Eine neue Perspektive auf die Transformation der Öffentlichkeit Die Geschichte der Moderne wird gerne als eine Bewegung erzählt, die von der sogenannten »Hochkultur« ausging, von Philosophie oder Dichtung, von Traktaten und Romanen. Ethel Matala de Mazza zeigt hingegen, dass die »populären Formen« einen ebenso großen Anteil am Durchbruch der Moderne hatten. Indem sie sich Genres wie Operette oder Feuilleton und ihren sozialen Einsätzen und ästhetischen Verfahren widmet, gelingt es ihr, das Politische im Populären zu finden und zu analysieren, wie diese Formen darauf antworten. Entstanden ist eine neue Geschichte der Transformation der Öffentlichkeit durch populäre Formen, in denen soziale Poetik und ästhetische Soziologie verschränkt werden - und die unmittelbar mit dem Schicksal dessen verknüpft sind, was nun »Gesellschaft« heißt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2019Was hat Cancan mit der Eisenbahn zu tun?
Von kleinen Formen angeregt: Ethel Matala de Mazza spürt der Rolle von Feuilleton und Operette in der Moderne nach.
Die Literatur der Nicht-Leser", schrieb der Journalist Hans Siemsen 1926, "ist die gelesenste Literatur der Welt." Siemsen dachte an zeitgenössische Schlager wie "Ausgerechnet Bananen". Ethel Matala de Mazza macht mit Zitaten wie diesem darauf aufmerksam, dass in unserer Massendemokratie noch lange nicht der ästhetische Massengeschmack zum Ideal erhoben wurde, die populärsten Genres keineswegs die höchst angesehenen sind. Auch wenn Adornos Verdikt gegen die Kulturindustrie an Schlagkraft verloren hat, lässt sich mit dem Konsum und der Kenntnis von Genreromanen, Operetten oder eben Schlagern noch lange kein kulturelles Kapital akquirieren.
"Der populäre Pakt", so der Titel von Matala de Mazzas Buch, besteht in der "Konjunktion von Populärem und Politischem", also zwischen den Genres der Unterhaltungskultur und dem politischen Körper der Masse. Dabei geht es der Berliner Germanistin nicht um eine bloße Umkehrung der Werte oder gar eine Umpolung des Hochkulturkanons, wohl aber um einen anderen Blick auf die Entwicklung der modernen Öffentlichkeit, jenseits der behaglichen Perspektive "der zum Publikum versammelten Privatleute", wie sie Jürgen Habermas in seiner berühmten Habilitationsschrift dargestellt hat.
Schärfer hat es schon Heine gesehen, als er über "die Dämonen, welche in den untern Schichten der Gesellschaft lauerten", schrieb, sie sähen nur durch ein Verkleinerungsglas "aus wie wahnsinnige Flöhe", in ihrer "wahren Lebensgröße" aber "glichen sie vielmehr den furchtbarsten Crokodillen, welche jemals aus dem Schlamm gestiegen" - die Bezüge zwischen Formen der Revolution und des Amüsements, die Matala de Mazza immer wieder aufzeigt, geben Heine recht.
Und wo Habermas' "Strukturwandel der Öffentlichkeit" am Ende ins adornitische Fahrwasser einschwenkt und den Verfall der Öffentlichkeit durch das "kulturkonsumierende Publikum" beklagt, sieht Matala de Mazza ganz umgekehrt eine Herausforderung eigenen Rechts - die Unterhaltungskultur ist nicht bloße Massenverdummung, im Gegenteil enthält sie ihre eigene "Analytik sozialer Verhältnisse". Von jeher war dem Unterhaltenden ein genauerer Blick auf aktuelle soziale Lagen und Fragen eigen gewesen, und umgekehrt zehrt die politische Massenkultur immer von Formen des Unterhaltenden - die Feste der Französischen Revolution waren von Rousseaus Theaterkonzept inspiriert und wirkten durch ihre Inszenierung des patriotischen Kollektivschwurs wieder auf das Operntableau zurück.
Aus den zahlreichen "minderen Genres", an denen sich dieser "populäre Pakt" mit dem Publikum exemplifizieren ließe - man denke nur an den Kriminalroman, das Kino oder den Sport -, wählt Matala de Mazza vor allem zwei: das Feuilleton und die Operette, die Erzeugnisse der petite presse und die von Jacques Offenbach beschworene petite musique also, was gelegentliche Aus- oder Einblicke in den Tanzsaal, das Panorama, das Büro, auf Beleuchtungseffekte oder revolutionäre Straßenkämpfe nicht verhindert.
In der Weimarer Republik, als sich das Feuilleton in den Zeitungen noch unterm Strich ansiedelte, schrieb Siegfried Kracauer seine Alltagsglossen zur Schreibmaschine oder zur Badehose; aber auch seine große Studie zu den "Angestellten" erschien zuerst in der Zeitung. Die geschmeidige Bewegung zwischen scheinbar lässig flanierender Beobachtung und plötzlich einsetzender scharfer Analyse hat auch Matala de Mazza übernommen: So wird der erzählende Grundton des Buchs, dem das Stöckchen genauso wichtig ist wie das Hölzchen, verständlich als mimetische Anschmiegung an seinen Gegenstand, das Feuilleton, das im scheinbar Flüchtig-Nichtigen das Wichtige entdeckt. Mit Kracauer setzt das Buch ein; aber von dessen im Pariser Exil entstandener Offenbach-Studie angeregt, wendet es sich zurück nach Paris, um von dort noch einmal den historischen Weg der Entfaltung der Öffentlichkeit über die französischen Revolutionen, von der Pariser und der Wiener Operette über "Die letzten Tage der Menschheit" bis hin zur Zwischenkriegszeit nachzuzeichnen.
Am Schluss landen wir also wieder am Ausgangspunkt, also bei Kracauer, und mit einer ziemlich irren Hitler-Anekdote, die nach einem Besuch der "Lustigen Witwe" spielt, endet das Buch. Eine zu Habermas gegenläufige Große Erzählung wird bewusst vermieden, so kann man den inneren Zusammenhang des Ganzen schon einmal aus den Augen verlieren, dagegen verlockt die offensichtliche Freude an der Assoziation, der Pointe und der immer wieder aufblitzenden Widerständigkeit des vermeintlich bloß Unterhaltenden zur Fortsetzung der Lektüre.
Im Kern ist das Buch, bei aller disziplinären Offenheit, dann doch literaturwissenschaftlich. Die Betroffenen selbst, das Heer der kleinen Bürger oder Angestellten, kommen nicht zu Wort. Die Autorin orientiert sich an ephemeren Textgenres: den Tableaus von Louis-Sébastien Mercier, den Pariser Physiologien der 1830er Jahre, Heinrich Heines Pariser Feuilletons, die mit Karl Marx oder Karl Kraus in Dialog treten.
Zwangsläufig geraten bei diesen Textsorten Fragen nach dem öffentlichen Raum in den Blick: Tummelt sich die "mindere" Öffentlichkeit in Innen- oder Außenräumen, im Ballsaal oder auf den neuen Haussmannschen Boulevards? Das spielt auch für Revolutionäre eine Rolle, denn auf Boulevards lässt sich schlecht ein Barrikadenkampf führen. Und weiter: Haben Offenbachs Herrschersatiren ihr Vorbild in der Ermordung Ludwigs XVI., und woher stammt Heines Obsession mit Enthauptungen? Ist der Cancan das Ergebnis jener urbanisierten Beschleunigung, die auch die Eisenbahn hervorgebracht hat? Die Operette hat ja die technischen Neuerungen des Zeitalters immer aufmerksam zur Kenntnis genommen, auf der Gare de l'Ouest spielt der erste Akt von Offenbachs "La Vie Parisienne".
Das Buch will weniger neue Aufschlüsse zu den kleinen Genres bieten, sondern verspricht Erkenntnis durch die Konstellationen, die es zwischen diesen Phänomenen aufzeigt oder manchmal auch herstellt. Die sind auch jenseits des historischen Befunds anregend. In Zeiten, in denen man sich angesichts der von immer mehr Bürgern stolz ausgestellten Vernunftfeindlichkeit gelegentlich bei dem Wunsch ertappt, die Regierung möge das Volk absetzen und sich ein anderes wählen, ist eine Sensibilisierung für die durch die sozialen Medien neu regulierten Öffentlichkeiten und deren populäre Pakte gebotener denn je.
WOLFGANG FUHRMANN
Ethel Matala de Mazza: "Der populäre Pakt". Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von kleinen Formen angeregt: Ethel Matala de Mazza spürt der Rolle von Feuilleton und Operette in der Moderne nach.
Die Literatur der Nicht-Leser", schrieb der Journalist Hans Siemsen 1926, "ist die gelesenste Literatur der Welt." Siemsen dachte an zeitgenössische Schlager wie "Ausgerechnet Bananen". Ethel Matala de Mazza macht mit Zitaten wie diesem darauf aufmerksam, dass in unserer Massendemokratie noch lange nicht der ästhetische Massengeschmack zum Ideal erhoben wurde, die populärsten Genres keineswegs die höchst angesehenen sind. Auch wenn Adornos Verdikt gegen die Kulturindustrie an Schlagkraft verloren hat, lässt sich mit dem Konsum und der Kenntnis von Genreromanen, Operetten oder eben Schlagern noch lange kein kulturelles Kapital akquirieren.
"Der populäre Pakt", so der Titel von Matala de Mazzas Buch, besteht in der "Konjunktion von Populärem und Politischem", also zwischen den Genres der Unterhaltungskultur und dem politischen Körper der Masse. Dabei geht es der Berliner Germanistin nicht um eine bloße Umkehrung der Werte oder gar eine Umpolung des Hochkulturkanons, wohl aber um einen anderen Blick auf die Entwicklung der modernen Öffentlichkeit, jenseits der behaglichen Perspektive "der zum Publikum versammelten Privatleute", wie sie Jürgen Habermas in seiner berühmten Habilitationsschrift dargestellt hat.
Schärfer hat es schon Heine gesehen, als er über "die Dämonen, welche in den untern Schichten der Gesellschaft lauerten", schrieb, sie sähen nur durch ein Verkleinerungsglas "aus wie wahnsinnige Flöhe", in ihrer "wahren Lebensgröße" aber "glichen sie vielmehr den furchtbarsten Crokodillen, welche jemals aus dem Schlamm gestiegen" - die Bezüge zwischen Formen der Revolution und des Amüsements, die Matala de Mazza immer wieder aufzeigt, geben Heine recht.
Und wo Habermas' "Strukturwandel der Öffentlichkeit" am Ende ins adornitische Fahrwasser einschwenkt und den Verfall der Öffentlichkeit durch das "kulturkonsumierende Publikum" beklagt, sieht Matala de Mazza ganz umgekehrt eine Herausforderung eigenen Rechts - die Unterhaltungskultur ist nicht bloße Massenverdummung, im Gegenteil enthält sie ihre eigene "Analytik sozialer Verhältnisse". Von jeher war dem Unterhaltenden ein genauerer Blick auf aktuelle soziale Lagen und Fragen eigen gewesen, und umgekehrt zehrt die politische Massenkultur immer von Formen des Unterhaltenden - die Feste der Französischen Revolution waren von Rousseaus Theaterkonzept inspiriert und wirkten durch ihre Inszenierung des patriotischen Kollektivschwurs wieder auf das Operntableau zurück.
Aus den zahlreichen "minderen Genres", an denen sich dieser "populäre Pakt" mit dem Publikum exemplifizieren ließe - man denke nur an den Kriminalroman, das Kino oder den Sport -, wählt Matala de Mazza vor allem zwei: das Feuilleton und die Operette, die Erzeugnisse der petite presse und die von Jacques Offenbach beschworene petite musique also, was gelegentliche Aus- oder Einblicke in den Tanzsaal, das Panorama, das Büro, auf Beleuchtungseffekte oder revolutionäre Straßenkämpfe nicht verhindert.
In der Weimarer Republik, als sich das Feuilleton in den Zeitungen noch unterm Strich ansiedelte, schrieb Siegfried Kracauer seine Alltagsglossen zur Schreibmaschine oder zur Badehose; aber auch seine große Studie zu den "Angestellten" erschien zuerst in der Zeitung. Die geschmeidige Bewegung zwischen scheinbar lässig flanierender Beobachtung und plötzlich einsetzender scharfer Analyse hat auch Matala de Mazza übernommen: So wird der erzählende Grundton des Buchs, dem das Stöckchen genauso wichtig ist wie das Hölzchen, verständlich als mimetische Anschmiegung an seinen Gegenstand, das Feuilleton, das im scheinbar Flüchtig-Nichtigen das Wichtige entdeckt. Mit Kracauer setzt das Buch ein; aber von dessen im Pariser Exil entstandener Offenbach-Studie angeregt, wendet es sich zurück nach Paris, um von dort noch einmal den historischen Weg der Entfaltung der Öffentlichkeit über die französischen Revolutionen, von der Pariser und der Wiener Operette über "Die letzten Tage der Menschheit" bis hin zur Zwischenkriegszeit nachzuzeichnen.
Am Schluss landen wir also wieder am Ausgangspunkt, also bei Kracauer, und mit einer ziemlich irren Hitler-Anekdote, die nach einem Besuch der "Lustigen Witwe" spielt, endet das Buch. Eine zu Habermas gegenläufige Große Erzählung wird bewusst vermieden, so kann man den inneren Zusammenhang des Ganzen schon einmal aus den Augen verlieren, dagegen verlockt die offensichtliche Freude an der Assoziation, der Pointe und der immer wieder aufblitzenden Widerständigkeit des vermeintlich bloß Unterhaltenden zur Fortsetzung der Lektüre.
Im Kern ist das Buch, bei aller disziplinären Offenheit, dann doch literaturwissenschaftlich. Die Betroffenen selbst, das Heer der kleinen Bürger oder Angestellten, kommen nicht zu Wort. Die Autorin orientiert sich an ephemeren Textgenres: den Tableaus von Louis-Sébastien Mercier, den Pariser Physiologien der 1830er Jahre, Heinrich Heines Pariser Feuilletons, die mit Karl Marx oder Karl Kraus in Dialog treten.
Zwangsläufig geraten bei diesen Textsorten Fragen nach dem öffentlichen Raum in den Blick: Tummelt sich die "mindere" Öffentlichkeit in Innen- oder Außenräumen, im Ballsaal oder auf den neuen Haussmannschen Boulevards? Das spielt auch für Revolutionäre eine Rolle, denn auf Boulevards lässt sich schlecht ein Barrikadenkampf führen. Und weiter: Haben Offenbachs Herrschersatiren ihr Vorbild in der Ermordung Ludwigs XVI., und woher stammt Heines Obsession mit Enthauptungen? Ist der Cancan das Ergebnis jener urbanisierten Beschleunigung, die auch die Eisenbahn hervorgebracht hat? Die Operette hat ja die technischen Neuerungen des Zeitalters immer aufmerksam zur Kenntnis genommen, auf der Gare de l'Ouest spielt der erste Akt von Offenbachs "La Vie Parisienne".
Das Buch will weniger neue Aufschlüsse zu den kleinen Genres bieten, sondern verspricht Erkenntnis durch die Konstellationen, die es zwischen diesen Phänomenen aufzeigt oder manchmal auch herstellt. Die sind auch jenseits des historischen Befunds anregend. In Zeiten, in denen man sich angesichts der von immer mehr Bürgern stolz ausgestellten Vernunftfeindlichkeit gelegentlich bei dem Wunsch ertappt, die Regierung möge das Volk absetzen und sich ein anderes wählen, ist eine Sensibilisierung für die durch die sozialen Medien neu regulierten Öffentlichkeiten und deren populäre Pakte gebotener denn je.
WOLFGANG FUHRMANN
Ethel Matala de Mazza: "Der populäre Pakt". Verhandlungen der Moderne zwischen Operette und Feuilleton.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2018. 480 S., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das ist Literaturinterpretation vom Feinsten, ungemein gelehrt und aus den Einzelheiten und Kleinigkeiten das Letzte durch dichte Beschreibung herausholend. Jörg Später Süddeutsche Zeitung 20190219