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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Von mir schreibe ich, doch um mich geht es nicht: Clare Carlisle folgt Kierkegaards Denkwegen
Wie kaum ein anderer beherrschte Sören Kierkegaard (1813 bis 1855) die Kunst, sein eigenes Leben in Philosophie zu verwandeln. Als radikaler Denker der individuellen Existenz eröffnete er die Reihe der Modernen, die nicht mehr davon überzeugt sind, dass sich die Welt von einem festen Standpunkt aus, ob er Cogito oder Selbstbewusstsein heißt, aus den Angeln heben lässt. Ohne ihn wären die Formeln der modernen Existenzphilosophie, wäre Heideggers Rede von der "Geworfenheit" oder dem "Sein zum Tode" nicht vorstellbar. Doch so aktuell ein Denken sein mag, das vom Einzelnen ausgeht: Die Tatsache, dass Kierkegaard viele seiner wesentlichen Einsichten in Kategorien des christlichen Glaubens formulierte, macht den Zugang zu seinem Werk nicht eben einfacher.
Clare Carlisle, die am Londoner King's College Philosophie und Theologie lehrt, nimmt die Frage nach der einzelnen Existenz zum Ausgangspunkt ihrer jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Kierkegaard-Biographie. Ganz im Sinne Kierkegaards will sie keinen "entfernten, wissenden Standpunkt" einnehmen, sondern "den unscharfen, schwimmenden Grenzen" zwischen Leben und Schreiben folgen. Dazu bietet sich das Werk Kierkegaards, der in der Reflexion eine Art Lebenselixier sah, allein schon aufgrund der Menge des verfügbaren Materials an. Als er 1855 im Alter von 42 Jahren starb, fanden sich in seinem Nachlass Kommoden voller Tage- und Notizbücher. 2012 wurde die 55 Bände starke Gesamtausgabe seiner Werke abgeschlossen, die vom Umfang her fast so viele zu Lebzeiten unveröffentlichte wie veröffentlichte Texte enthält.
Carlisle gelingt es auf eindrückliche Weise, den Bewegungen des Kierkegaard'schen Denkens zu folgen und seinen Satz, wonach Christentum wesentlich Innerlichkeit ist, in ihrer Darstellung zu belegen. Kierkegaard litt am Christentum seiner Zeit, in dem nach seinem Eindruck der Glaube zu einer bloßen Angelegenheit der bürgerlichen Moral reduziert wurde. Hypothetisch nahm er Nietzsches Schlussfolgerung voraus: Wenn Gott lediglich zum Hüter der Moral gemacht wird, kann man schließlich auch ganz auf ihn verzichten. Was aber folgt für den Glauben, wenn die biblische Überlieferung beim Wort genommen werden muss? Wenn man die Zumutung der alttestamentarischen Geschichte von Abraham ernst nimmt, dessen Glaube ohne Wenn und Aber, ohne jegliche vernünftige Begründung verlangt, Gottes Gebot zu folgen und seinen Sohn Isaak zu opfern?
Aus dieser Konstellation, die Kierkegaard in "Furcht und Zittern" das erste Mal entfaltet, entwickelt Carlisle leitmotivisch Kierkegaards Beschäftigung mit dem Glauben und die Auseinandersetzung mit der dänischen Staatskirche als der Statthalterin des zeitgenössischen Christentums, die gegen Ende seines Lebens in einen regelrechten öffentlichen Feldzug übergeht.
Dass Carlisle eine gründliche Kennerin des Kierkegaard'schen Werks ist, spürt man in jeder Zeile. Allzu artifiziell wirkt sich dies jedoch beim Aufbau des Buches aus. Es besteht aus drei Teilen, die jeweils unterschiedliche zeitliche Perspektiven einnehmen und wichtige Etappen in Kierkegaards Denken markieren sollen. Im ersten Teil konzentriert sich Carlisle auf das Jahr 1843, in dem mit "Entweder - Oder", "Furcht und Zittern" und "Die Wiederholung" drei Hauptwerke des gerade Dreißigjährigen erscheinen. Im zweiten Teil lässt sie Kierkegaard vom Jahr 1848 aus auf sein Leben zurückblicken, und der dritte Teil bewegt sich schließlich von 1849 vorwärts auf sein Lebensende zu. Dazwischen gibt es so viele "Jetzt", von denen aus der Protagonist voraus- oder zurückblickt, dass an einer Stelle sogar die Übersetzerinnen den Überblick verlieren und aus "autumn" "Sommer" machen.
Von Kierkegaard selbst stammt der Satz, er habe Übung darin, in einen Menschen hinein- und wieder hinauszugehen. Bei Carlisle wünscht man sich gelegentlich, sie hätte das Stilmittel der Introspektion zurückhaltender gehandhabt. Ihre Biographie ist ein Buch mit vielen Fenstern: Kierkegaard, wie er aus dem Zugfenster die Landschaft an sich vorbeiziehen sieht oder wie er am hohen Fenster in der Wohnung seiner Eltern steht, in Gedanken jeweils mit seiner Vergangenheit, seiner Zukunft oder beidem befasst. Im Oktober 1848 ist "die Jahreszeit umgeschlagen, das Land hat eine neue Regierung, und Kierkegaard schaut aus neuen Fenstern auf die Stadt". Was er sieht, gibt allerdings kein sehr deutliches Bild ab. In Europa bauen sich "revolutionäre Strömungen auf und branden durch die Christenheit". Viel mehr erfährt man über die politischen Ereignisse des Jahres 1848 nicht - außer, dass in London ein "Kommunistisches Manifest" veröffentlicht wurde. Dies wäre immerhin die Gelegenheit gewesen, auf den anderen großen Hegel-Leser des neunzehnten Jahrhunderts hinzuweisen, der den entgegengesetzten Weg einschlug, nicht nach innen, sondern in die historische Wirklichkeit.
Schließlich war Kierkegaard bei aller Selbstreflexion nicht zuletzt Ironiker durch und durch, der das Wechselspiel von Introspektion und kühler Analyse meisterhaft beherrschte. Nicht umsonst veröffentlichte er seine Werke fast ausnahmslos unter Pseudonym. Den schwierigen Balanceakt des Selbstseins, dem Carlisle so minutiös folgt, fasste Kierkegaard 1849 in seinem Journal in die Worte: "Die Bedeutung der ganzen Schriftstellerei ist ein Aufmerksam-Machen auf das Christliche. Nicht auf mich soll aufmerksam gemacht werden; und doch ist es Persönlichkeit, auf die aufmerksam gemacht werden soll, od. auf die Bedeutung der Persönlichkeit als entscheidend für das Christliche. Meine Persönlichkeit wird daher zwar auch benutzt, aber stets um im entscheidenden Augenblick über mich hinauszuweisen: ich bin es nicht."
Dass es in der deutschen Ausgabe die ausführlichen Kierkegaard-Zitate sind, die den eigentlichen Lesegenuss ausmachen, ist dagegen nicht der Autorin anzulasten, sondern Resultat eines offenbar schludrigen Lektorats und einer fragwürdigen Übersetzung. Manchmal sind Worte oder Wortendungen offenbar aus früheren Fassungen stehengeblieben, gelegentlich fehlen einzelne Wörter. Zwischendurch liest sich der Text immer wieder flüssig, bis man unvermittelt auf steife oder ungelenke Wendungen stößt und anfängt, sich alternative Varianten auszudenken. Ob statt "ohne das Kostüm eines Amtes", das Kierkegaard Autorität verliehen hätte, vielleicht "ohne Amtstracht" passender wäre? Ärgerlich sind einige grundlegende terminologische Missgriffe. "Romanticism" wird ohne erkennbaren Grund gelegentlich richtig als "Romantik", gelegentlich als "Romantizismus" wiedergegeben. Welche Überlegung dazu geführt haben mag, für "authorship" nicht die in der deutschen Version von Kierkegaards Werken gängige "Schriftstellerei" zu verwenden, sondern durchgängig von "Autorschaft" zu reden, ist rätselhaft und mündet immer wieder in Sätze wie den, dass Kierkegaard "einen Großteil des väterlichen Vermögens für seine Autorschaft ausgegeben" habe. So holpert man sich dem Ende des Buches entgegen wie weiland Kierkegaard in der Postkutsche auf der Fahrt von Berlin nach Stralsund, von der es heißt, dass er sich in ihr genau so zerknittert fühlte, wie seine Mitreisenden aussahen.
SONJA ASAL
Clare Carlisle: "Der
Philosoph des Herzens". Das rastlose Leben des
Sören Kierkegaard.
Aus dem Englischen von Ursula Held und Sigrid Schmid. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2020. 464 S., geb., 28,- [Euro].
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