Drei Selbstmorde hat es gegeben unter den Arbeitern im Atomkraftwerk. Einer der Toten ist Loïc, Yanns bester Freund, mit dem zusammen er schon seit Jahren als Zeitarbeiter im Rhythmus der jährlichen Wartungen von Reaktor zu Reaktor zieht. "Neutronenfutter" nennen sich diese Leute selbst, denn für jeden, der wegen zu hoher Strahlenbelastung ausfällt, gibt es sofort willigen Ersatz. Die Arbeiter leben im Wohnwagen oder im Hotel, vereint durch eine gewisse Solidarität, die sich aber bei der fehlenden Arbeitsplatzsicherheit und dem Stress unter der nuklearen Bedrohung schnell verbraucht. Dieser Roman macht die Bedrohung ebenso fühlbar wie die Faszination für das Kraftwerk und die Angst davor. Filhol schreibt in einem nüchternen, lakonischen Stil, der die Atmosphäre unter den Beschäftigten, die physikalischen Prozesse sowie die Arbeitsabläufe kunstvoll verdichtet. Der Reaktor ist auch ein Symbol für die Gesellschaft. Der Roman ist in Frankreich von einem großen Medienecho begleitet und mit dem Prix France Culture Télérama ausgezeichnet worden und war zeitweise auf Platz 6 der französischen Bestsellerlisten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2011Die Strahlung als Sakrament und Fluch
Das wahre Atommüll-Endlager ist die Literatur - und Kernkraftprosa kommt vor allem aus Frankreich
Dass sich die deutsche Zeitrechnung in "v. F." und "n. F." unterteilt, wobei "F." für Fukushima steht, werden die verbliebenen Kernkraftlobbyisten kaum in ein Argument für die Höchstrisikotechnologie ummünzen können. Die Reaktion lässt sich jedenfalls nicht als typisch deutsche Panik abtun, wenn man sieht, wie sehr auch im Rest der Welt der japanische Unfall, dessen Folgen noch nicht abzusehen sind, den Glauben an die kontrollierte Kernspaltung erschüttert hat. Selbst in traditionell atomverliebten Nationen sind immer weniger Menschen bereit, mit drei Köpfen herumzulaufen, ganze Städte aufzugeben und in Bleisärgen verbuddelt zu werden.
Die schnellsten künstlerischen Antworten auf den Super-GAU am Pazifik wurden denn auch nicht in Deutschland ausgebrütet, sondern aus Frankreich importiert: Zwei kleine Büchlein kommen jetzt bei uns auf den Markt, von denen eines, das literarisch wertvollere, im Original freilich bereits vor der Katastrophe erschienen ist.
Sich mit "Fukushima mon amour" den griffigsten Titel gesichert zu haben, muss man wohl dem in Frankreich lebenden Schweizer Daniel de Roulet zugestehen, wenngleich der Originaltitel, ebenfalls auf den Resnais-Film von 1959 Bezug nehmend, "Tu n'as rien vu à Fukushima" lautet. Der Text ist ein besorgter Brief des Erzählers - des Autors? - an die japanische Freundin Kayoko nur Tage nach dem Unfall, was den Verfasser gleich in die Höflichkeitsbredouille bringt: "Ja, ich wusste, dass Sie mir sagen würden, Ihr Unglück gehe uns nichts an, so als gäbe es dieses Unglück nicht." Dieser Konflikt wird durchaus thematisiert - darin besteht ja auch die Titelanspielung -, aber schließlich beiseitegewischt: "Hätten Sie doch nur recht ..."
Stattdessen gilt, ganz wie in jüngeren Empörungsmanifesten, die Devise: "Offenbar ist es an der Zeit, sich zu entrüsten." Roulet, ein Entrüstungsfachmann, der schon einen Brandanschlag auf Axel Springers Chalet bei Gstaad im Portfolio hat, greift also in die Vollen und parallelisiert einigermaßen erstaunlich "die Monumente des Wahnsinns der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts", nämlich die Konzentrationslager der Nationalsozialisten, mit jenen Tempeln "der Maßlosigkeit der zweiten Hälfte", eben den Atomanlagen: "diese befestigten Lager, manche von ganzen Batterien von Luftabwehrraketen geschützt, wie in La Hague".
Es folgen, gar nicht einmal kunstlos formuliert, zahlreiche bedenkenswerte Überlegungen über "die Arroganz der Technowissenschaft" und die Lächerlichkeit von Argumenten, "nach denen Windräder die Wolken verschmutzen". Mit Blick auf die Internationale Atomenergie-Organisation IAEO heißt es, es sei "an der Zeit, die persönliche Verantwortung dieser Gauner für all das einzufordern, was Sie jetzt durchzustehen haben". Darunter mag sich Roulet vorstellen, dass deren Chalets sich in Rauch auflösen. Nur stellt sich doch die Frage: Was soll die japanische Freundin von diesem Super-GAU des Mitgefühls denken? Vermutlich überhaupt nichts, denn sie wird recht schnell merken, dass gar nicht sie die Angesprochene dieses J'accuse ist, sondern die Welt.
Die aber sollte sich zunächst die Zeit nehmen, den exzellenten, mit dem Prix France Culture Télérama ausgezeichneten Debütroman der französischen Wirtschaftswissenschaftlerin Elisabeth Filhol zu lesen. Auch hier bildet die französische Nuklearindustrie die Kulisse, das allerdings auf eine höchst ungewöhnliche, nämlich vollkommen realistische Weise - und dazu noch im Normalbetrieb.
Die Autorin nimmt die Perspektive Yanns ein, der zum Atom-Prekariat gehört. Tausende junger Männer werden jährlich zwischen März und Oktober bei den Wartungen der Reaktoren und bei ihrer Neubestückung mit Kernbrennstoff eingesetzt, unter Vertrag bei Zeitarbeitsfirmen. Die im Schichtdienst eingesetzten Arbeiter, "Neutronenfutter" genannt, teilen sich Hütten oder Wohnwagen auf extra errichteten Campingplätzen. Die Dauer der Revision, teilt der Erzähler mit, sei in den letzten fünfzehn Jahren halbiert worden. Nur die Älteren erinnern sich noch an eine Zeit, "als Sicherheit noch das oberste Gebot war, nicht nur in den Reden, auch in den Budgets der Auftraggeber".
Wer hier anheuert, eröffnet ein Konto der ganz eigenen Art: "Das ist das Kapital, über das jeder verfügt, zwanzig Millisievert, die maximal erlaubte Strahlendosis über einen Zeitraum von zwölf Monaten. Und wenn noch so viele an vorderster Front umfallen, die Reserve ist scheinbar unerschöpflich."
Umfallen, das heißt: "die Dosis abbekommen", was einen für mindestens eine Saison arbeitsunfähig macht, natürlich ohne jede Entschädigung. Eben das ist der Hauptfigur passiert: Yann hat beim Einsatz im Primärkreislauf einen verstrahlten Gegenstand berührt, ein kleiner Störfall nur, der nun genau rekonstruiert wird. Dabei schweifen seine Gedanken immer wieder ab, hin zu seinem Freund Loïc, der ihn einst zu dieser Tätigkeit überredet hat, inzwischen aber nicht mehr lebt. Es war ein Suizid, kein Strahlenunfall, aber auch dieser Selbstmord ist nur erklärbar vor dem Hintergrund dieser eigentümlich abgeschlossenen Sphäre, in der allenfalls Zwecksolidarität, keine Freundschaft existiert. Eine Bindung zum ungreifbar fernen Energiekonzern besteht nicht, weil man sich am Ende einer langen Kette von Subunternehmen befindet. Darin nämlich besteht die Leistung dieses Romans, so kunstvoll wie lakonisch das Leben dieser Nomaden im weltenthobenen Umfeld der Reaktoren zu beschwören: "Die Zeit ist hier die Zeit des Kraftwerks, das Tag und Nacht läuft. Und die Männer laufen ebenfalls vierundzwanzig Stunden, jeder für acht Stunden, und der Rhythmus muss eingehalten werden, schließlich ist das der ureigenste Rhythmus der Zeit, direkt an der Quelle gemessen, geeicht von Atomuhren."
Warum lassen sich junge Männer darauf ein, den "Körper zu verkaufen, wie Fleisch nach dem Kilopreis"? Eine große Rolle spielt die Faszination für das, "was im Herzen des Kraftwerks vor sich geht". Sie speist sich auch aus dem fast religiös zu nennenden Gefühl, dem Geheimnis nahe zu sein, das die Welt im Inneren zusammenhält. Die auf alles übergehende Strahlung bildet das Sakrament der Atomreligion. Ihr Mysterium ist das Leuchten im Abklingbecken, der Tscherenkow-Effekt, ein "intensives Blau, beinahe übernatürlich, das jedoch weder künstlich erzeugt wird noch Fiktion ist, das Blau des Himmels über der Kasbah, leuchtend, von innen verklärt, ein Blau, das ein Künstler erfunden haben könnte, dessen chemische Formel man zum Patent hätte anmelden können, aber von einer Transparenz und einem Strahlen, für das allein die Natur aus ihrem tiefsten Inneren heraus unseren Blick zu öffnen vermag". Das Blau, das die Romantiker suchten.
Kernkraft, so erfahren wir, das ist - zumindest in Frankreich - nicht nur eine Energie-, sondern eine Lebensform, aber eine, für die es einen faustischen Pakt einzugehen gilt. Einmal tauchen im Kraftwerk Belleville-sur-Loire Umweltaktivisten auf und seilen sich von einem Kühlturm ab. Sie haben recht mit ihrer Warnung, doch wirklich solidarisch kann sich der Erzähler nicht fühlen, obwohl er zugesteht: "Ja, man ist sich der Gefährlichkeit der Atomkraft bewusst. Hinter den Mauern. Ein Schnellkochtopf." Doch man hat sich so weit darauf eingelassen, dass einem für "ein Leben außerhalb der Mauern" die Vorstellungskraft fehlt - was man nach diesen beiden Lektüren wohl durchaus auf das ganze Land hochrechnen darf.
OLIVER JUNGEN Daniel de Roulet: "Fukushima mon amour".
Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011. 48 S., br., 4,99 [Euro].
Elisabeth Filhol: "Der Reaktor". Roman.
Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2011. 128 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das wahre Atommüll-Endlager ist die Literatur - und Kernkraftprosa kommt vor allem aus Frankreich
Dass sich die deutsche Zeitrechnung in "v. F." und "n. F." unterteilt, wobei "F." für Fukushima steht, werden die verbliebenen Kernkraftlobbyisten kaum in ein Argument für die Höchstrisikotechnologie ummünzen können. Die Reaktion lässt sich jedenfalls nicht als typisch deutsche Panik abtun, wenn man sieht, wie sehr auch im Rest der Welt der japanische Unfall, dessen Folgen noch nicht abzusehen sind, den Glauben an die kontrollierte Kernspaltung erschüttert hat. Selbst in traditionell atomverliebten Nationen sind immer weniger Menschen bereit, mit drei Köpfen herumzulaufen, ganze Städte aufzugeben und in Bleisärgen verbuddelt zu werden.
Die schnellsten künstlerischen Antworten auf den Super-GAU am Pazifik wurden denn auch nicht in Deutschland ausgebrütet, sondern aus Frankreich importiert: Zwei kleine Büchlein kommen jetzt bei uns auf den Markt, von denen eines, das literarisch wertvollere, im Original freilich bereits vor der Katastrophe erschienen ist.
Sich mit "Fukushima mon amour" den griffigsten Titel gesichert zu haben, muss man wohl dem in Frankreich lebenden Schweizer Daniel de Roulet zugestehen, wenngleich der Originaltitel, ebenfalls auf den Resnais-Film von 1959 Bezug nehmend, "Tu n'as rien vu à Fukushima" lautet. Der Text ist ein besorgter Brief des Erzählers - des Autors? - an die japanische Freundin Kayoko nur Tage nach dem Unfall, was den Verfasser gleich in die Höflichkeitsbredouille bringt: "Ja, ich wusste, dass Sie mir sagen würden, Ihr Unglück gehe uns nichts an, so als gäbe es dieses Unglück nicht." Dieser Konflikt wird durchaus thematisiert - darin besteht ja auch die Titelanspielung -, aber schließlich beiseitegewischt: "Hätten Sie doch nur recht ..."
Stattdessen gilt, ganz wie in jüngeren Empörungsmanifesten, die Devise: "Offenbar ist es an der Zeit, sich zu entrüsten." Roulet, ein Entrüstungsfachmann, der schon einen Brandanschlag auf Axel Springers Chalet bei Gstaad im Portfolio hat, greift also in die Vollen und parallelisiert einigermaßen erstaunlich "die Monumente des Wahnsinns der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts", nämlich die Konzentrationslager der Nationalsozialisten, mit jenen Tempeln "der Maßlosigkeit der zweiten Hälfte", eben den Atomanlagen: "diese befestigten Lager, manche von ganzen Batterien von Luftabwehrraketen geschützt, wie in La Hague".
Es folgen, gar nicht einmal kunstlos formuliert, zahlreiche bedenkenswerte Überlegungen über "die Arroganz der Technowissenschaft" und die Lächerlichkeit von Argumenten, "nach denen Windräder die Wolken verschmutzen". Mit Blick auf die Internationale Atomenergie-Organisation IAEO heißt es, es sei "an der Zeit, die persönliche Verantwortung dieser Gauner für all das einzufordern, was Sie jetzt durchzustehen haben". Darunter mag sich Roulet vorstellen, dass deren Chalets sich in Rauch auflösen. Nur stellt sich doch die Frage: Was soll die japanische Freundin von diesem Super-GAU des Mitgefühls denken? Vermutlich überhaupt nichts, denn sie wird recht schnell merken, dass gar nicht sie die Angesprochene dieses J'accuse ist, sondern die Welt.
Die aber sollte sich zunächst die Zeit nehmen, den exzellenten, mit dem Prix France Culture Télérama ausgezeichneten Debütroman der französischen Wirtschaftswissenschaftlerin Elisabeth Filhol zu lesen. Auch hier bildet die französische Nuklearindustrie die Kulisse, das allerdings auf eine höchst ungewöhnliche, nämlich vollkommen realistische Weise - und dazu noch im Normalbetrieb.
Die Autorin nimmt die Perspektive Yanns ein, der zum Atom-Prekariat gehört. Tausende junger Männer werden jährlich zwischen März und Oktober bei den Wartungen der Reaktoren und bei ihrer Neubestückung mit Kernbrennstoff eingesetzt, unter Vertrag bei Zeitarbeitsfirmen. Die im Schichtdienst eingesetzten Arbeiter, "Neutronenfutter" genannt, teilen sich Hütten oder Wohnwagen auf extra errichteten Campingplätzen. Die Dauer der Revision, teilt der Erzähler mit, sei in den letzten fünfzehn Jahren halbiert worden. Nur die Älteren erinnern sich noch an eine Zeit, "als Sicherheit noch das oberste Gebot war, nicht nur in den Reden, auch in den Budgets der Auftraggeber".
Wer hier anheuert, eröffnet ein Konto der ganz eigenen Art: "Das ist das Kapital, über das jeder verfügt, zwanzig Millisievert, die maximal erlaubte Strahlendosis über einen Zeitraum von zwölf Monaten. Und wenn noch so viele an vorderster Front umfallen, die Reserve ist scheinbar unerschöpflich."
Umfallen, das heißt: "die Dosis abbekommen", was einen für mindestens eine Saison arbeitsunfähig macht, natürlich ohne jede Entschädigung. Eben das ist der Hauptfigur passiert: Yann hat beim Einsatz im Primärkreislauf einen verstrahlten Gegenstand berührt, ein kleiner Störfall nur, der nun genau rekonstruiert wird. Dabei schweifen seine Gedanken immer wieder ab, hin zu seinem Freund Loïc, der ihn einst zu dieser Tätigkeit überredet hat, inzwischen aber nicht mehr lebt. Es war ein Suizid, kein Strahlenunfall, aber auch dieser Selbstmord ist nur erklärbar vor dem Hintergrund dieser eigentümlich abgeschlossenen Sphäre, in der allenfalls Zwecksolidarität, keine Freundschaft existiert. Eine Bindung zum ungreifbar fernen Energiekonzern besteht nicht, weil man sich am Ende einer langen Kette von Subunternehmen befindet. Darin nämlich besteht die Leistung dieses Romans, so kunstvoll wie lakonisch das Leben dieser Nomaden im weltenthobenen Umfeld der Reaktoren zu beschwören: "Die Zeit ist hier die Zeit des Kraftwerks, das Tag und Nacht läuft. Und die Männer laufen ebenfalls vierundzwanzig Stunden, jeder für acht Stunden, und der Rhythmus muss eingehalten werden, schließlich ist das der ureigenste Rhythmus der Zeit, direkt an der Quelle gemessen, geeicht von Atomuhren."
Warum lassen sich junge Männer darauf ein, den "Körper zu verkaufen, wie Fleisch nach dem Kilopreis"? Eine große Rolle spielt die Faszination für das, "was im Herzen des Kraftwerks vor sich geht". Sie speist sich auch aus dem fast religiös zu nennenden Gefühl, dem Geheimnis nahe zu sein, das die Welt im Inneren zusammenhält. Die auf alles übergehende Strahlung bildet das Sakrament der Atomreligion. Ihr Mysterium ist das Leuchten im Abklingbecken, der Tscherenkow-Effekt, ein "intensives Blau, beinahe übernatürlich, das jedoch weder künstlich erzeugt wird noch Fiktion ist, das Blau des Himmels über der Kasbah, leuchtend, von innen verklärt, ein Blau, das ein Künstler erfunden haben könnte, dessen chemische Formel man zum Patent hätte anmelden können, aber von einer Transparenz und einem Strahlen, für das allein die Natur aus ihrem tiefsten Inneren heraus unseren Blick zu öffnen vermag". Das Blau, das die Romantiker suchten.
Kernkraft, so erfahren wir, das ist - zumindest in Frankreich - nicht nur eine Energie-, sondern eine Lebensform, aber eine, für die es einen faustischen Pakt einzugehen gilt. Einmal tauchen im Kraftwerk Belleville-sur-Loire Umweltaktivisten auf und seilen sich von einem Kühlturm ab. Sie haben recht mit ihrer Warnung, doch wirklich solidarisch kann sich der Erzähler nicht fühlen, obwohl er zugesteht: "Ja, man ist sich der Gefährlichkeit der Atomkraft bewusst. Hinter den Mauern. Ein Schnellkochtopf." Doch man hat sich so weit darauf eingelassen, dass einem für "ein Leben außerhalb der Mauern" die Vorstellungskraft fehlt - was man nach diesen beiden Lektüren wohl durchaus auf das ganze Land hochrechnen darf.
OLIVER JUNGEN Daniel de Roulet: "Fukushima mon amour".
Aus dem Französischen von Maria Hoffmann-Dartevelle. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011. 48 S., br., 4,99 [Euro].
Elisabeth Filhol: "Der Reaktor". Roman.
Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2011. 128 S., geb., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.05.2011Stress und Strahlung
In der Sache brandheiß, im Ton heruntergekühlt auf den Stil eines Rapports: Elisabeth Filhols Roman „Der Reaktor“ über die Wanderarbeiter der Atomindustrie
Frankreich ist das Land mit der innigsten Beziehung zu seinen Kernkraftwerken. 59 Reaktoren verteilen sich über das Land, aufgereiht an den Flüssen, aus denen sie ihr Wasser beziehen. An keinem Ort im Land ist man weiter als 250 Kilometer vom nächsten Kraftwerk entfernt. Und doch sind sie so gut wie unsichtbar, im Diskurs, im Bewusstsein, ja für die, die in ihrer Nähe leben, sinken sie mit der Zeit in die Landschaft zurück und werden mit ihrer lautlosen Dampffahne zu einem Teil der Natur, deren Elementarteilchen sie in ihrem Inneren in Energie verwandeln. Wie das genau passiert, weiß keiner so genau, erst recht nicht, was es mit Kohäsionskräften und Graphitgastechnik, dem Tertiärkreislauf oder der DSEA auf sich hat.
Die DSEA ist die direkte Strahlenexposition, sie darf 20 Millisievert pro Jahr nicht übersteigen. Wenn sie es doch tut, „ist man bis zur nächsten Saison aus dem Spiel“. Der da so pragmatisch spricht, Yann, der Erzähler dieses Romans, ist einer der Arbeitsnomaden, die den Sommer über als Reinigungsarbeiter kreuz und quer durch Frankreich fahren und Station machen in Orten wie Blayais, Nogent-sur-Seine, Chinon, Civaux sur la Vienne, ohne dass auch nur einer dieser Orte je greifbar würde. Wie auch, diese Arbeiter sind moderne Söldner, die sich mit sarkastischem Humor als Neutronenfutter und Remfleisch beschreiben, für drei Wochen am Rande einer Ortschaft einen Wohnwagen oder ein Mobile Home miteinander teilen, tagsüber den Reaktor säubern, nach der Schicht aufeinanderhocken, einander in tiefer Verbundenheit anschweigen und nach getaner Arbeit weiterziehen.
Die horrende Verlorenheit dieser postmodernen Nomaden, das neonnüchterne Licht, mit dem Filhol ihr Leben am äußersten Rand unserer Arbeitswelt ausleuchtet, erinnert an Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“, – inklusive Selbstmord eines Protagonisten. Ihr Umherziehen hat nichts von Freiheit, im Gegenteil, es ist ein streng durchorganisiertes, ganz auf Rentabilität ausgerichtetes Nomadentum, schließlich werden auch in der Atomwirtschaft längst die Kosten auf die Subunternehmer abgewälzt, die genau wissen, dass für jeden, der geht, zehn andere in der Schlange stehen.
Ähnlich streng durchorganisiert ist dieser Roman. Kein Wort ist darin zu viel, auf gerade mal 128 Seiten erzählt Elisabeth Filhol in ihrem Erstlingsroman, der im vergangenen Jahr in Frankreich für eine Sensation sorgte, die Geschichte ihrer Atomnomaden, ferner Nachkommen der Wanderarbeiter aus John Steinbecks „Früchte des Zorns“, nur dass hier niemand zornig wird, im Gegenteil, auf den ersten Blick wirkt es, als habe die Autorin im sicheren Wissen um die unheimliche Strahlkraft ihres Stoffes die Rhetorik runtergekühlt auf den Tonfall eines Arbeitsberichtes oder eines Noir-Krimis. Obwohl gleich zu Anfang gesagt wird, dass sich drei Arbeiter in den vergangenen sechs Monaten umgebracht haben, obwohl man ganz am Ende erfährt, dass einer der drei ein Freund des Erzählers war, der Ton dieses Buches bleibt immer nüchtern, fast gläsern.
Und Yann, der Erzähler ohne Nachnamen ist nicht empört über die Arbeitsbedingungen, sondern ärgert sich höchstens darüber, dass er dem wahnwitzigen Stress bei den gefährlichen Reinigungsaktionen nicht immer standhält und dass er nur so verdammt wenig Strahlung abbekommen darf, „das geringe Kapital an Millisievert sieht man dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne“.
Yann hat bei einem zweiminütigen Arbeitsgang die Sicherheitsscheibe einer Mutter aufgehoben, die sich, aber das wird er erst im Nachhinein, bei der minuziösen Rekonstruktion dieses Vorgangs, verstehen, „im Tank gelöst hat und nach einem längeren Aufenthalt im Herzen des Reaktors während der hydraulischen Prüfung zum Wasserkasten gewandert ist. Stark strahlend, durch die Aktivierung.“ Diese eine lockere Schraube vertrahlt ihn so stark, dass er für den Rest des Jahres aufhören muss. Im Herzen des Reaktors: Die 46-jährige Filhol, die als Finanzanalystin und Wirtschaftsprüferin bei großen Unternehmen arbeitet, lässt am Grunde ihres so betont sachlichen Textes immer wieder solche stark strahlenden Bilder entlangwandern und macht den Reaktor so mehr und mehr zum unheimlichen Lebewesen, das sich von den Arbeitern zu ernähren scheint.
Dieser Trick und ihre wissenschaftlich-soziologische Genauigkeit sind wahrscheinlich eine sehr viel bessere Taktik, ein Publikum für die lautlose, unsichtbare Gefahr der Atomindustrie zu sensibilisieren, als all die pamphletistischen Texte, die man hierzulande nach Fukushima lesen konnte.
Zugleich findet Filhol noch in dieser Todeszone Bilder von großer Schönheit, etwa wenn sie das fast übernatürliche Blau in den Abklingbecken beschreibt, das aus sich selbst heraus zu strahlen scheint, jedoch durch Partikel entsteht, „die stark energiegeladen sind, die Wände des Behälters durchdringen, und mit dem Wasser des Beckens in einer Geschwindigkeit reagieren, die höher ist als die Geschwindigkeit des Lichts im Wasser – aber niedriger als die Geschwindigkeit des Lichts im leeren Raum. Auf dem Weg dieser Partikel wird ein Lichteffekt erzeugt, ähnlich dem Toneffekt, der das Durchbrechen der Schallmauer begleitet. Ihr Eindringen löst eine Schockwelle aus. In der Luft ist das der charakteristische Knall der Überschallflugzeuge. Im Wasser ist es ein Lichtblitz im Farbspektrum von Blau und Ultraviolett.“
Es ist mit diesem Buch wie mit den Abklingbecken; die Sprache umfließt ihr stummes Sujet kühl und klar, aber gerade aus dieser kühlen Klarheit bezieht der Text sein unheimliches Leuchten. „La Centrale“ heißt das Werk im Original, was eine weitaus größere Strahlkraft hat als „Der Reaktor“, es zielt ins Zentrum, ins Zentrum der Macht und der Natur, ins Zentrum der heutigen Arbeitswelt, in der das einzige Kapital der Wanderarbeiter ihre eigene tödliche Dosis ist.
ALEX RÜHLE
ELISABETH FILHOL: Der Reaktor. Roman. Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2011. 128 Seiten, 16 Euro.
„Man sieht das geringe Kapital
an Millisievert dahinschmelzen
wie Schnee in der Sonne“
Elisabeth Filhols Roman handelt von diesem Blau: Blick in das Kühlbecken des Atomreaktors Flamanville in Westf-rankreich.
Foto: Mychele
Daniau /AFP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
In der Sache brandheiß, im Ton heruntergekühlt auf den Stil eines Rapports: Elisabeth Filhols Roman „Der Reaktor“ über die Wanderarbeiter der Atomindustrie
Frankreich ist das Land mit der innigsten Beziehung zu seinen Kernkraftwerken. 59 Reaktoren verteilen sich über das Land, aufgereiht an den Flüssen, aus denen sie ihr Wasser beziehen. An keinem Ort im Land ist man weiter als 250 Kilometer vom nächsten Kraftwerk entfernt. Und doch sind sie so gut wie unsichtbar, im Diskurs, im Bewusstsein, ja für die, die in ihrer Nähe leben, sinken sie mit der Zeit in die Landschaft zurück und werden mit ihrer lautlosen Dampffahne zu einem Teil der Natur, deren Elementarteilchen sie in ihrem Inneren in Energie verwandeln. Wie das genau passiert, weiß keiner so genau, erst recht nicht, was es mit Kohäsionskräften und Graphitgastechnik, dem Tertiärkreislauf oder der DSEA auf sich hat.
Die DSEA ist die direkte Strahlenexposition, sie darf 20 Millisievert pro Jahr nicht übersteigen. Wenn sie es doch tut, „ist man bis zur nächsten Saison aus dem Spiel“. Der da so pragmatisch spricht, Yann, der Erzähler dieses Romans, ist einer der Arbeitsnomaden, die den Sommer über als Reinigungsarbeiter kreuz und quer durch Frankreich fahren und Station machen in Orten wie Blayais, Nogent-sur-Seine, Chinon, Civaux sur la Vienne, ohne dass auch nur einer dieser Orte je greifbar würde. Wie auch, diese Arbeiter sind moderne Söldner, die sich mit sarkastischem Humor als Neutronenfutter und Remfleisch beschreiben, für drei Wochen am Rande einer Ortschaft einen Wohnwagen oder ein Mobile Home miteinander teilen, tagsüber den Reaktor säubern, nach der Schicht aufeinanderhocken, einander in tiefer Verbundenheit anschweigen und nach getaner Arbeit weiterziehen.
Die horrende Verlorenheit dieser postmodernen Nomaden, das neonnüchterne Licht, mit dem Filhol ihr Leben am äußersten Rand unserer Arbeitswelt ausleuchtet, erinnert an Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“, – inklusive Selbstmord eines Protagonisten. Ihr Umherziehen hat nichts von Freiheit, im Gegenteil, es ist ein streng durchorganisiertes, ganz auf Rentabilität ausgerichtetes Nomadentum, schließlich werden auch in der Atomwirtschaft längst die Kosten auf die Subunternehmer abgewälzt, die genau wissen, dass für jeden, der geht, zehn andere in der Schlange stehen.
Ähnlich streng durchorganisiert ist dieser Roman. Kein Wort ist darin zu viel, auf gerade mal 128 Seiten erzählt Elisabeth Filhol in ihrem Erstlingsroman, der im vergangenen Jahr in Frankreich für eine Sensation sorgte, die Geschichte ihrer Atomnomaden, ferner Nachkommen der Wanderarbeiter aus John Steinbecks „Früchte des Zorns“, nur dass hier niemand zornig wird, im Gegenteil, auf den ersten Blick wirkt es, als habe die Autorin im sicheren Wissen um die unheimliche Strahlkraft ihres Stoffes die Rhetorik runtergekühlt auf den Tonfall eines Arbeitsberichtes oder eines Noir-Krimis. Obwohl gleich zu Anfang gesagt wird, dass sich drei Arbeiter in den vergangenen sechs Monaten umgebracht haben, obwohl man ganz am Ende erfährt, dass einer der drei ein Freund des Erzählers war, der Ton dieses Buches bleibt immer nüchtern, fast gläsern.
Und Yann, der Erzähler ohne Nachnamen ist nicht empört über die Arbeitsbedingungen, sondern ärgert sich höchstens darüber, dass er dem wahnwitzigen Stress bei den gefährlichen Reinigungsaktionen nicht immer standhält und dass er nur so verdammt wenig Strahlung abbekommen darf, „das geringe Kapital an Millisievert sieht man dahinschmelzen wie Schnee in der Sonne“.
Yann hat bei einem zweiminütigen Arbeitsgang die Sicherheitsscheibe einer Mutter aufgehoben, die sich, aber das wird er erst im Nachhinein, bei der minuziösen Rekonstruktion dieses Vorgangs, verstehen, „im Tank gelöst hat und nach einem längeren Aufenthalt im Herzen des Reaktors während der hydraulischen Prüfung zum Wasserkasten gewandert ist. Stark strahlend, durch die Aktivierung.“ Diese eine lockere Schraube vertrahlt ihn so stark, dass er für den Rest des Jahres aufhören muss. Im Herzen des Reaktors: Die 46-jährige Filhol, die als Finanzanalystin und Wirtschaftsprüferin bei großen Unternehmen arbeitet, lässt am Grunde ihres so betont sachlichen Textes immer wieder solche stark strahlenden Bilder entlangwandern und macht den Reaktor so mehr und mehr zum unheimlichen Lebewesen, das sich von den Arbeitern zu ernähren scheint.
Dieser Trick und ihre wissenschaftlich-soziologische Genauigkeit sind wahrscheinlich eine sehr viel bessere Taktik, ein Publikum für die lautlose, unsichtbare Gefahr der Atomindustrie zu sensibilisieren, als all die pamphletistischen Texte, die man hierzulande nach Fukushima lesen konnte.
Zugleich findet Filhol noch in dieser Todeszone Bilder von großer Schönheit, etwa wenn sie das fast übernatürliche Blau in den Abklingbecken beschreibt, das aus sich selbst heraus zu strahlen scheint, jedoch durch Partikel entsteht, „die stark energiegeladen sind, die Wände des Behälters durchdringen, und mit dem Wasser des Beckens in einer Geschwindigkeit reagieren, die höher ist als die Geschwindigkeit des Lichts im Wasser – aber niedriger als die Geschwindigkeit des Lichts im leeren Raum. Auf dem Weg dieser Partikel wird ein Lichteffekt erzeugt, ähnlich dem Toneffekt, der das Durchbrechen der Schallmauer begleitet. Ihr Eindringen löst eine Schockwelle aus. In der Luft ist das der charakteristische Knall der Überschallflugzeuge. Im Wasser ist es ein Lichtblitz im Farbspektrum von Blau und Ultraviolett.“
Es ist mit diesem Buch wie mit den Abklingbecken; die Sprache umfließt ihr stummes Sujet kühl und klar, aber gerade aus dieser kühlen Klarheit bezieht der Text sein unheimliches Leuchten. „La Centrale“ heißt das Werk im Original, was eine weitaus größere Strahlkraft hat als „Der Reaktor“, es zielt ins Zentrum, ins Zentrum der Macht und der Natur, ins Zentrum der heutigen Arbeitswelt, in der das einzige Kapital der Wanderarbeiter ihre eigene tödliche Dosis ist.
ALEX RÜHLE
ELISABETH FILHOL: Der Reaktor. Roman. Aus dem Französischen von Cornelia Wend. Edition Nautilus, Hamburg 2011. 128 Seiten, 16 Euro.
„Man sieht das geringe Kapital
an Millisievert dahinschmelzen
wie Schnee in der Sonne“
Elisabeth Filhols Roman handelt von diesem Blau: Blick in das Kühlbecken des Atomreaktors Flamanville in Westf-rankreich.
Foto: Mychele
Daniau /AFP
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Alex Rühle zieht den französischen Originaltitel dieses schmalen Erstlingsromans von Elisabeth Filhol dem deutschen vor. "La Centrale", findet er, zielt genauer in das geheime Zentrum dieser von der Autorin so kühl wie ein Abklingbecken beschriebenen Geschichte über Arbeitsnomaden im Reaktorreinigungsgeschäft. An Michel Houellebecq erinnert der Text Rühle wegen dieses nüchternen, mitunter auch von atemberaubenden Bildern geprägten Blicks auf postmoderne Arbeitswelten am Rand der Sichtbarkeit, aber auch an die Tongebung eines Noir-Krimis. Unheimlich erscheint ihm das Beschriebene allemal, schon weil das Atom mit seiner unsichtbaren Gefahr immer präsent ist. Ein Roman, der Rühle mehr für das Thema sensibilisiert als alle Pamphlete.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH