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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Von Freud zu Pawlow: Andreas Petersen über
Tiefenpsychologisches unter kommunistischen Auspizien im vorigen Jahrhundert.
Von Marianna Lieder
Nach der Oktoberrevolution war den bolschewistischen Machthabern zunächst jedes Mittel recht, um die radikale Umgestaltung der Gesellschaft so schnell wie möglich voranzutreiben. Man experimentierte mit den unterschiedlichsten wissenschaftlichen und theoretischen Innovationen, selbst dann, wenn diese von einem Bilderbuchbourgeois und erklärten Antiutopisten wie Sigmund Freud stammten. Letzterer wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg von russischen Medizinern und Intellektuellen lebhaft rezipiert. Im Führungskader des jungen Sowjetreichs war es allen voran Leo Trotzki, der die Psychoanalyse als Königsweg zur Erschaffung des Neuen Menschen propagierte.
Dabei hatte der "Freudismus", auf den der Volkskommissar sich berief, nicht übermäßig viel mit Freuds Lehre zu tun. Trotzki war eher vom abtrünnigen Freud-Schüler Alfred Adler beeinflusst und mixte dessen Theorie freimütig mit Nietzsche und Marx. Gleichwohl wurde die Befassung mit der Psyche in den frühen 1920ern zum staatlich erwünschten Programm, insbesondere was pädagogische Ansätze betraf, und Freud zum offiziellen Gewährsmann der großen Transformation erklärt: Im Mai 1921 wurde die Russische Psychoanalytische Vereinigung (RPV) gegründet, die in einer imposanten Moskauer Jugendstilvilla residierte. In demselben Gebäude wurde auch der "Detski Dom" untergebracht, die Protovariante eines freudomarxistischen Kinderladens. Der Staatsverlag gab in dichter Folge Freuds übersetzte Schriften heraus.
Folgt man dem Historiker Andreas Petersen, handelte es sich bei dieser Blüte der Psychoanalyse in der frühen Sowjetunion letztlich um eine reichlich welke Angelegenheit. So war Fachexpertise zweitrangig, um in den 1920ern ein einflussreicher sowjetischer Psychoanalytiker zu werden. Ungleich wichtiger waren linientreues Engagement als Wissenschaftsfunktionär (Otto Juljewitsch Schmidt) und ein guter Draht zu der mit Lenin verheirateten Nadeschda Krupskaja (Pawel Petrowitsch Blonski). Nur wenige der einst namhaften Mitglieder der RPV hatten eine psychoanalytische Ausbildung oder gar Erfahrung als Praktiker. Sabina Spielrein hingegen, der "am besten ausgebildeten Analytikerin Russlands, kam in der Vereinigung keine nennenswerte Rolle zu", heißt es in "Der Osten und das Unbewusste", Petersens kaleidoskopartiger Darstellung zur abenteuerlichen Geschichte der tiefenpsychologischen Ideen in den kommunistisch gelenkten Gesellschaften des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die enge Verbindung von Sowjetmacht und Psychoanalyse, oder was auch immer damals in Moskau dafür gehalten wurde, währte nicht lange. 1924 starb Lenin. Trotzki verlor den Kampf um dessen Nachfolge und wurde ins Exil gezwungen. Stalin, der diesen Kampf gewann, zeigte sich bitter entschlossen, das Vermächtnis seines unterlegenen Rivalen zunichtezumachen. So wurden die sowjetischen Psychoanalytiker und Pädologen kollektiv des Trotzkismus bezichtigt und entsprechend grausam behandelt. Grundsätzlich galt die Psychoanalyse nun als bürgerliche Ideologie, als Instrument des Imperialismus und schließlich des Faschismus. Auch kombinierte Stalin die radikale Ächtung und Verfolgung der freudschen Gedanken mit antisemitischen Hetzorgien.
Petersens Rekonstruktion dieser keineswegs unbekannten Geschehnisse lebt ganz von der Detailversessenheit, mit der er einschlägige Literatur, private Korrespondenzen und Archive durchforstet hat, um den Ertrag zu einem prägnanten Teilpanorama der sowjetischen Mentalitäts- und Ideologiegeschichte zu verdichten. Dazu gehört die anschauliche Beschreibung von Einzelschicksalen. Wer als "Freudist" ins Visier geriet, wurde nicht selten Opfer und Täter zugleich, Verräter und Verratener. Besonders eindrücklich wird geschildert, wie die Theorie des Iwan Pawlow zum unantastbaren Dogma der offiziellen sowjetischen Psychowissenschaft avancierte. Zwar pflegte der zeitlebens tiefreligiöse Popensohn Pawlow ein überaus ambivalentes Verhältnis zur Partei, doch seine Lehre von Reflexen und Konditionierung schien hervorragend zum materialistischen Menschenbild und dem Umerziehungswahn des Kremls zu passen.
Die Entwicklung in der Sowjetunion gab das Schema vor, nach dem die Beschäftigung mit dem Thema Psyche sich in anderen Ländern des Ostblocks entwickelte. Wenn Petersen in der zweiten Hälfte des Buchs durch die Satellitenstaaten vom Baltikum bis zum Balkan eilt, dann geht das zwar nicht ohne Redundanzen ab, dennoch werden die jeweiligen nationalen und kulturellen Eigenheiten deutlich, die bei der Rezeptions- und Diffamierungsgeschichte der Psychoanalyse eine Rolle spielten. So verhinderte der Katholizismus in Polen bereits vor Einbruch des Stalinismus die Verbreitung tiefenpsychologischer Ansätze. Aus der Reihe der internationalen Anti-Freud-Solidarität scherte in auffälliger Weise Jugoslawien unter Tito aus.
Tito wollte sich Moskau nicht unterwerfen und setzte auf einen Sozialismus ganz eigener Prägung. Davon profitierte auch die Psychoanalyse, bisweilen auf sehr fragwürdige Weise. So wurden in jugoslawischen Arbeitslagern analytische Konzepte genutzt, um politisch Unliebsame, die diesmal "Stalinisten" hießen, psychisch zu foltern. Wie sehr die Entfaltung tiefenpsychologischer Ideen von dem gesellschaftspolitischen Boden abhing, auf den sie fielen, zeigt auch Petersens Exkurs in die Nachkriegs-BRD. Noch einmal versuchten die Stichwortgeber der Studentenbewegung Herbert Marcuse und Erich Fromm Marx und Freud zu versöhnen. Als Ende der Siebzigerjahre die revolutionären Träume platzen, stand wieder das Individuum im Zentrum des westlichen Psychobooms.
Als akribischer Chronist neigt Petersen bisweilen dazu, sich im Kleinteiligen zu verzetteln. Einprägsame Thesen und ausdrückliche Gegenwartsbezüge sind seine Sache nicht. So wird auf den letzten Seiten unter Berufung auf mehrere Kenner der (post-)sowjetischen Psychodiskurslandschaft umständlich hervorgehoben, dass "russische Intellektuelle mehrheitlich auf der Stufe vor Freud stehengeblieben" seien, auch noch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Schlüsse werden aus dieser Feststellung fast schon demonstrativ nicht gezogen. Allerdings muss man es Petersen anrechnen, dass er der naheliegenden Versuchung widersteht, aus der Freudverachtung zu Sowjetzeiten eine grundsätzliche Bestimmung der "russischen Seele" oder gar Erklärungen für Putins kriegslüsternen Größenwahn abzuleiten. Von solch kollektivküchenpsychologischem Überschwang ist diese interessante Erzählung darüber, "wie Freud im Kollektiv verschwand", völlig frei.
Andreas Petersen: "Der Osten und das Unbewusste". Wie Freud im Kollektiv verschwand.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024. 352 S., Abb., geb., 25,- Euro.
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