»Als ich dreizehn Jahre alt war, spürte ich, wie ich als Kind der Pedale geboren wurde.« Die meisten Menschen glauben, nichts sei leichter und mechanischer, als ein Pedal zu bewegen. Der Radsport gilt als kulturlose Barbarei, Radrennen bestenfalls als eine klinische, aseptische Fassung von Modern Times, ohne Chaplin und bar jeder Poesie. Der Radsport, das sind Poulidor und Thurau und Lance Armstrong, es riecht nach Kampfer und Zitronentee, nach hohlen Phrasen und EPO. Der Radsport, das ist die Tour de France im Fernsehen, die erst dann nicht mehr langweilt, wenn man auf dem Sofa eingeschlafen ist. Der französische Schriftsteller und Philosoph Olivier Haralambon weiß es besser. Zehn Jahre lang ist er selbst Radrennen gefahren. Er hat in der Welt der Radsportler gelebt, er ist einer von ihnen geworden. Und er ist zu der Überzeugung gekommen: Bücher machen nicht unbedingt schlauer, der Radsport schon. Denn der Radsport besitzt die heilsame Tugend der Enttäuschung. In diesem sprachmächtigen, präzise beobachteten Essay erzählt Haralambon von den Verzauberungen, die uns der Radsport beschert. Er offenbart, warum stark zu sein und schnell zu fahren zwei grundverschiedene Dinge sind. Dass ein Pedal mehr umsponnen und gestreichelt werden will, denn nur getreten. Dass die, die man für Rohlinge hält, in Wahrheit empfindsam sind wie Tänzerinnen, feinsinniger als manche Schriftsteller - denn sonst kämen sie nicht voran…
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2018Die Grenzen der Vernunft überschreiten
Wie man den Schmerz zu kontrollieren lernt: Zwei sehr unterschiedliche Bücher führen passend zum Auftakt der Tour de France ins Herz des Radrennsports - einmal tief gedacht, einmal scharf geregelt.
Lesen bildet, macht aber nicht schlauer, das Radrennfahren schon." - Mon dieu, die im Untertitel versprochene "kleine Philosophie" bläst die Backen mächtig auf. Auch wenn sich ihr Autor für die "Selbstgefälligkeit" entschuldigt, in der Ich-Perspektive zu schreiben, ist er immerhin ein Mann, der aus der Binnensicht über den Radrennsports berichten kann, war er doch mehr als zehn Jahre Teil des "Wanderzirkus des Peloton". Teil einer Männergesellschaft, die wie eine "Herde" durch die Lande zieht, geleitet von den Terminen des Rennkalenders.
Im Alter von dreizehn Jahren bestritt der 1967 geborene, aus der Pariser Banlieue stammende Olivier Haralambon sein erstes Rennen, mit dreißig sein letztes. Als Profi hat er es nicht in die erste Liga geschafft, aber auch in der zweiten und dritten Reihe gibt es Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt als Berufssportler zu bestreiten. Dem Ende der Laufbahn folgte ein Drogenabsturz, nach einem Entzug arbeitet Haralambon als Journalist, studiert Philosophie und unterrichtet heute an der Université Paris Est Créteil. Sein im vergangenen Jahr im Original erschienener Essay reiht sich ein in eine noch nicht sehr ausgeprägte Tradition (F.A.Z. vom 15. Juli 2013), der Faszination des Rennradsports beizukommen. Und um es gleich zu sagen, es gab schon schwächere Versuche.
Das liegt auch daran, dass sich Haralambon dazu entschlossen hat, in die Vollen zu gehen: "Die besten Rennfahrer (...) zählen zu den intelligentesten, subtilsten Vertretern der menschlichen Gattung." Das überrascht, fallen doch die Besten der Zunft seit Jahr und Tag durch Betrug und Fehlverhalten auf. Aber der Autor ist überzeugt davon, dass, wer sich aufs Rennrad setzt, metamorphisiert zu einem Wesen, das sich erhebt über jeden Fußgänger; dass Pedalieren, jene vermeintlich so simple Übung, hilft, die Eckpfeiler des Daseins zu versetzen. Sogar sehend wird man, wie der ungläubige Thomas auf dem Gemälde Caravaggios - nämlich erst durch Berührung der Wundmale, während sich der Blick nach innen richtet.
Um dieses Innen auszudeuten, bemüht der Autor immer wieder die Haut- und Fleisch-Metaphern: Das Rad werde im Verlauf der Verwandlung zum Teil des Körpers, nicht umgekehrt. Der Rennfahrer sei mithin "das Gegenteil eines Roboters". Für Haralambon ist er vielmehr einer Ballerina vergleichbar. Die Pavées, die Kopfsteinpflasterabschnitte der Frühjahrsklasssiker, zu meistern setze voraus, inwendig flüssig zu sein.
Auch wenn manche Lyrismen gesucht wirken, in vielen Punkten ist dem Autor zuzustimmen. Wenn er etwa die Unfähigkeit der Fernsehkommentatoren beklagt, die Komplexität eines Radrennens auch nur annähernd so zu vermitteln, dass ein Novize, dem das stundenlange monotone Gestrample nichts sagt, neugierig darauf würde. Seine mit leichter Hand eingestreuten Porträts von berühmten Fahrern sind pointiert. Lance Armstrong habe am radikalsten vorgeführt, was in der antiken Fabel Aktaion durchgespielt habe: Nachdem er Diana beim Bade erblickte, wurde er in einen Hirsch verwandelt, den die Hunde zerrissen. Ebendiese Verwandlung habe Armstrong, dieser zutiefst wütende Mann, vollzogen. Bis unter die Hutschnur gedopt, habe er sich von einem Muskelprotz zu einem mageren Kletterer entwickelt, der die Tour dominierte. Er sei bereits verwandelt gewesen, als er 1999 auf dem Weg zu seinem ersten Tour-Sieg die Bergetappe nach Sestrières gewonnen habe. "Ich behaupte, an diesem Tag im Ziel einen Toten gesehen zu haben", schreibt Haralambon.
Während er an Alberto Contador die Eleganz bewundert, sieht er beim aktuell unter Doping-Verdacht fahrenden Christopher Froome "stilistische Häresie". Der Engländer sei als "Stilbeispiel eine Parodie, die dem ikonischen Wert des Champions" schade - an der sportlichen Leistungsfähigkeit des Engländers zweifelt der Autor, der selbst gedopt hat, nicht. Und auch nicht am Doping-System, weil es einem "Körper unbegrenzter Möglichkeiten" verspreche und teilweise liefere, und dass die "dionysischen Monster" dieses Ziel anpeilten, sei verzeihlich.
Zu literarischen Höhen schwingt sich das Buch auf, wenn es an die Beschreibung des Pelotons geht, dessen dehnbare "Wunderhaut" Haralambon an einen chinesischen Drachen erinnert: "Das Gelände, die Straße, deren Relief das Tier abpaust, die Kehren, die ihm in den Bergen das fließende, schlangengleiche Aussehen verleihen." Haralambons Essay lohnt die Lektüre, auch wenn der hohe und streckenweise expressionistische Ton nicht mit der Ausdrucksweise des gemeinen Rennradlers korreliert.
Der findet sich gewiss bei den fünf Herren aufgehoben, die sich "Velominati" nennen und unter diesem Namen einen Blog betreiben. "Die Hüter des Ritzels" formulieren in ihrem "Kodex für Radsportjünger" ein handfestes Regelwerk - sehr direkt, ein bisschen kumpelhaft und prollig, der Ästhetik verpflichtet. Und sie bestätigen sogleich Haralambons These, die angelsächsisch-protestantische Kultur habe im Radsport die südlich-katholischen Länder abgelöst. Freilich geht damit im Weberschen Sinn eine knallharte Arbeitsethik einher - gibst du nicht jeden Tag das Äußerste auf dem Rennrad, gehörst du nicht dazu.
Man wird sich trotzdem bei der Lektüre dieser Regeln amüsieren. Sie sind das ideale Geschenk auch für Hobbyfahrer, enthalten sie doch viel ernstzunehmende Benimmregeln. Zum Glück gestatten sich Frank Strack, Brett Kennedy, John Andrews, Mark Carlson und Jim Thomson auch Selbstironie, das bewahrt sie davor, als sportreligiöse Eiferer dazustehen. Übersetzt hat das Buch Rainer Sprehe, der mit seinem Covadonga Verlag seit Jahren dicke Radsport-Regalbretter bohrt. "Die Regeln" handeln nicht nur von Verhaltensweisen im Rennen, sondern auch von praktischen Dingen wie Schnellspannhebeln (die Richtung muss stimmen), Staubkappen (weg damit), Herstellerlogos (mittig unter dem Ventil), dem Tragen von Ärmlingen (oben darf keine Haut sichtbar sein).
Über allen anderen thront die Regel 5: "Beiß verflucht noch mal auf die Zähne." Bei der Triathlongemeinde wird Regel 42 weniger gut ankommen: "Einem Radrennen sollte niemals ein Lauf vorausgehen und/oder ein Lauf folgen." Regel 72 lautet: "Beine sagen mehr als tausend Worte." Sie richtet sich an jene Zeitgenossen, die kein anderes Gesprächsthema mehr aufbringen als ihre aktuellen Trainingswerte. Denen diktieren die Velominati ins Stammbuch: Ausführungen über Wattzahlen, Pulswerte und sonstige Fahrdaten haben zu unterbleiben. "Denn die Konversation, die deine Beine führen können, ist immer beeindruckender als das, was aus deinem Mund kommt."
HANNES HINTERMEIER.
Olivier Haralambon: "Der Radrennfahrer und sein Schatten". Eine kleine Philosophie des Straßenradsports.
Aus dem Französischen von Christoph Sanders. Covadonga Verlag, Bielefeld 2018. 166 S., geb., 16,80 [Euro].
Velominati (Hrsg.): "Die Regeln". Kodex für Radsportjünger.
Aus dem Englischen von Rainer Sprehe. Covadonga Verlag, Bielefeld 2018. 307 S., br., 14,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie man den Schmerz zu kontrollieren lernt: Zwei sehr unterschiedliche Bücher führen passend zum Auftakt der Tour de France ins Herz des Radrennsports - einmal tief gedacht, einmal scharf geregelt.
Lesen bildet, macht aber nicht schlauer, das Radrennfahren schon." - Mon dieu, die im Untertitel versprochene "kleine Philosophie" bläst die Backen mächtig auf. Auch wenn sich ihr Autor für die "Selbstgefälligkeit" entschuldigt, in der Ich-Perspektive zu schreiben, ist er immerhin ein Mann, der aus der Binnensicht über den Radrennsports berichten kann, war er doch mehr als zehn Jahre Teil des "Wanderzirkus des Peloton". Teil einer Männergesellschaft, die wie eine "Herde" durch die Lande zieht, geleitet von den Terminen des Rennkalenders.
Im Alter von dreizehn Jahren bestritt der 1967 geborene, aus der Pariser Banlieue stammende Olivier Haralambon sein erstes Rennen, mit dreißig sein letztes. Als Profi hat er es nicht in die erste Liga geschafft, aber auch in der zweiten und dritten Reihe gibt es Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt als Berufssportler zu bestreiten. Dem Ende der Laufbahn folgte ein Drogenabsturz, nach einem Entzug arbeitet Haralambon als Journalist, studiert Philosophie und unterrichtet heute an der Université Paris Est Créteil. Sein im vergangenen Jahr im Original erschienener Essay reiht sich ein in eine noch nicht sehr ausgeprägte Tradition (F.A.Z. vom 15. Juli 2013), der Faszination des Rennradsports beizukommen. Und um es gleich zu sagen, es gab schon schwächere Versuche.
Das liegt auch daran, dass sich Haralambon dazu entschlossen hat, in die Vollen zu gehen: "Die besten Rennfahrer (...) zählen zu den intelligentesten, subtilsten Vertretern der menschlichen Gattung." Das überrascht, fallen doch die Besten der Zunft seit Jahr und Tag durch Betrug und Fehlverhalten auf. Aber der Autor ist überzeugt davon, dass, wer sich aufs Rennrad setzt, metamorphisiert zu einem Wesen, das sich erhebt über jeden Fußgänger; dass Pedalieren, jene vermeintlich so simple Übung, hilft, die Eckpfeiler des Daseins zu versetzen. Sogar sehend wird man, wie der ungläubige Thomas auf dem Gemälde Caravaggios - nämlich erst durch Berührung der Wundmale, während sich der Blick nach innen richtet.
Um dieses Innen auszudeuten, bemüht der Autor immer wieder die Haut- und Fleisch-Metaphern: Das Rad werde im Verlauf der Verwandlung zum Teil des Körpers, nicht umgekehrt. Der Rennfahrer sei mithin "das Gegenteil eines Roboters". Für Haralambon ist er vielmehr einer Ballerina vergleichbar. Die Pavées, die Kopfsteinpflasterabschnitte der Frühjahrsklasssiker, zu meistern setze voraus, inwendig flüssig zu sein.
Auch wenn manche Lyrismen gesucht wirken, in vielen Punkten ist dem Autor zuzustimmen. Wenn er etwa die Unfähigkeit der Fernsehkommentatoren beklagt, die Komplexität eines Radrennens auch nur annähernd so zu vermitteln, dass ein Novize, dem das stundenlange monotone Gestrample nichts sagt, neugierig darauf würde. Seine mit leichter Hand eingestreuten Porträts von berühmten Fahrern sind pointiert. Lance Armstrong habe am radikalsten vorgeführt, was in der antiken Fabel Aktaion durchgespielt habe: Nachdem er Diana beim Bade erblickte, wurde er in einen Hirsch verwandelt, den die Hunde zerrissen. Ebendiese Verwandlung habe Armstrong, dieser zutiefst wütende Mann, vollzogen. Bis unter die Hutschnur gedopt, habe er sich von einem Muskelprotz zu einem mageren Kletterer entwickelt, der die Tour dominierte. Er sei bereits verwandelt gewesen, als er 1999 auf dem Weg zu seinem ersten Tour-Sieg die Bergetappe nach Sestrières gewonnen habe. "Ich behaupte, an diesem Tag im Ziel einen Toten gesehen zu haben", schreibt Haralambon.
Während er an Alberto Contador die Eleganz bewundert, sieht er beim aktuell unter Doping-Verdacht fahrenden Christopher Froome "stilistische Häresie". Der Engländer sei als "Stilbeispiel eine Parodie, die dem ikonischen Wert des Champions" schade - an der sportlichen Leistungsfähigkeit des Engländers zweifelt der Autor, der selbst gedopt hat, nicht. Und auch nicht am Doping-System, weil es einem "Körper unbegrenzter Möglichkeiten" verspreche und teilweise liefere, und dass die "dionysischen Monster" dieses Ziel anpeilten, sei verzeihlich.
Zu literarischen Höhen schwingt sich das Buch auf, wenn es an die Beschreibung des Pelotons geht, dessen dehnbare "Wunderhaut" Haralambon an einen chinesischen Drachen erinnert: "Das Gelände, die Straße, deren Relief das Tier abpaust, die Kehren, die ihm in den Bergen das fließende, schlangengleiche Aussehen verleihen." Haralambons Essay lohnt die Lektüre, auch wenn der hohe und streckenweise expressionistische Ton nicht mit der Ausdrucksweise des gemeinen Rennradlers korreliert.
Der findet sich gewiss bei den fünf Herren aufgehoben, die sich "Velominati" nennen und unter diesem Namen einen Blog betreiben. "Die Hüter des Ritzels" formulieren in ihrem "Kodex für Radsportjünger" ein handfestes Regelwerk - sehr direkt, ein bisschen kumpelhaft und prollig, der Ästhetik verpflichtet. Und sie bestätigen sogleich Haralambons These, die angelsächsisch-protestantische Kultur habe im Radsport die südlich-katholischen Länder abgelöst. Freilich geht damit im Weberschen Sinn eine knallharte Arbeitsethik einher - gibst du nicht jeden Tag das Äußerste auf dem Rennrad, gehörst du nicht dazu.
Man wird sich trotzdem bei der Lektüre dieser Regeln amüsieren. Sie sind das ideale Geschenk auch für Hobbyfahrer, enthalten sie doch viel ernstzunehmende Benimmregeln. Zum Glück gestatten sich Frank Strack, Brett Kennedy, John Andrews, Mark Carlson und Jim Thomson auch Selbstironie, das bewahrt sie davor, als sportreligiöse Eiferer dazustehen. Übersetzt hat das Buch Rainer Sprehe, der mit seinem Covadonga Verlag seit Jahren dicke Radsport-Regalbretter bohrt. "Die Regeln" handeln nicht nur von Verhaltensweisen im Rennen, sondern auch von praktischen Dingen wie Schnellspannhebeln (die Richtung muss stimmen), Staubkappen (weg damit), Herstellerlogos (mittig unter dem Ventil), dem Tragen von Ärmlingen (oben darf keine Haut sichtbar sein).
Über allen anderen thront die Regel 5: "Beiß verflucht noch mal auf die Zähne." Bei der Triathlongemeinde wird Regel 42 weniger gut ankommen: "Einem Radrennen sollte niemals ein Lauf vorausgehen und/oder ein Lauf folgen." Regel 72 lautet: "Beine sagen mehr als tausend Worte." Sie richtet sich an jene Zeitgenossen, die kein anderes Gesprächsthema mehr aufbringen als ihre aktuellen Trainingswerte. Denen diktieren die Velominati ins Stammbuch: Ausführungen über Wattzahlen, Pulswerte und sonstige Fahrdaten haben zu unterbleiben. "Denn die Konversation, die deine Beine führen können, ist immer beeindruckender als das, was aus deinem Mund kommt."
HANNES HINTERMEIER.
Olivier Haralambon: "Der Radrennfahrer und sein Schatten". Eine kleine Philosophie des Straßenradsports.
Aus dem Französischen von Christoph Sanders. Covadonga Verlag, Bielefeld 2018. 166 S., geb., 16,80 [Euro].
Velominati (Hrsg.): "Die Regeln". Kodex für Radsportjünger.
Aus dem Englischen von Rainer Sprehe. Covadonga Verlag, Bielefeld 2018. 307 S., br., 14,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main