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Trauriger Schelmenroman: Sofia Andruchowytsch erzählt in "Der Papierjunge" aus den letzten Tagen der k. u. k.-Menschheit
Um 1900 hatte Stanislau, in Cisleithanien, dem von Wien aus verwalteten Teil der Habsburgermonarchie, genauer gesagt: in Galizien gelegen, knapp 30 000 Einwohner. Etwa die Hälfte der Bevölkerung war mosaischen Glaubens jedweder Ausprägung, die andere Hälfte hing diversen christlichen Konfessionen, von ukrainisch-uniert über römisch- und griechisch-katholisch, wohl auch lutherisch, bis hin zu allerlei orthodoxen Richtungen an. Einige Agnostiker mag es ebenfalls gegeben haben, über Mohammedaner ist wenig bis nichts bekannt. Zumindest werden sie in der kleinen Chronik der Stadt aus dem letzten Jahr des neunzehnten Jahrhunderts aus der Perspektive des Dienstmädchens Stefanija Tschornenko nicht erwähnt. Stanislau beherbergte darüber hinaus einige höhere Schulen, eine Lehrerbildungsanstalt, eine medizinische Universität würde folgen, war Sitz eines griechisch-katholischen Bistums und eines Priesterseminars dieser Kirche.
Heute heißt die Universitätsstadt Iwano-Frankiwsk, zählt mehr als 200 000 Bewohner, liegt in der Westukraine und ist Geburtsort der Schriftstellerin Sofia Andruchowytsch, die mit ihrem Vater Jurij die Vorliebe für historische Hintergründe ihrer Geschichten teilt. Im Jahre 2003 erschien zudem ihre Übersetzung des vierten Bandes aus der Harry-Potter-Reihe ("Feuerkelch") in ukrainischer Sprache.
Ihr neuer Roman, "Der Papierjunge" (im Original 2014 erschienen), hebt mit jenem 9. Januar 1900 an. Zunächst berichtet die Ich-Erzählerin Stefanija, genannt Stefa, von merkwürdigen Diebstählen, die sich zum Jahreswechsel ereignet hätten. Heiligenbilder, Reliquiare, liturgische Gegenstände sämtlicher Konfessionen, seien auf unerklärliche Art verschwunden, samt und sonders aus verriegelten Räumen oder versperrten Truhen, in die bestenfalls gerade mal ein Mäuschen Einlass gefunden hätte. Zu dieser Zeit gastiert der weltberühmte Zauberkünstler und Illusionist Chevalier Ernest Thorn mit seiner Truppe, zu der auch Akrobaten gehören, in Stanislau.
Nach und nach erfahren wir, welch gute Köchin und Haushälterin Stefa, wie verbunden sie ihrer Herrin Adelja ist. Diese, einziges Kind des Doktors der Medizin Emil-Karl-Theodor Anger, wuchs gemeinsam mit Stefa auf, nachdem deren Eltern bei einem Großbrand ums Leben gekommen waren. Den letzten Worten des am Schlagfluss verstorbenen gütigen Doktors Anger entnahm Stefa den Auftrag, die so unselbständige, prinzessinnengleiche Adelja niemals zu verlassen. Wir lesen, wie einerseits hingebungsvoll, andererseits verschlagen sie Adelja und deren Gemahl Petro, einen Steinmetz und wahren Künstler, umsorgt, wofür sie gleichermaßen Dank wie Schmähungen, Ohrfeigen gar, nie aber Lohn erhält. Stefa verliebt sich in den einstigen Medizinstudenten, Lieblingsschüler des Doktor Anger und nunmehrigen, leider verheirateten Gefängnispriester Vater Josyf, wird ihrerseits vom jungen jüdischen Fischhändler Welwele angeschmachtet. Im August, knapp vor der Mitte des Buches, taucht der titelgebende Bub, ein schmächtiges Kind, Träger einer seltenen Knochenanomalie, auf. Kein Spalt ist ihm zu eng, kein Kochtopf zu klein, dass er nicht darin verschwinden könnte. Gleichsam gemeinsam nehmen ihn Stefa, Petro und, nach einigem Zögern, auch Adelja wie einen Sohn an. Der Steinmetz gibt ihm den Namen Felix und liegt damit genau richtig, denn kurz darauf taucht der Magier Thorn auf, um den Buben, den er ebenfalls mit diesem Namen anspricht, um die unerhörte Summe von tausend Gulden zu "kaufen", handele es sich doch um seinen besten Artisten oder, da legt er sich nie genau fest, sogar seinen unehelichen Sohn. Petro verweist ihn freundlich, aber bestimmt des Hauses.
Immer dichter werden für Stefa die Hinweise, dass auch in dem Verhältnis zwischen ihrer schutzbefohlenen Herrin - und Freundin? - und dem Priester etwas nicht ganz koscher sei. So etwas kann nicht gut ausgehen, und folgerichtig kommt es just bei Adeljas Geburtstagsfeier Ende November zum Eklat. Da fehlen nurmehr ein Dutzend Seiten bis zum absehbar tragischen Finale.
Eine Art trauriger Schelmenroman ist das, anders kann man die Geschichte kaum bezeichnen. Die erstaunlich gebildete und doch gleichzeitig unwissende Stefanija tapst nahezu blindlings in Gefühlsverstrickungen hinein, zieht ihre meist falschen Schlüsse und deutet sich die Welt, anders als Pippi Langstrumpf, so, dass sie ihr tunlichst nicht gefällt. Andruchowytsch entwirft dabei in blumiger Sprache das pralle Panorama einer aufstrebenden Kleinstadt, in der man noch nicht merkt, nicht merken will, dass das sagenhaft ungleich gewichtete Gebilde der Donaumonarchie in den letzten Zügen liegt. Joseph Roth hat das im "Radetzkymarsch", als der Weltkrieg losbricht, so zusammengefasst: "Der Krieg der österreichischen Armee begann mit Militärgerichten. Tagelang hingen die echten und die vermeintlichen Verräter an den Bäumen auf den Kirchplätzen, zur Abschreckung der Lebendigen."
Von drastischen Bildern in derart lakonischer Sprache ist Andruchowytschs "Papierjunge" weit entfernt. Schrulliges, etwa die Titelverliebtheit, die man ja auch heute noch den Österreichern nachsagt, malt sie breit aus. Wichtig sind ihr die zahlreichen Anmerkungen, die sich zum überwiegenden Teil auf Speisen aus den zahlreichen Küchen Galiziens, von jüdisch bis russinisch (ruthenisch), aber auch auf religiöse Gebräuche und Gerätschaften beziehen. So meint Stefa: "Sobald ich jedoch Adelja und Petro bewirte, dufte ich selbst wie angerösteter Knoblauch, bin saftig und würzig wie Lendenschinken, scharf wie Pfeffer, wackelig wie Milchpudding, fettig und üppig wie eine gebratene Gans." Mahlzeit!, kann man da nur sagen und guten Appetit bei dieser leichten Kost wünschen. Richtig satt wird man von der netten Kleinstadtgeschichte nicht.
MARTIN LHOTZKY
Sofia Andruchowytsch: "Der Papierjunge". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck.
Residenz Verlag, Salzburg 2016. 307 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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