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Umsichtig, quellenreich und elegant: Andreas Wirsching hat eine exzellente Geschichte Europas zwischen 1989 und 2011 geschrieben.
Von Hans-Ulrich Wehler
Im Gegensatz zu amerikanischen und englischen Historikern tun sich deutsche Historiker gewöhnlich schwer mit den Problemen der unmittelbaren Zeitgeschichte. Sie zögern zwar nicht, mit Monographien und Aufsätzen in die Epoche nach 1945 vorzustoßen. Doch vor einer umfassenden Synthese schrecken sie in aller Regel zurück. Diese Scheu ist dem Münchener Historiker Andreas Wirsching, soeben zum Direktor des "Instituts für Zeitgeschichte" ernannt, völlig fremd. Vor einigen Jahren schon war er mit einem vorzüglichen Abschlussband einer repräsentativen Reihe zur "Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" hervorgetreten. Nun ist seine Synthese der gesamteuropäischen Geschichte von 1989 bis 2011 erschienen.
Das ist fraglos ein beeindruckendes Werk: Von imponierender Belesenheit und Vertrautheit mit der ausufernden wissenschaftlichen Literatur und Publizistik jener Jahre zeugend, auf einem abgewogenen, sicheren Urteil gegenüber heiklen Fragen beruhend, dazu in einem bestechenden, elastischen, begriffsscharfen Stil geschrieben. Blickt man auf die englischsprachige Konkurrenz, wird sie von Wirsching bei weitem übertroffen.
Zuerst entfaltet der Verfasser das Panorama europäischer Politik im Augenblick der demokratischen Revolution von 1989/90 bis hin zum Zusammenbruch des Kommunismus und dem Ende der Sowjetunion. Sodann verfolgt er den Umbruch in dem von der sowjetischen Vorherrschaft befreiten Osteuropa und die Katastrophe der jugoslawischen Kriege in den neunziger Jahren. Anschließend analysiert er den Aufbau eines neuen gemeinsamen Europas als politisches Projekt seit der fundamentalen Wende von 1989/91.
Besonders gelungen ist das vierte Kapitel über die Herausforderungen der neuen Globalisierung, die sich nach dem ersten großen Anlauf vor 1914 seit den achtziger Jahren zu einer neuen epocheprägenden Welle steigerte. Europas Teilhabe an der globalisierten Wirtschaft wird ebenso sachkundig geschildert wie die Integration Osteuropas in die neue Weltwirtschaft. Als Sonderproblem behandelt Wirsching die Entfaltung der flexiblen Dienstklassen in der weltweit ausgedehnten Wissensgesellschaft, ehe er zur Analyse der neuen Lebensformen im Zeichen der kulturellen Diversität, zum Vordringen der Konsumgesellschaft, zur Elitenmobilität und Massenmigration vorstößt. Am Schluss erörtert er die kulturelle Selbstbesinnung und die Suche nach europäischer Identität, ehe er mit dem Blick auf "Krise und Konvergenz" nach dem Schock der Finanzkrise seit 2008 seinen Weg durch die europäische Zeitgeschichte beendet.
Wer sich heute einer solchen Synthese der europäischen Zeitgeschichte als Aufgabe stellt, muss die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede, welche die europäische Staatenwelt charakterisieren, in einem weitgespannten Horizont angemessen diskutieren können. Zu einem strengen Vergleich kommt es hier zwar relativ selten, doch die komparative Perspektive ist auf überzeugende Weise häufig präsent. Dadurch entsteht vor dem Auge des Lesers in der Tat das System der europäischen Staaten, wie es sich in ihrer globalen Verflechtung während zweier turbulenter Jahrzehnte herausgebildet hat.
Welche Gesichtspunkte der Interpretation dominieren in einem derart eindruckvollen Opus? An erster Stelle steht fraglos eine hochdifferenzierte, kultivierte Politikgeschichte, die auch bereits in früheren Arbeiten von Wirsching im Mittelpunkt gestanden hat. Sie wird begleitet von einer eindringlichen Geschichte der politischen Ideen, wie sie von der "New Intellectual History" wiederbelebt worden ist. Aus diesem Umfeld stammen auch eigentlich die wichtigsten erkenntnisleitenden Interessen, die dieses Projekt angeleitet haben. Auf diese Weise kommt die öffentliche Meinung in ihrer bunten Vielfalt als politikbegleitender und -stimulierender Faktor immer wieder breit zur Geltung.
Bei aller Anerkennung entlässt einen das Buch doch auch mit offenen Fragen. Als Grundzug der Gesellschaftsgeschichte der europäischen Staaten tritt in den beiden behandelten Jahrzehnten eine rasante Verschärfung der sozialen Ungleichheit hervor. Hatte der Nobelpreisträger Simon Kuznets in einer berühmten Untersuchung der ersten dreißig Nachkriegsjahre eine deutliche Abschwächung dieser Ungleichheit in allen westlichen Ländern festgestellt (ein Ergebnis der Hochkonjunktur und Sozialstaatsaktivität), hat der verhängnisvolle Triumph neoliberaler Dogmatik seit Reagan und Thatcher eine Trendumkehr ausgelöst, die auch längst die Bundesrepublik erfasst hat. Vermögen und Einkommen wandern massiver als je zuvor an die Spitze der Sozialhierarchie, während die Mittel- und Unterklassen mit stagnierenden oder sogar schrumpfenden Einkommen zu kämpfen haben. Die dramatische Zuspitzung der sozialen Ungleichheit wird sich auch im amerikanischen und später im deutschen Wahlkampf auswirken, überhaupt ein Dauerthema westlicher Politik bleiben. Denn sie wirft auf absehbare Zeit die Frage nach der Gerechtigkeit der Ressourcenverteilung in der sozialstaatlichen Massendemokratie unabweisbar auf. Zu dieser gravierenden Problematik hätte man sich vom Autor eine ausführlichere Erörterung gewünscht.
In die behandelte Epoche fällt auch der Fortgang einer seit längerem laufenden drastischen Veränderung in der Komposition der Berufstätigen. Stellte unlängst noch die Arbeiterschaft etwa die Hälfte aller Erwerbstätigen, ist sie in den letzten Jahren auf rund dreißig Prozent abgesunken. Die große Mehrheit bewegt sich jetzt als Angestelltenschaft in den rasch weiter wachsenden Segmenten der Dienstklassengesellschaft. Mit dieser Entwicklung ist in aller Regel ein folgenreicher Umschwung in der Sozialmentalität einschließlich der Auswahl politischer Optionen verbunden.
Schließlich hätte auch die Globalisierungsproblematik eine tiefer eindringende Durchleuchtung verdient. Als Hintergrundfolie wird sie zwar öfter aufgespannt. Doch handelt es sich bei ihr um eine derartige Zäsur in der Weltgeschichte, dass die Kommunikations- und Computerrevolution jetzt schon den Einschnitt der ersten Industriellen Revolution verdrängt hat. Wie die Zusammenhänge zwischen Globalisierung und sozialer Ungleichheit aussehen, bleibt eine lohnende Frage.
Vorerst aber steht fest, dass sich die Konkurrenz außerordentlich schwertun wird, eine derart brillante Synthese, wie Wirsching sie präsentiert, in ihrer theoretischen Konzeption, methodischen Strenge und empirischen Dichte zu übertreffen.
Andreas Wirsching: "Der Preis der Freiheit". Geschichte Europas in unserer Zeit.
Verlag C. H. Beck, München 2012. 487 S., Abb., geb., 26,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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