Pawlow statt Freud oder wie der Osten die Psychoanalyse verbannte Andreas Petersen folgt den Spuren der Tiefenpsychologie im Osten, die in der Sowjetunion der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts gänzlich verbannt wurde. Dies blieb für das gesamte Osteuropa bis 1989 bestimmend – mit Folgen bis in die Gegenwart. Ausgehend von Freuds Entdeckung des Unbewussten vollzog sich in den USA und dann in Westeuropa im 20. Jahrhundert ein »psychological turn«, der in einer Neupositionierung von Individuum und Gesellschaft mündete. Selbstverwirklichung und Glücksversprechen durch Individualisierung wurden zum prägenden Gesellschaftsmodell für die Nachkriegsgesellschaften. Und der Osten? Nach einem anfänglich starken Interesse an Tiefenpsychologie und Analyse wurden unter Stalin alle individualpsychologischen Ansätze verbannt und durch die rein biologistische Theorie von Ivan Pawlow ersetzt. Andreas Petersen zeichnet diese weniger bekannte, doch gesellschaftlich eminent folgenreiche Entwicklung plastisch nach, auch anhand charakteristischer Biographien von Analytikern, Klinikärzten und Psychologen, die harten Kämpfen und Verfolgungen ausgesetzt waren. Die zunehmende Entfremdung zwischen Ost und West hat ihre Wurzeln auch in der unterschiedlichen psychohistorischen Prägung.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Mit "Der Osten und das Unbewusste" ist dem Historiker Andreas Petersen ein aufschlussreiches und anschauliches Buch über die ausbleibende Rezeption Sigmund Freuds in den Ostblockstaaten gelungen, meint Rezensent Ralph Gerstenberg. Denn Freuds Tiefenpsychologie galt in den Sowjetstaaten, so fasst Gerstenberg zusammen, als bourgeoise und mit kapitalistisch-imperialistischer Ideologie behaftete Theorie, die daher systematisch durch die Reflexforschung Ivan Pawlows ersetzt wurde. Bereits zur Zeit der russischen Revolution wurde einer möglichen Kombination beider Ansätze, so der Rezensent, nicht nachgegangen. Nach dem Zweiten Weltkrieg und auch in der DDR sei der Ausschluss von Freuds Lehre aus Wissenschaft und Klinik durch dogmatisch durchgesetzte Maßnahmen unterbunden worden. Gerstenberg gefällt vor allem, wie differenziert Petersen diese Entwicklungen anhand der Biografien einzelner Persönlichkeiten schildert, und befindet diese informative Buch für äußerst lesenswert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2024Der Neue Mensch kam auf den Hund
Von Freud zu Pawlow: Andreas Petersen über
Tiefenpsychologisches unter kommunistischen Auspizien im vorigen Jahrhundert.
Von Marianna Lieder
Nach der Oktoberrevolution war den bolschewistischen Machthabern zunächst jedes Mittel recht, um die radikale Umgestaltung der Gesellschaft so schnell wie möglich voranzutreiben. Man experimentierte mit den unterschiedlichsten wissenschaftlichen und theoretischen Innovationen, selbst dann, wenn diese von einem Bilderbuchbourgeois und erklärten Antiutopisten wie Sigmund Freud stammten. Letzterer wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg von russischen Medizinern und Intellektuellen lebhaft rezipiert. Im Führungskader des jungen Sowjetreichs war es allen voran Leo Trotzki, der die Psychoanalyse als Königsweg zur Erschaffung des Neuen Menschen propagierte.
Dabei hatte der "Freudismus", auf den der Volkskommissar sich berief, nicht übermäßig viel mit Freuds Lehre zu tun. Trotzki war eher vom abtrünnigen Freud-Schüler Alfred Adler beeinflusst und mixte dessen Theorie freimütig mit Nietzsche und Marx. Gleichwohl wurde die Befassung mit der Psyche in den frühen 1920ern zum staatlich erwünschten Programm, insbesondere was pädagogische Ansätze betraf, und Freud zum offiziellen Gewährsmann der großen Transformation erklärt: Im Mai 1921 wurde die Russische Psychoanalytische Vereinigung (RPV) gegründet, die in einer imposanten Moskauer Jugendstilvilla residierte. In demselben Gebäude wurde auch der "Detski Dom" untergebracht, die Protovariante eines freudomarxistischen Kinderladens. Der Staatsverlag gab in dichter Folge Freuds übersetzte Schriften heraus.
Folgt man dem Historiker Andreas Petersen, handelte es sich bei dieser Blüte der Psychoanalyse in der frühen Sowjetunion letztlich um eine reichlich welke Angelegenheit. So war Fachexpertise zweitrangig, um in den 1920ern ein einflussreicher sowjetischer Psychoanalytiker zu werden. Ungleich wichtiger waren linientreues Engagement als Wissenschaftsfunktionär (Otto Juljewitsch Schmidt) und ein guter Draht zu der mit Lenin verheirateten Nadeschda Krupskaja (Pawel Petrowitsch Blonski). Nur wenige der einst namhaften Mitglieder der RPV hatten eine psychoanalytische Ausbildung oder gar Erfahrung als Praktiker. Sabina Spielrein hingegen, der "am besten ausgebildeten Analytikerin Russlands, kam in der Vereinigung keine nennenswerte Rolle zu", heißt es in "Der Osten und das Unbewusste", Petersens kaleidoskopartiger Darstellung zur abenteuerlichen Geschichte der tiefenpsychologischen Ideen in den kommunistisch gelenkten Gesellschaften des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die enge Verbindung von Sowjetmacht und Psychoanalyse, oder was auch immer damals in Moskau dafür gehalten wurde, währte nicht lange. 1924 starb Lenin. Trotzki verlor den Kampf um dessen Nachfolge und wurde ins Exil gezwungen. Stalin, der diesen Kampf gewann, zeigte sich bitter entschlossen, das Vermächtnis seines unterlegenen Rivalen zunichtezumachen. So wurden die sowjetischen Psychoanalytiker und Pädologen kollektiv des Trotzkismus bezichtigt und entsprechend grausam behandelt. Grundsätzlich galt die Psychoanalyse nun als bürgerliche Ideologie, als Instrument des Imperialismus und schließlich des Faschismus. Auch kombinierte Stalin die radikale Ächtung und Verfolgung der freudschen Gedanken mit antisemitischen Hetzorgien.
Petersens Rekonstruktion dieser keineswegs unbekannten Geschehnisse lebt ganz von der Detailversessenheit, mit der er einschlägige Literatur, private Korrespondenzen und Archive durchforstet hat, um den Ertrag zu einem prägnanten Teilpanorama der sowjetischen Mentalitäts- und Ideologiegeschichte zu verdichten. Dazu gehört die anschauliche Beschreibung von Einzelschicksalen. Wer als "Freudist" ins Visier geriet, wurde nicht selten Opfer und Täter zugleich, Verräter und Verratener. Besonders eindrücklich wird geschildert, wie die Theorie des Iwan Pawlow zum unantastbaren Dogma der offiziellen sowjetischen Psychowissenschaft avancierte. Zwar pflegte der zeitlebens tiefreligiöse Popensohn Pawlow ein überaus ambivalentes Verhältnis zur Partei, doch seine Lehre von Reflexen und Konditionierung schien hervorragend zum materialistischen Menschenbild und dem Umerziehungswahn des Kremls zu passen.
Die Entwicklung in der Sowjetunion gab das Schema vor, nach dem die Beschäftigung mit dem Thema Psyche sich in anderen Ländern des Ostblocks entwickelte. Wenn Petersen in der zweiten Hälfte des Buchs durch die Satellitenstaaten vom Baltikum bis zum Balkan eilt, dann geht das zwar nicht ohne Redundanzen ab, dennoch werden die jeweiligen nationalen und kulturellen Eigenheiten deutlich, die bei der Rezeptions- und Diffamierungsgeschichte der Psychoanalyse eine Rolle spielten. So verhinderte der Katholizismus in Polen bereits vor Einbruch des Stalinismus die Verbreitung tiefenpsychologischer Ansätze. Aus der Reihe der internationalen Anti-Freud-Solidarität scherte in auffälliger Weise Jugoslawien unter Tito aus.
Tito wollte sich Moskau nicht unterwerfen und setzte auf einen Sozialismus ganz eigener Prägung. Davon profitierte auch die Psychoanalyse, bisweilen auf sehr fragwürdige Weise. So wurden in jugoslawischen Arbeitslagern analytische Konzepte genutzt, um politisch Unliebsame, die diesmal "Stalinisten" hießen, psychisch zu foltern. Wie sehr die Entfaltung tiefenpsychologischer Ideen von dem gesellschaftspolitischen Boden abhing, auf den sie fielen, zeigt auch Petersens Exkurs in die Nachkriegs-BRD. Noch einmal versuchten die Stichwortgeber der Studentenbewegung Herbert Marcuse und Erich Fromm Marx und Freud zu versöhnen. Als Ende der Siebzigerjahre die revolutionären Träume platzen, stand wieder das Individuum im Zentrum des westlichen Psychobooms.
Als akribischer Chronist neigt Petersen bisweilen dazu, sich im Kleinteiligen zu verzetteln. Einprägsame Thesen und ausdrückliche Gegenwartsbezüge sind seine Sache nicht. So wird auf den letzten Seiten unter Berufung auf mehrere Kenner der (post-)sowjetischen Psychodiskurslandschaft umständlich hervorgehoben, dass "russische Intellektuelle mehrheitlich auf der Stufe vor Freud stehengeblieben" seien, auch noch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Schlüsse werden aus dieser Feststellung fast schon demonstrativ nicht gezogen. Allerdings muss man es Petersen anrechnen, dass er der naheliegenden Versuchung widersteht, aus der Freudverachtung zu Sowjetzeiten eine grundsätzliche Bestimmung der "russischen Seele" oder gar Erklärungen für Putins kriegslüsternen Größenwahn abzuleiten. Von solch kollektivküchenpsychologischem Überschwang ist diese interessante Erzählung darüber, "wie Freud im Kollektiv verschwand", völlig frei.
Andreas Petersen: "Der Osten und das Unbewusste". Wie Freud im Kollektiv verschwand.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024. 352 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von Freud zu Pawlow: Andreas Petersen über
Tiefenpsychologisches unter kommunistischen Auspizien im vorigen Jahrhundert.
Von Marianna Lieder
Nach der Oktoberrevolution war den bolschewistischen Machthabern zunächst jedes Mittel recht, um die radikale Umgestaltung der Gesellschaft so schnell wie möglich voranzutreiben. Man experimentierte mit den unterschiedlichsten wissenschaftlichen und theoretischen Innovationen, selbst dann, wenn diese von einem Bilderbuchbourgeois und erklärten Antiutopisten wie Sigmund Freud stammten. Letzterer wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg von russischen Medizinern und Intellektuellen lebhaft rezipiert. Im Führungskader des jungen Sowjetreichs war es allen voran Leo Trotzki, der die Psychoanalyse als Königsweg zur Erschaffung des Neuen Menschen propagierte.
Dabei hatte der "Freudismus", auf den der Volkskommissar sich berief, nicht übermäßig viel mit Freuds Lehre zu tun. Trotzki war eher vom abtrünnigen Freud-Schüler Alfred Adler beeinflusst und mixte dessen Theorie freimütig mit Nietzsche und Marx. Gleichwohl wurde die Befassung mit der Psyche in den frühen 1920ern zum staatlich erwünschten Programm, insbesondere was pädagogische Ansätze betraf, und Freud zum offiziellen Gewährsmann der großen Transformation erklärt: Im Mai 1921 wurde die Russische Psychoanalytische Vereinigung (RPV) gegründet, die in einer imposanten Moskauer Jugendstilvilla residierte. In demselben Gebäude wurde auch der "Detski Dom" untergebracht, die Protovariante eines freudomarxistischen Kinderladens. Der Staatsverlag gab in dichter Folge Freuds übersetzte Schriften heraus.
Folgt man dem Historiker Andreas Petersen, handelte es sich bei dieser Blüte der Psychoanalyse in der frühen Sowjetunion letztlich um eine reichlich welke Angelegenheit. So war Fachexpertise zweitrangig, um in den 1920ern ein einflussreicher sowjetischer Psychoanalytiker zu werden. Ungleich wichtiger waren linientreues Engagement als Wissenschaftsfunktionär (Otto Juljewitsch Schmidt) und ein guter Draht zu der mit Lenin verheirateten Nadeschda Krupskaja (Pawel Petrowitsch Blonski). Nur wenige der einst namhaften Mitglieder der RPV hatten eine psychoanalytische Ausbildung oder gar Erfahrung als Praktiker. Sabina Spielrein hingegen, der "am besten ausgebildeten Analytikerin Russlands, kam in der Vereinigung keine nennenswerte Rolle zu", heißt es in "Der Osten und das Unbewusste", Petersens kaleidoskopartiger Darstellung zur abenteuerlichen Geschichte der tiefenpsychologischen Ideen in den kommunistisch gelenkten Gesellschaften des zwanzigsten Jahrhunderts.
Die enge Verbindung von Sowjetmacht und Psychoanalyse, oder was auch immer damals in Moskau dafür gehalten wurde, währte nicht lange. 1924 starb Lenin. Trotzki verlor den Kampf um dessen Nachfolge und wurde ins Exil gezwungen. Stalin, der diesen Kampf gewann, zeigte sich bitter entschlossen, das Vermächtnis seines unterlegenen Rivalen zunichtezumachen. So wurden die sowjetischen Psychoanalytiker und Pädologen kollektiv des Trotzkismus bezichtigt und entsprechend grausam behandelt. Grundsätzlich galt die Psychoanalyse nun als bürgerliche Ideologie, als Instrument des Imperialismus und schließlich des Faschismus. Auch kombinierte Stalin die radikale Ächtung und Verfolgung der freudschen Gedanken mit antisemitischen Hetzorgien.
Petersens Rekonstruktion dieser keineswegs unbekannten Geschehnisse lebt ganz von der Detailversessenheit, mit der er einschlägige Literatur, private Korrespondenzen und Archive durchforstet hat, um den Ertrag zu einem prägnanten Teilpanorama der sowjetischen Mentalitäts- und Ideologiegeschichte zu verdichten. Dazu gehört die anschauliche Beschreibung von Einzelschicksalen. Wer als "Freudist" ins Visier geriet, wurde nicht selten Opfer und Täter zugleich, Verräter und Verratener. Besonders eindrücklich wird geschildert, wie die Theorie des Iwan Pawlow zum unantastbaren Dogma der offiziellen sowjetischen Psychowissenschaft avancierte. Zwar pflegte der zeitlebens tiefreligiöse Popensohn Pawlow ein überaus ambivalentes Verhältnis zur Partei, doch seine Lehre von Reflexen und Konditionierung schien hervorragend zum materialistischen Menschenbild und dem Umerziehungswahn des Kremls zu passen.
Die Entwicklung in der Sowjetunion gab das Schema vor, nach dem die Beschäftigung mit dem Thema Psyche sich in anderen Ländern des Ostblocks entwickelte. Wenn Petersen in der zweiten Hälfte des Buchs durch die Satellitenstaaten vom Baltikum bis zum Balkan eilt, dann geht das zwar nicht ohne Redundanzen ab, dennoch werden die jeweiligen nationalen und kulturellen Eigenheiten deutlich, die bei der Rezeptions- und Diffamierungsgeschichte der Psychoanalyse eine Rolle spielten. So verhinderte der Katholizismus in Polen bereits vor Einbruch des Stalinismus die Verbreitung tiefenpsychologischer Ansätze. Aus der Reihe der internationalen Anti-Freud-Solidarität scherte in auffälliger Weise Jugoslawien unter Tito aus.
Tito wollte sich Moskau nicht unterwerfen und setzte auf einen Sozialismus ganz eigener Prägung. Davon profitierte auch die Psychoanalyse, bisweilen auf sehr fragwürdige Weise. So wurden in jugoslawischen Arbeitslagern analytische Konzepte genutzt, um politisch Unliebsame, die diesmal "Stalinisten" hießen, psychisch zu foltern. Wie sehr die Entfaltung tiefenpsychologischer Ideen von dem gesellschaftspolitischen Boden abhing, auf den sie fielen, zeigt auch Petersens Exkurs in die Nachkriegs-BRD. Noch einmal versuchten die Stichwortgeber der Studentenbewegung Herbert Marcuse und Erich Fromm Marx und Freud zu versöhnen. Als Ende der Siebzigerjahre die revolutionären Träume platzen, stand wieder das Individuum im Zentrum des westlichen Psychobooms.
Als akribischer Chronist neigt Petersen bisweilen dazu, sich im Kleinteiligen zu verzetteln. Einprägsame Thesen und ausdrückliche Gegenwartsbezüge sind seine Sache nicht. So wird auf den letzten Seiten unter Berufung auf mehrere Kenner der (post-)sowjetischen Psychodiskurslandschaft umständlich hervorgehoben, dass "russische Intellektuelle mehrheitlich auf der Stufe vor Freud stehengeblieben" seien, auch noch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Schlüsse werden aus dieser Feststellung fast schon demonstrativ nicht gezogen. Allerdings muss man es Petersen anrechnen, dass er der naheliegenden Versuchung widersteht, aus der Freudverachtung zu Sowjetzeiten eine grundsätzliche Bestimmung der "russischen Seele" oder gar Erklärungen für Putins kriegslüsternen Größenwahn abzuleiten. Von solch kollektivküchenpsychologischem Überschwang ist diese interessante Erzählung darüber, "wie Freud im Kollektiv verschwand", völlig frei.
Andreas Petersen: "Der Osten und das Unbewusste". Wie Freud im Kollektiv verschwand.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2024. 352 S., Abb., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Petersens Buch über "Stationen einer Weltidee" ist nicht nur faszinierende Geschichtsschreibung, sondern auch Schlüsseltext für ein besseres Verständnis unserer Gegenwart.« Eckart Goebel, Die Welt am Sonntag, 17. März 2024 Eckart Goebel Welt am Sonntag 20240317
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.06.2024„Und den Menschen zu verbessern, sollten wir nicht in der Lage sein?“
Zwischen Staatsprojekt und antisemitischem Ressentiment: Andreas Petersen erzählt die Geschichte der Psychoanalyse in Osteuropa.
Zu den revolutionären Projekten der Bolschewiki zählte die Erschaffung des „Neuen Menschen“. Die Revolutionäre, die sich an die Macht geputscht hatten, waren von Literatur und Theorie durchdrungen. Sie begriffen sich als Autoren, die eine Neuedition der Gattung in Angriff nahmen. Trotzki, noch nicht entmachtet, schrieb in einem Zeitschriftenaufsatz des Jahres 1924: „Wir können eine Eisenbahn quer durch die Sahara bauen, den Eiffelturm errichten, drahtlos mit New York konferieren. Und den Menschen zu verbessern, sollten wir nicht in der Lage sein? O nein, wir werden es sein! Eine neue, ‚verbesserte Auflage‘ des Menschen herzustellen – darin liegt die künftige Aufgabe des Kommunismus.“
Der Historiker Andreas Petersen zitiert diese Passage in seinem Buch „Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand“, um deutlich zu machen, warum die psychoanalytische Bewegung in den Anfangsjahren der Sowjetunion staatlich gefördert wurde. Revolutionäre wie Trotzki sahen sie als Bundesgenossin beim Umbau der Innenwelt des Menschen. Ohne mit ihren Behandlungstechniken näher vertraut zu sein, war ihnen die Bewusstmachung des Unbewussten als Technologie der Erzeugung des Neuen Menschen willkommen, den Trotzki gelegentlich in nietzscheanischer Diktion als „Übermenschen“ bezeichnete.
Früh war die philologische Metaphorik mit dem Gedanken der Beseitigung von Fehlern, mit der Säuberung der Innenwelt „von allem Unbewussten und Finsteren“ verbunden. Schriften Freuds waren schon vor dem Ersten Weltkrieg ins Russische übersetzt worden, nach der Machtergreifung der Bolschewiki erschienen fast 30 Übersetzungen im Staatsverlag. Das konnte zur Zirkulation psychoanalytischen Wissens in der Sowjetunion beitragen, nicht aber zur dauerhaften Existenz der 1921 gegründeten „Russischen Psychoanalytischen Vereinigung“.
Der 13. Parteitag der Kommunistischen Partei, der im Mai 1924, wenige Monate nach dem Tod Lenins stattfand, war von Angriffen der Anhänger Stalins gegen die „trotzkistische Opposition“ geprägt. Trotzkis Versuche, der Psychoanalyse Freiräume zu erhalten, scheiterten, die staatliche Unterstützung wurde gestrichen, aus dem Politbüro wurde er schon 1926 entfernt, 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen. Die Kampagnen aus dem Parteiapparat gegen den „Freudismus“ richteten sich fortan nicht nur gegen ein idealistisches Spätprodukt bürgerlicher Dekadenz, sondern auch gegen eine Strömung des „Trotzkismus“. In den westlichen Gesellschaften legte die Psychoanalyse derweil eine große Karriere hin. Woody Allens „Annie Hall“, der von einem New Yorker Autor erzählte, der seit 12 Jahren in psychoanalytischer Behandlung war, war 1977 der meistgesehene Film in den USA. Heute beklagen Analytiker und Therapeuten, dass ihre Arbeit von einer Alltagssprache erschwert wird, die jede Verstimmung sogleich zum Symptom erklärt.
Petersen erzählt zum Beispiel die Geschichte von Alfred Adler, Mitglied in Freuds „Mittwochgesellschaft“, der 1911 im Konflikt mit Freud über dessen Sexuallehre aus dem Wiener Psychoanalytischen Verein austrat. 1926 reiste er zum ersten Mal in die USA, ein Jahr später wurde dort die Übersetzung seines Buches „Menschenkenntnis“ unter dem Titel „Understanding Human Nature“ zum Bestseller. Auch der deutsche Psychoanalytiker und Bestsellerautor Alexander Mitscherlich kommt bei Petersen vor, in einem Kapitel über die „durchtherapeutisierte Gesellschaft“ der Bundesrepublik Deutschland.
„Individualisierung und die Beschäftigung mit sich selbst verbanden sich im Westen mit der Möglichkeit verschiedener Lebensentwürfe“, schreibt Petersen im Prolog. „In Osteuropa erschienen Wahlmöglichkeiten als Luxusoption. In einem von oben verwalteten Leben stellten sich die Fragen nach Erfüllung und Lebensglück auf fundamentale Weise anders“. Nach anfänglichem Interesse wurde die Psychoanalyse bald konsequent unterdrückt. Institute wurden geschlossen, Ärzte entlassen, psychoanalytische Gesellschaften aufgelöst. Oft waren diese Kampagnen begleitet mit antisemitischen Untertönen.
Die Geschichte der Psychoanalyse in Osteuropa ist dementsprechend vor allem die Geschichte eines aussichtslosen Kampfes gegen staatliche Gewalt, und Petersen erzählt sie anhand von biografischen Skizzen, die auf wenigen Seiten einen Stoff verknappen, der auch für einen Roman gereicht hätte. Die Geschichte der Budapester Analytikerin Lilly Hajdu, die noch in der k.u.k.-Monarchie zur Welt kommt, Weltkriege, Säuberungen, Häuserkampf überlebt, trotz Verboten ihre Praxis nicht aufgeben will und erst verzweifelt, als sie im Jahr 1958 in den Morgennachrichten auf Radio Wien von der Hinrichtung ihres Sohnes wegen Vaterlandsverrats erfährt, liest sich, als hätten sich sämtliche Verheerungen dieses Jahrhunderts eingefunden, um dieser Frau das Leben zur Hölle zu machen.
Sehr greifbar wird in diesen Geschichten: Die Gleichschaltung einer Gesellschaft fängt im Unbewussten an. In der Atmosphäre „aus ideologischen Fanatismus, Angst und Camouflage“, schreibt Petersen, „fehlte jeder Raum für eine Beschäftigung mit Emotionen“.
LOTHAR MÜLLER
„In Osteuropa erschienen
Wahlmöglichkeiten
als Luxusoption.“
Verlorener Machtkampf: Leo Trotzkis Versuche, der Psychoanalyse Freiräume zu erhalten, scheiterten 1926. Die staatliche Unterstützung wurde gestrichen und Trotzki aus dem Politbüro ausgeschlossen.
Foto: Scherl / Süddeutsche Zeitung Photo
Andreas Petersen: Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand. Klett-Cotta, Stuttgart 2024. 350 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zwischen Staatsprojekt und antisemitischem Ressentiment: Andreas Petersen erzählt die Geschichte der Psychoanalyse in Osteuropa.
Zu den revolutionären Projekten der Bolschewiki zählte die Erschaffung des „Neuen Menschen“. Die Revolutionäre, die sich an die Macht geputscht hatten, waren von Literatur und Theorie durchdrungen. Sie begriffen sich als Autoren, die eine Neuedition der Gattung in Angriff nahmen. Trotzki, noch nicht entmachtet, schrieb in einem Zeitschriftenaufsatz des Jahres 1924: „Wir können eine Eisenbahn quer durch die Sahara bauen, den Eiffelturm errichten, drahtlos mit New York konferieren. Und den Menschen zu verbessern, sollten wir nicht in der Lage sein? O nein, wir werden es sein! Eine neue, ‚verbesserte Auflage‘ des Menschen herzustellen – darin liegt die künftige Aufgabe des Kommunismus.“
Der Historiker Andreas Petersen zitiert diese Passage in seinem Buch „Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand“, um deutlich zu machen, warum die psychoanalytische Bewegung in den Anfangsjahren der Sowjetunion staatlich gefördert wurde. Revolutionäre wie Trotzki sahen sie als Bundesgenossin beim Umbau der Innenwelt des Menschen. Ohne mit ihren Behandlungstechniken näher vertraut zu sein, war ihnen die Bewusstmachung des Unbewussten als Technologie der Erzeugung des Neuen Menschen willkommen, den Trotzki gelegentlich in nietzscheanischer Diktion als „Übermenschen“ bezeichnete.
Früh war die philologische Metaphorik mit dem Gedanken der Beseitigung von Fehlern, mit der Säuberung der Innenwelt „von allem Unbewussten und Finsteren“ verbunden. Schriften Freuds waren schon vor dem Ersten Weltkrieg ins Russische übersetzt worden, nach der Machtergreifung der Bolschewiki erschienen fast 30 Übersetzungen im Staatsverlag. Das konnte zur Zirkulation psychoanalytischen Wissens in der Sowjetunion beitragen, nicht aber zur dauerhaften Existenz der 1921 gegründeten „Russischen Psychoanalytischen Vereinigung“.
Der 13. Parteitag der Kommunistischen Partei, der im Mai 1924, wenige Monate nach dem Tod Lenins stattfand, war von Angriffen der Anhänger Stalins gegen die „trotzkistische Opposition“ geprägt. Trotzkis Versuche, der Psychoanalyse Freiräume zu erhalten, scheiterten, die staatliche Unterstützung wurde gestrichen, aus dem Politbüro wurde er schon 1926 entfernt, 1929 aus der Sowjetunion ausgewiesen. Die Kampagnen aus dem Parteiapparat gegen den „Freudismus“ richteten sich fortan nicht nur gegen ein idealistisches Spätprodukt bürgerlicher Dekadenz, sondern auch gegen eine Strömung des „Trotzkismus“. In den westlichen Gesellschaften legte die Psychoanalyse derweil eine große Karriere hin. Woody Allens „Annie Hall“, der von einem New Yorker Autor erzählte, der seit 12 Jahren in psychoanalytischer Behandlung war, war 1977 der meistgesehene Film in den USA. Heute beklagen Analytiker und Therapeuten, dass ihre Arbeit von einer Alltagssprache erschwert wird, die jede Verstimmung sogleich zum Symptom erklärt.
Petersen erzählt zum Beispiel die Geschichte von Alfred Adler, Mitglied in Freuds „Mittwochgesellschaft“, der 1911 im Konflikt mit Freud über dessen Sexuallehre aus dem Wiener Psychoanalytischen Verein austrat. 1926 reiste er zum ersten Mal in die USA, ein Jahr später wurde dort die Übersetzung seines Buches „Menschenkenntnis“ unter dem Titel „Understanding Human Nature“ zum Bestseller. Auch der deutsche Psychoanalytiker und Bestsellerautor Alexander Mitscherlich kommt bei Petersen vor, in einem Kapitel über die „durchtherapeutisierte Gesellschaft“ der Bundesrepublik Deutschland.
„Individualisierung und die Beschäftigung mit sich selbst verbanden sich im Westen mit der Möglichkeit verschiedener Lebensentwürfe“, schreibt Petersen im Prolog. „In Osteuropa erschienen Wahlmöglichkeiten als Luxusoption. In einem von oben verwalteten Leben stellten sich die Fragen nach Erfüllung und Lebensglück auf fundamentale Weise anders“. Nach anfänglichem Interesse wurde die Psychoanalyse bald konsequent unterdrückt. Institute wurden geschlossen, Ärzte entlassen, psychoanalytische Gesellschaften aufgelöst. Oft waren diese Kampagnen begleitet mit antisemitischen Untertönen.
Die Geschichte der Psychoanalyse in Osteuropa ist dementsprechend vor allem die Geschichte eines aussichtslosen Kampfes gegen staatliche Gewalt, und Petersen erzählt sie anhand von biografischen Skizzen, die auf wenigen Seiten einen Stoff verknappen, der auch für einen Roman gereicht hätte. Die Geschichte der Budapester Analytikerin Lilly Hajdu, die noch in der k.u.k.-Monarchie zur Welt kommt, Weltkriege, Säuberungen, Häuserkampf überlebt, trotz Verboten ihre Praxis nicht aufgeben will und erst verzweifelt, als sie im Jahr 1958 in den Morgennachrichten auf Radio Wien von der Hinrichtung ihres Sohnes wegen Vaterlandsverrats erfährt, liest sich, als hätten sich sämtliche Verheerungen dieses Jahrhunderts eingefunden, um dieser Frau das Leben zur Hölle zu machen.
Sehr greifbar wird in diesen Geschichten: Die Gleichschaltung einer Gesellschaft fängt im Unbewussten an. In der Atmosphäre „aus ideologischen Fanatismus, Angst und Camouflage“, schreibt Petersen, „fehlte jeder Raum für eine Beschäftigung mit Emotionen“.
LOTHAR MÜLLER
„In Osteuropa erschienen
Wahlmöglichkeiten
als Luxusoption.“
Verlorener Machtkampf: Leo Trotzkis Versuche, der Psychoanalyse Freiräume zu erhalten, scheiterten 1926. Die staatliche Unterstützung wurde gestrichen und Trotzki aus dem Politbüro ausgeschlossen.
Foto: Scherl / Süddeutsche Zeitung Photo
Andreas Petersen: Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand. Klett-Cotta, Stuttgart 2024. 350 Seiten, 25 Euro.
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