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Heinrich Bölls Notizen vom Ende des Prager Frühlings
Ob es für die Romane Heinrich Bölls "noch generationenlang Leser" geben wird, fragte Walter Kempowski einmal. "Billard um halb zehn"? Allein die "nahzielig konstruierten" Titel seiner Bücher wirkten auf ihn ermüdend: "Man merkt die Absicht und lässt es bleiben." Kempowskis Statement scheint zunächst kaum beachtenswert, weil es bloß ein verbreitetes Rezeptionsklischee wiederholt. Interessanter ist die Einschränkung, die er hinterherschickt: Demnach blitze Bölls "Talent" vor allem in dessen "kleineren Sachen" auf, in der Sphäre des weniger Absichtsvollen. Und tatsächlich: In der vorliegenden Dokumentation seines Aufenthaltes in Prag an jenen weltbewegenden Tagen im August 1968 - er befand sich auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes in der Stadt, als sich die Situation unerwartet zuspitzte - zeigt sich die Stärke des Großschriftstellers in der kurzen Form.
Herzstück des Bandes ist das für den "Spiegel" mit zeitlichem Abstand geschriebene Stück "Der Panzer zielte auf Kafka". Beruhend auf 49 Seiten handschriftlicher Notizen aus Prag, die in diesem Buch erstmals veröffentlicht sind, entwirft Böll ein facettenreiches Gesamtbild. Es setzt sich zusammen aus etwa dreißig Fragmenten, in der eine wahrnehmende, reflektierende und überblickende Perspektive sich fortwährend abwechseln, bespiegeln, mitunter auch durchkreuzen. Was allein in den ersten drei, vier Textminiaturen zusammenschießt: die fassungslose Verunsicherung, als es am 21. August frühmorgens an die Hoteltür klopft und einer ruft: "Wir sind besetzt!"; die Maschinengewehrschüsse in den Straßen, die im kriegstraumatisierten Böll "instinktive Schutzinstinkte" aufleben lassen; die Unwirklichkeit der Gewalt; dazu das Entsetzen über das brutale sowjetische Handeln ("die Bankrotterklärung . . . des Moskowitismus") und die Begeisterung für die "jungen Leute mit der tschechoslowakischen Flagge", die dem "entleerten Wort Freiheit" endlich wieder einen "Sinn" verleihen. Reflexionen, Erinnerungen, Gefühle und Wahrnehmungen verbinden sich zu einem komplexen Ganzen, das den Leser das Geschehen in seiner tumultuarischen Vieldimensionalität nachempfinden lässt.
Aber so wie dieser atemberaubend dichte, schnelle Text die literarische Wirkung nicht gegen das Bemühen um Einordnung und Bewertung ausspielt (was taktlos wäre), sucht der Band insgesamt klug die Balance zwischen Persönlichem und Kommentierendem: mit einem fast intimen Vorwort des Herausgebers René Böll, der seinen Vater und seine Mutter Annemarie auf der viertägigen Reise begleitet hat, und Fotografien, die er auf Streifzügen durch die besetzte Stadt aufgenommen hat; und mit zwei wohlgeordnet argumentierenden Essays, in denen der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel die politischen Rahmenbedingungen des Schriftstellerbesuches darlegt und der Böll-Biograph Jochen Schubert die enge Beziehung des engagierten Autors zur Tschechoslowakei nachzeichnet.
In der Summe überdecken die "kleineren Sachen" das große Geschichtsbild nicht, sondern füllen es mit Leben - und geben denjenigen, die Bölls Werk heute meiden, eine hervorragende Möglichkeit zur Wiederannäherung.
KAI SINA
Heinrich Böll: "Der Panzer zielte auf Kafka". Heinrich Böll und der Prager Frühling.
Herausgegeben von
René Böll. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 224 S., geb., 20,- [Euro].
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