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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Ein Drama in fünf Akten: Toon Horsten zeichnet detailliert und nüchtern nach, wie der Nachlass von Edmund Husserl gerettet wurde
Seinen geistigen Vater hat er nie getroffen. Der Philosoph ist vier Monate tot, als der belgische Pater Herman Leo Van Breda vor dessen Haus am Freiburger Schlossberg steht und klingelt. Es ist der 29. August 1938, Edmund Husserls Witwe Malvine empfängt ihn und lässt ihn sein Anliegen vorbringen: Van Breda will im Rahmen seiner Doktorarbeit den Nachlass Husserls sichten und ein paar unveröffentlichte Texte von ihm edieren. Sie zeigt ihm, was sie hat: rund 40 000 Seiten in Handschrift, meist notiert in der sogenannten Gabelsberger-Kurzschrift. (Dies ist wohl das Einzige, was Husserl mit Carl Schmitt gemeinsam hat.) Dazu kommen Typoskripte, Sonderdrucke, Bücher. Ein Papiergebirge. Der junge Pater ist überwältigt und spürt zugleich die Verzweiflung der alten Dame. Was ihr Mann schon drei Jahre zuvor geschrieben hat - "Jetzt ist es soweit, dass ich es wirklich nicht mehr aushalten kann" -, gilt nun erst recht, sie wird als Jüdin angefeindet, und der Nachlass ihres Mannes ist bedroht. Van Breda ist nicht als Nachwuchsforscher gefragt, sondern als Retter in der Not.
Die Rettung gerät zu einem Drama in fünf Akten, das Toon Horsten in seiner biographischen Recherche nachzeichnet. Erster Akt: Schon am 18. September 1938 wird ein Großteil der Papiere in ein Konstanzer Kloster geschafft, mit der Absicht, sie über die Schweizer Grenze zu schmuggeln und bei dem Phänomenologen und Psychiater Ludwig Binswanger unterzubringen. Dessen Ehefrau soll die Anfrage kühl abgewiesen haben: "Lassen Sie uns in Ruhe! Auch wir sind für Hitler." Eine Sackgasse. Der zweite Akt folgt vier Tage später. Van Breda nimmt den Nachtzug nach Berlin, im Gepäck drei große, insgesamt etwa hundert Kilo schwere Koffer. Sein Ziel: die belgische Botschaft in der Hauptstadt. Er findet Gehör beim stellvertretenden Botschafter, und die Koffer landen dort im Tresor. Sie sind also von der badischen Provinz in Hitlers Hauptstadt oder in Teufels Küche gelangt - ein riskanter Zug.
Dritter Akt: Im November 1938 gelingt es, die drei Koffer als Diplomatenpost nach Leuven zu schaffen, wo Van Breda sie in Empfang nimmt. Damit ist nicht nur der kostbare Nachlass vorläufig gerettet, sondern auch das Schicksal von dessen Retter besiegelt, denn sein ganzes, gar nicht so langes Leben (er starb 1974 mit 63 Jahren) wird er sich der Pflege dieser Papiere widmen. Ihm gelingt es im vierten Akt, im Frühjahr 1939 die treuen Husserl-Schüler Eugen Fink und Ludwig Landgrebe nach Leuven zu holen, wo sie sich in die editorische Arbeit stürzen. Fünfter Akt: Nachdem Van Breda Ausreisevisa für Malvine Husserl und ihre Haushälterin Josephine Näpple beschafft hat, treffen sie am 20. Juni 1939 in Belgien ein, mit sechzig Koffern und einem riesigen Container voll Hausrat und Schrifttum (der freilich bei einem Bombenangriff 1940 zerstört wird).
Der Schilderung dieser Rettungsaktion ist das erste Viertel von Horstens Buch gewidmet, und nach diesem Höhepunkt beginnen die Mühen der Ebene. Alltäglich ist an dieser Ebene freilich rein gar nichts. Landgrebe und Fink werden nach Kriegsbeginn als feindliche Ausländer interniert und kehren 1940 nach Deutschland zurück. Die Archivarbeit kommt zum Erliegen, Van Breda ist auf sich allein gestellt, versteckt Husserls Schriften vor den deutschen Besatzern, so dass sie knapp dem verheerenden Feuer entgehen, das 900 000 Bücher in der Universitätsbibliothek Leuven zerstört. Malvine Husserl schreibt über die "Nicht-Arier-Verfolgung": "Die Scheußlichkeiten sind unbeschreibbar." - "Niemand kann sich vorstellen, wie beängstigend ein Leben ist, wenn sich die traurigsten Umstände vereinigen."
Van Breda gelingt es, ein Vertrauensverhältnis zum deutschen Stadtkommandanten von Leuven, Major Reinold von Thadden, aufzubauen. Als Mitglied der Bekennenden Kirche und Bruder der von den Nationalsozialisten ermordeten Widerstandskämpferin Elisabeth stellt von Thadden Malvine Husserl unter seinen persönlichen Schutz. Van Breda sucht Kontakt mit dem niederländischen Husserl-Schüler Henk Pos, erfährt aber, dass dieser nach Buchenwald deportiert worden ist. Im April 1942 trifft er die Husserl-Schülerin Edith Stein, die in ein niederländisches Karmeliterkloster eingetreten ist; im August desselben Jahres wird sie wegen ihrer jüdischen Herkunft in Auschwitz ermordet. Im Sommer 1942 besorgt er gefälschte Pässe für Stephan Strasser und seine Familie, die als Juden aus Österreich geflohen sind und im Versteck überleben; Strasser wird einer von Van Bredas wichtigsten Mitarbeitern im Husserl-Archiv, dem er wieder Leben einhaucht - erst im "Untergrund", wie Horsten minutiös beschreibt, dann nach Kriegsende wieder offiziell.
"Allmählich normalisiert sich mein Leben jetzt wieder", schreibt Van Breda Ende 1945. Den ersten Band der neuen Werkausgabe kann er Husserls Witwe noch 1950, kurz vor ihrem Tod, überreichen. Horsten schildert, wie Van Breda ein "riesiges Netzwerk" aufbaut, Kontakte zu Maurice Merleau-Ponty, Martin Heidegger und vielen anderen etabliert, bei Bankiers, Zeitungsverlegern, staatlichen Stellen, der Unesco und "an den obskursten Stellen" Geld auftreibt. Horstens Porträt ist von Sympathie und Nüchternheit geprägt, er schildert Van Bredas Erfolge, verschweigt aber nicht den "Jähzorn" und die "Obsession", mit der er seinem zweiten "Gott" Husserl dient. Malvine Husserl charakterisiert ihn als einen "sehr klugen Mann", der "maßlos ehrgeizig" sei und "dauernd Lorbeeren" ernten wolle. Emmanuel Levinas schreibt: "Seine Güte und seine akademische Feinsinnigkeit manifestieren sich immer in diesem Lachen, in der Fröhlichkeit des zufriedenen Bauern, der weiß, dass er dem Teufel ein Schippchen geschlagen hat."
Leider erfährt man über Husserls Phänomenologie in Horstens Buch fast nichts, die inhaltlichen Gründe, die die Faszination für sein Werk rechtfertigen könnten, bleiben im Dunkeln. Doch lesenswert ist es allemal. Es bietet einen Einblick in die Maschinenräume der Ideengeschichte, in menschliche Schicksale, ohne die es Geist und Buchstaben nicht gäbe.
DIETER THOMÄ
Toon Horsten: "Der Pater und der Philosoph". Die abenteuerliche Rettung von Husserls Vermächtnis.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas. Galiani Verlag, Berlin 2021. 288 S., geb., 24,- [Euro].
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