboren worden. "Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein", lässt sie Stine sagen.
Es tauchte in diesem Jahr auch wieder die Forderung nach einem "1968 für die DDR" auf. Also nach einem Gespräch zwischen ostdeutschen Großeltern und Eltern und Kindern und Enkeln über das, was die DDR war und wer was in dieser DDR war. Es geht um Verantwortung. Fragt man die Bielefelder Zeithistorikerin Christina Morina danach, die im eine vielbeachtete deutsch-deutsche Demokratiegeschichte der letzten vierzig Jahre vorgelegt hat, ob sich hier also ein Generationenkonflikt zeigt: dann reagiert sie vorsichtig, begrüßt aber die produktive Unruhe und den differenziert ausgetragenen Streit. Die Indizien eines Generationenkonfliktes zwischen denen, die über die DDR schreiben, sind jedoch offensichtlich, das zeigte sich erst wieder, als der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944, letzte Woche im Deutschlandfunk erklärte, "die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland" seien "immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt". Nach der Wiedervereinigung habe im Osten "eine Auswechslung der Eliten" stattgefunden, die Hein "an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten". Anne Rabe twitterte daraufhin, Heins Wortmeldung sei "das Ekelhafteste", was die deutsch-deutsche Debatte der letzten dreißig Jahren zu bieten gehabt habe.
Das stärkste Indiz des Generationenkonflikts war in diesem Jahr aber die Diskussion um Charlotte Gneuß und ihren Roman "Gittersee". Gneuß, 1992 im Westen als Kind von Eltern geboren, die aus der DDR ausgereist waren, erzählt darin die Geschichte der sechzehnjährigen Karin: Es ist 1976, ein Vorort von Dresden, und Karin sehr verliebt in Paul. Der in den Westen flieht, ohne ihr von seinen Plänen erzählt zu haben. Karin, gebrochenes Herz, verliert den Halt, und wohin sie sich wendet, spürt sie nur Kälte, Desinteresse, Funktionieren. Aber da ist der Stasimann Wickwalz, der sie verhört, ein Raucher, Motorradfahrer wie Paul, ein Musikhörer und Zuhörer - also lässt sich Karin auf die Zusammenarbeit mit ihm ein, vielleicht, weil ihr nichts anderes bleibt, vielleicht, weil sie so herausfindet, warum Paul ihr das angetan hat.
"Gittersee" ist ein stiller Thriller, Charlotte Gneuß erzählt in kurzen Kapiteln das Drama einer Zwangslage, und auch bei ihr spielen Gewalt und besonders sexuelle Übergriffigkeit - ständig belästigen Karin irgendwelche älteren Männer - eine zentrale Rolle. Statt aber über den Konflikt zu reden, den sie in ihrem Romandebüt inszeniert, ging es plötzlich darum, ob eine nach dem Mauerfall im Westen geborene Autorin über die DDR schreiben darf, wie sie das tut. Ausgelöst hatte das der Schriftsteller Ingo Schulze, dessen Romane genau wie "Gittersee" im Fischer-Verlag erscheinen und der seinem Verleger eine Liste vermeintlicher Mängel und Fehler zukommen ließ, die dann an die Buchpreisjury weitergereicht wurde, unter anderem ging es Schulze darum, ob man in der DDR 1976 "lecker" gesagt habe oder in der Elbe geschwommen sei.
Als der Vorgang publik wurde, legte Schulze in der "Süddeutschen" nach: "Da schreibt jemand, die zwar die Zeit nicht selbst erlebt hat, aber durch ihre Familie trotzdem davon geprägt ist. Das kann Blickweisen eröffnen, über die jemand, der es miterlebt hat, nicht verfügt. Aber man riskiert dafür eben, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen." Damit war dann markiert, wer sich im Besitz der Diskurshoheit fühlt. Es ging hier am wenigsten um die Frage ,authentischen Erzählens'.
Den Begriff "lecker", stellte sich heraus, kannte man auch in der DDR. Die Eltern der Autorin waren in der Elbe geschwommen, wie Gneuß in Interviews erklärte. Überhaupt hat sie in dieser Machtdebatte um ihren Roman die klügsten Dinge gesagt: "Die Geschichte von 'Gittersee' hätte 1976 im Osten ja niemand schreiben können, im Westen schon gar nicht", zum Beispiel. Und dass sie gerade über den Stil eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen wollte, weil das Thema von Verstrickung und Verantwortung in der DDR auch 2023 noch virulent sei, wie sich 2023 gezeigt habe. Charlotte Gneuß hat in ihrem großen Roman diese Erzählposition genau markiert. Einmal trifft sich Karin wieder konspirativ mit Wickwalz. "Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon, wie wir so zurückgelehnt im Auto saßen." Es ist vollkommen klar, hier wird aus der Distanz erzählt, und es mischt sich die Gegenwart sprachlich in die Beschreibung eines erinnerten Augenblicks. Keine neue Erzähltechnik.
Aber der Streit darum hat gezeigt, welche Bewegung ins deutsche Erinnern zwischen den Generationen und Herkünften gekommen ist. Und das ist ein guter Anfang. In seinem "Merkur"-Aufsatz öffnet Eckhard Schumacher die Bibliothek neuer deutscher Gewaltliteratur auch für die Romane migrantischer Autorinnen und Autoren wie Shida Bazyar, die von rechter Alltagsgewalt erzählen. Ohne damit die Hintergründe und Unterschiede verwischen zu wollen, verbindet diese Gewalterfahrungstexte die gleiche Zeit: die Neunzigerjahre des rechtsradikalen Terrors und des sogenannten Asylkompromisses. Wir werden uns also noch sehr viel erzählen müssen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie die Bücher von Anne Rabe, Charlotte Gneuß und Dirk Oschmann die Debatte um Ost und West 2023 neu belebten.
Von Tobias Rüther
Es war ein produktives Jahr für die Debatte um die Frage, wie es denen im Osten und denen im Westen untereinander und miteinander so geht. Es war produktiv, weil 2023 darüber debattiert worden ist wie seit Langem nicht mehr. Die Perspektive auf die Geschichte der Deutschen in Ost und West vor und nach dem Mauerfall beginnt sich langsam zu verändern. Vorstellungen, Formeln, die seit Ewigkeiten im Umlauf sind, werden revidiert. Dazu gehört ein Begriff wie die "friedliche Revolution" von 1989, die gar nicht so friedlich war. Oder die Beschwörung der sogenannten "inneren Einheit" - was nicht nur ein unerreichbares Ziel vorgibt, sondern auch die Idee, dass es erstrebenswert für eine pluralistische Gesellschaft sei, wenn sie sich einig ist in der hochindividuellen Frage der Identität. Darin also, wie es uns vielen unterschiedlichen Deutschen unterschiedlicher Herkunft geht, warum es uns so geht und dass es uns am besten entweder so oder so gehen sollte. Das Gelingen einer pluralistischen Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten aber doch daran, dass sie Differenzen aushält oder aushandelt.
Und es tauchten deutsche und deutsch-deutsche Differenzen auf in diesem Jahr 2023. Sie zeigten sich in neuen Büchern, aber genauso auch darin, wie über diese Bücher diskutiert wurde. Über Anne Rabes Roman "Die Möglichkeit von Glück" und Charlotte Gneuß' Roman "Gittersee", über Dirk Oschmanns Polemik "Der Osten", um die drei prominentesten Beispiele zu nennen. 34 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen. Eine Generation also. Die Frage nach der Identität in West und Ost lässt sich endgültig nicht mehr nur nach Himmelsrichtungen bestimmen. Auch wenn der Leipziger Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann in seiner Wutschrift vom "Osten" als "westdeutscher Erfindung" das noch einmal in voller Absicht tat. Der Ossi als zurückgesetztes, nie für voll genommenes, geduldetes Mitglied im Weststaat: Oschmann hat mit diesem Stoff sehr viele Bücher verkauft und ist durch die Zeitungen und Talkshows im Westen der Republik getourt - wo er dann verkündete, dass der Westen sich immer noch nicht für den Osten interessiere, wieder und wieder.
Dass sich der Autor der Kritik an seinem Buch nach wie vor stellt (statt sich in die Pose des Verfolgten zurückzuziehen), auch das spricht dafür, dass es doch Räume gibt, in denen man sich seriös austauscht, und sie auch genutzt werden. Von Desinteresse kann keine Rede sein. Von Ressentiments aber natürlich schon. Dass sich im Westen die Vorstellung hält, die AfD sei ein Problem des Ostens, das dürfte sich erledigt haben, seit die Rechtsextremen bei den Wahlen in Hessen zweitstärkste und in Bayern drittstärkste Kraft wurden, mit deutlichen Zugewinnen.
Der Raum aber, in dem sich eine Gesellschaft immer schon besonders intensiv über Widersprüche und Ungereimtheiten, Verdrängtes und Ressentiments austauschen kann, bleibt: die Literatur. Zwei große Romane sind in diesem Jahr erschienen und auf Interesse im Osten wie im Westen gestoßen. Beiden gelingt es, nicht nur von Erinnerung zu handeln: Sie bringen dabei auch zur Sprache, wie überhaupt erinnert wird. Wie schwierig das ist. Wie es aber auch funktionieren kann, dass Erinnern ein gegenwärtiger Prozess ist, der Gestern und Heute verbindet. Beide Romane waren in der engeren und engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreises 2023. Gewonnen hat ihn keiner von beiden. Dass sie aber auf allen Bestenlisten dieses Jahres auftauchen, spricht für sich.
Anne Rabes Familienroman "Die Möglichkeit von Glück" erzählt von Stine, die Mitte der Achtzigerjahre an der Ostsee geboren wird - und sich, als Erwachsene und junge Mutter, dem Verschwiegenen in der eigenen Familie, aber auch den Konflikten der Familien um sie herum stellt. Ins Archiv geht, um die Geschichte ihres Großvaters zu erforschen, der von der Ostfront zurückkehrte und an die neue DDR glaubte - und an das Versprechen, dass es nie wieder Faschismus geben würde, solange sie steht. Seine Tochter, Stines "Mutti", erzieht ihre beiden Kinder in einer brutalen Erbarmungslosigkeit, dass man die Lektüre oft kaum aushält. Einmal quält die Mutti die kleine Stine und den noch kleineren Tim in einer viel zu heißen Badewanne. Der Vater hört seine Kinder auch schreien.
Rabes Roman präpariert - in der skrupulösen Recherche seiner Ich-Erzählerin Stine, die zum Bruch mit der Familie führt und in der Emanzipation endet - die Gewaltgeschichte der DDR heraus. "Die Möglichkeit von Glück" zeigt bedrückend klar, wie untrennbar Privates und Politisches zusammenhängen. Die Gewaltgeschichte der DDR beginnt in den Familien, die von den Traumata und Verbrechen des Nationalsozialismus geprägt wurden, ohne sich diesem Erbe je zu stellen, weil der staatlich verordnete Antifaschismus ja alle Fragen dazu eh schon beantwortet hatte. Sie geht weiter im Bildungssystem der DDR, mit ihren "Jugendwerkhöfen", fürchterlichen Umerziehungsanstalten. Und nach dem Mauerfall geht die Geschichte auf und wieder weiter in den sogenannten "Baseballschlägerjahren" rechtsradikaler Morde und Terrorakte und der Alltagsbrutalität. Wie haben die Eltern mit den Kindern geredet, als die von der Jagd auf "Ausländer" an den Abendbrottisch heimkamen? Wer hat wen was gefragt? Und wusste, wer dann auf Partys in den aufgelassenen Jugendwerkhöfen feierte, was den Gleichaltrigen ein paar Jahre zuvor dort angetan worden war?
"Die Möglichkeit von Glück" gehört in eine Reihe neuer Bücher, von Daniel Schulz, von Hendrik Bolz, die der Greifswalder Germanist Eckhard Schumacher in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Merkur" analysiert hat. Schumacher bringt es auf die Formel "Nachwendenarration als Gewaltgeschichte": Eine Generation meldet sich hier zu Wort und bringt Erfahrungen zur Sprache, die lange in der deutsch-deutschen Gegenwartsliteratur fehlten. Hier schreiben die Kinder der Umbruchzeit, die damals sich selbst überlassen waren mit ihren Fragen, weil ihre Eltern zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Ein großes Loch aus Schweigen tut sich da auf. Auch Schweigen über den Unrechtsstaat DDR. Wie ihre Erzählerin Stine ist Anne Rabe Mitte der Achtziger in einer ostdeutschen Hafenstadt geboren worden. "Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir über unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein", lässt sie Stine sagen.
Es tauchte in diesem Jahr auch wieder die Forderung nach einem "1968 für die DDR" auf. Also nach einem Gespräch zwischen ostdeutschen Großeltern und Eltern und Kindern und Enkeln über das, was die DDR war und wer was in dieser DDR war. Es geht um Verantwortung. Fragt man die Bielefelder Zeithistorikerin Christina Morina danach, die im eine vielbeachtete deutsch-deutsche Demokratiegeschichte der letzten vierzig Jahre vorgelegt hat, ob sich hier also ein Generationenkonflikt zeigt: dann reagiert sie vorsichtig, begrüßt aber die produktive Unruhe und den differenziert ausgetragenen Streit. Die Indizien eines Generationenkonfliktes zwischen denen, die über die DDR schreiben, sind jedoch offensichtlich, das zeigte sich erst wieder, als der Schriftsteller Christoph Hein, Jahrgang 1944, letzte Woche im Deutschlandfunk erklärte, "die ganzen Führungsschichten in Ostdeutschland" seien "immer noch zu 90 Prozent mit Westdeutschen besetzt". Nach der Wiedervereinigung habe im Osten "eine Auswechslung der Eliten" stattgefunden, die Hein "an die Zeit von 1935 erinnert, als die Universitäten gereinigt wurden von Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten". Anne Rabe twitterte daraufhin, Heins Wortmeldung sei "das Ekelhafteste", was die deutsch-deutsche Debatte der letzten dreißig Jahren zu bieten gehabt habe.
Das stärkste Indiz des Generationenkonflikts war in diesem Jahr aber die Diskussion um Charlotte Gneuß und ihren Roman "Gittersee". Gneuß, 1992 im Westen als Kind von Eltern geboren, die aus der DDR ausgereist waren, erzählt darin die Geschichte der sechzehnjährigen Karin: Es ist 1976, ein Vorort von Dresden, und Karin sehr verliebt in Paul. Der in den Westen flieht, ohne ihr von seinen Plänen erzählt zu haben. Karin, gebrochenes Herz, verliert den Halt, und wohin sie sich wendet, spürt sie nur Kälte, Desinteresse, Funktionieren. Aber da ist der Stasimann Wickwalz, der sie verhört, ein Raucher, Motorradfahrer wie Paul, ein Musikhörer und Zuhörer - also lässt sich Karin auf die Zusammenarbeit mit ihm ein, vielleicht, weil ihr nichts anderes bleibt, vielleicht, weil sie so herausfindet, warum Paul ihr das angetan hat.
"Gittersee" ist ein stiller Thriller, Charlotte Gneuß erzählt in kurzen Kapiteln das Drama einer Zwangslage, und auch bei ihr spielen Gewalt und besonders sexuelle Übergriffigkeit - ständig belästigen Karin irgendwelche älteren Männer - eine zentrale Rolle. Statt aber über den Konflikt zu reden, den sie in ihrem Romandebüt inszeniert, ging es plötzlich darum, ob eine nach dem Mauerfall im Westen geborene Autorin über die DDR schreiben darf, wie sie das tut. Ausgelöst hatte das der Schriftsteller Ingo Schulze, dessen Romane genau wie "Gittersee" im Fischer-Verlag erscheinen und der seinem Verleger eine Liste vermeintlicher Mängel und Fehler zukommen ließ, die dann an die Buchpreisjury weitergereicht wurde, unter anderem ging es Schulze darum, ob man in der DDR 1976 "lecker" gesagt habe oder in der Elbe geschwommen sei.
Als der Vorgang publik wurde, legte Schulze in der "Süddeutschen" nach: "Da schreibt jemand, die zwar die Zeit nicht selbst erlebt hat, aber durch ihre Familie trotzdem davon geprägt ist. Das kann Blickweisen eröffnen, über die jemand, der es miterlebt hat, nicht verfügt. Aber man riskiert dafür eben, sich in einer Welt zu bewegen, die andere besser kennen." Damit war dann markiert, wer sich im Besitz der Diskurshoheit fühlt. Es ging hier am wenigsten um die Frage ,authentischen Erzählens'.
Den Begriff "lecker", stellte sich heraus, kannte man auch in der DDR. Die Eltern der Autorin waren in der Elbe geschwommen, wie Gneuß in Interviews erklärte. Überhaupt hat sie in dieser Machtdebatte um ihren Roman die klügsten Dinge gesagt: "Die Geschichte von 'Gittersee' hätte 1976 im Osten ja niemand schreiben können, im Westen schon gar nicht", zum Beispiel. Und dass sie gerade über den Stil eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen wollte, weil das Thema von Verstrickung und Verantwortung in der DDR auch 2023 noch virulent sei, wie sich 2023 gezeigt habe. Charlotte Gneuß hat in ihrem großen Roman diese Erzählposition genau markiert. Einmal trifft sich Karin wieder konspirativ mit Wickwalz. "Ich wünschte, ich hätte ein Foto davon, wie wir so zurückgelehnt im Auto saßen." Es ist vollkommen klar, hier wird aus der Distanz erzählt, und es mischt sich die Gegenwart sprachlich in die Beschreibung eines erinnerten Augenblicks. Keine neue Erzähltechnik.
Aber der Streit darum hat gezeigt, welche Bewegung ins deutsche Erinnern zwischen den Generationen und Herkünften gekommen ist. Und das ist ein guter Anfang. In seinem "Merkur"-Aufsatz öffnet Eckhard Schumacher die Bibliothek neuer deutscher Gewaltliteratur auch für die Romane migrantischer Autorinnen und Autoren wie Shida Bazyar, die von rechter Alltagsgewalt erzählen. Ohne damit die Hintergründe und Unterschiede verwischen zu wollen, verbindet diese Gewalterfahrungstexte die gleiche Zeit: die Neunzigerjahre des rechtsradikalen Terrors und des sogenannten Asylkompromisses. Wir werden uns also noch sehr viel erzählen müssen.
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"Dieses Buch wird für Furore sorgen, weil es mit dem alten Muster, den Osten aus dem Westen zu erklären, radikal bricht." Stefan Locke Frankfurter Allgemeine Zeitung 20230307