In einer Regennacht findet ein junger Mann in den Straßen von Tokio eine Leiche – und neben ihr einen Revolver. Nishikawa nimmt die Waffe an sich und entwickelt schon nach kurzer Zeit eine unheimliche Obsession. All seine Gedanken, sein ganzes Leben kreisen um das perfekte kleine Wunderwerk. Und um die vier Kugeln, die sich noch immer in der Trommel befinden. Irgendwann ist es nicht mehr genug, die Waffe zu besitzen. Er muss sie abfeuern.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.10.2019Finger am
Abzug
Ein Student findet einen Revolver, das Ding
ergreift Besitz von ihm: Fuminori Nakamura
erzählt von Obsession und Angst
VON LOTHAR MÜLLER
Wenn zu Beginn der Held eine Leiche findet, hat sich, auch wenn sie dabei seufzt oder flucht, die Aufklärungsmaschinerie in Bewegung zu setzen. So will es das Gesetz, dem der Kriminalroman verpflichtet ist. Was aber, wenn der Roman sich für den Toten unter dem Brückenbogen am Fluss nicht sonderlich interessiert, wenn er ihn nur flüchtig inspiziert, den Tatort rasch verlässt und pflichtvergessen in den strömenden Regen und das Dunkel der Nacht zurückkehrt, aus dem er gekommen ist? Dann muss er anderes im Sinn haben als die Tat, der dieser Tote zum Opfer fiel.
Der japanische Autor Fuminori Nakamura, Jahrgang 1977, ist mit den Obsessionen und Ängsten im Bunde, mit den ausweglosen Situationen, mit der gleichgültigen Bereitwilligkeit der Großstadt, sich dem Verbrechen zur Verfügung zu stellen. Zu seinem internationalen Ruhm hat die Wertschätzung beigetragen, die er bei dem Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe genießt, auf Deutsch sind seine Romane „Der Dieb“ (2015) und „Die Maske“ (2018) erschienen. Darin gibt es Familienclans, in denen die Väter grausame Kinder heranzüchten, und die Welt des organisierten Verbrechens, der Yakuza.
In Nakamuras nun nachgereichtem Debüt „Der Revolver“, das im Original bereits 2003 erschien, gibt es das organisierte Verbrechen nur als fernen Horizont. Der Student Nishikawa, der ziellos im Regen durch das nächtliche Tokio läuft, ist ein Einzelgänger. Eine innere Spannung, deren Ursachen ihm unklar sind, treibt ihn voran. Aber sein Autor weiß, was er mit ihm vorhat. Er will ihn in sich selbst und in ein Experiment hineintreiben, bei dem der Kriminalroman zugleich die Geschichte einer Amour fou ist, einer Liebe auf den ersten Blick, die sich obsessiv entfaltet und tödlich endet, der Liebe des Studenten Nishikawa zu dem Revolver, den er bei dem Toten unter der Brücke findet: „Bisher hatte ich überhaupt kein Interesse an Waffen, aber in dem Moment, in dem ich den Revolver sah, musste ich ihn haben.“
Nur um dieser Tatwaffe willen gibt es die Leiche, nur, damit der Autor sie seinem Ich-Erzähler in die Hand drücken kann, damit die geballte Energie des Revolvers in ihn eingeht. Es ist der Beginn einer Verwandlung, die nicht wie bei Kafkas Gregor Samsa schlagartig erfolgt, sondern als unaufhaltsame, vom Coup de foudre ausgelöste Metamorphose. Im Revolver steckt der faktische Tod, den er schon gebracht hat, und der potenzielle Tod, den er künftig wird bringen können. Denn in der Trommel stecken vier Patronen.
Der Student hört gelegentlich Vorlesungen über Amerika und die „Amerikanisierung Japans“, Amerika und Waffen sind in seinem Kopf assoziativ verknüpft, und er weiß, dass in Japan strengere Waffengesetze herrschen. Aber was ist der unerlaubte Waffenbesitz, dessen er sich schuldig weiß, gegen den überwältigenden Charme des Objekts seiner Begierde? „Wie von selbst fanden alle fünf Finger ihren Platz, gaben dem Revolver und auch mir Halt. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, lag der Daumen auf dem Hahn, der Zeigefinger am Abzug, während die restlichen Finger den Griff stabilisierten. Die Berührung meiner Haut mit dem Revolver hatte eine geradezu elektrisierende Wirkung, mein ganzer Körper spannte sich an, und ich wusste, dieses Gefühl würde nie vergehen.“
Bei der Verwandlung des melancholischen Studenten Nishikawa in den nervös euphorischen Liebhaber der Tatwaffe, der, je mehr er mit dem Revolver verschmilzt, umso empfänglicher für dessen stumme Imperative wird, ihn seinem Zweck entsprechend als Tötungsinstrument zu benutzen, steht von Beginn an Dostojewskis Student Raskolnikow im Hintergrund. Aber dessen Fieberschauer, Unwohlsein und Erbleichen sind Heimsuchungen nach der Tat.
Nakamuras schmaler Roman ist ganz auf die schrittweise Annäherung an die Tat fokussiert. Erst erzwingt der Revolver den abstrakten Willen zum Töten, dann erst die Wahl des konkreten Opfers. Anders als bei Raskolnikow wächst sie nicht aus hochfahrender Selbstermächtigung des Intellektuellen heraus, sondern – wie in einem schwarzen Märchen – aus der dämonischen Macht, die das Ding über seinen scheinbaren Herrn ausübt. Der Revolver hat auch seine sexuelle Lethargie in bedenkenlose Teilnahme an den universitären Eroberungsroutinen verwandelt.
Aber weder die trancehaft-zerstreut in aufflackernde Gewalttätigkeit übergehende sexuelle Entsicherung des Helden noch seine Ausstattung mit einer Adoptionsgeschichte und einem camushaft ungerührten Besuch beim sterbenden leiblichen Vater ist die stärkste Waffe des Autors. Die klaustrophobische Verengung des Bewusstseins, den Sog und die Verlockung der Tat hat er in die „coole“ Sprache seines Ich-Erzählers verlagert. Umso greller wirken die unheimlichen Begegnungen mit der tierischen, leidenden Kreatur, die den Weg zum Ende säumen: die verstümmelten Krebse in einer Plastiktüte, das Würgen und der Blick der Katze kurz vor ihrem Tod. Hier zeigt der Debütant, was in ihm steckt. Und in der Lässigkeit, mit der er aus einem Polizeibeamten in Tokio, der einen Verdacht auf Nishikawa geworfen hat, einen so überzeugenden Nachfahren von Dostojewskis Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch macht, dass man ihm eine größere Rolle als Gegenspieler des Revolvers gern gegönnt hätte.
Fuminori Nakamura: Der Revolver. Roman. Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. Diogenes Verlag, Zürich 2019. 192 Seiten, 22 Euro.
„… mein ganzer Körper spannte
sich an, und ich wusste, dieses
Gefühl würde nie vergehen.“
1941 wurde Walter Molino Cover-Illustrator des italienischen Magazins La Domenica del Corriere und blieb es fast dreißig Jahre. Seine Cover prägten die Ästhetik des menschlichen Ausnahmezustands, des Unheils, das in das Leben unbescholtener Bürger einbricht. Die Bilder dieser Beilage stammen von ihm.
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Ein Student findet einen Revolver, das Ding
ergreift Besitz von ihm: Fuminori Nakamura
erzählt von Obsession und Angst
VON LOTHAR MÜLLER
Wenn zu Beginn der Held eine Leiche findet, hat sich, auch wenn sie dabei seufzt oder flucht, die Aufklärungsmaschinerie in Bewegung zu setzen. So will es das Gesetz, dem der Kriminalroman verpflichtet ist. Was aber, wenn der Roman sich für den Toten unter dem Brückenbogen am Fluss nicht sonderlich interessiert, wenn er ihn nur flüchtig inspiziert, den Tatort rasch verlässt und pflichtvergessen in den strömenden Regen und das Dunkel der Nacht zurückkehrt, aus dem er gekommen ist? Dann muss er anderes im Sinn haben als die Tat, der dieser Tote zum Opfer fiel.
Der japanische Autor Fuminori Nakamura, Jahrgang 1977, ist mit den Obsessionen und Ängsten im Bunde, mit den ausweglosen Situationen, mit der gleichgültigen Bereitwilligkeit der Großstadt, sich dem Verbrechen zur Verfügung zu stellen. Zu seinem internationalen Ruhm hat die Wertschätzung beigetragen, die er bei dem Literaturnobelpreisträger Kenzaburō Ōe genießt, auf Deutsch sind seine Romane „Der Dieb“ (2015) und „Die Maske“ (2018) erschienen. Darin gibt es Familienclans, in denen die Väter grausame Kinder heranzüchten, und die Welt des organisierten Verbrechens, der Yakuza.
In Nakamuras nun nachgereichtem Debüt „Der Revolver“, das im Original bereits 2003 erschien, gibt es das organisierte Verbrechen nur als fernen Horizont. Der Student Nishikawa, der ziellos im Regen durch das nächtliche Tokio läuft, ist ein Einzelgänger. Eine innere Spannung, deren Ursachen ihm unklar sind, treibt ihn voran. Aber sein Autor weiß, was er mit ihm vorhat. Er will ihn in sich selbst und in ein Experiment hineintreiben, bei dem der Kriminalroman zugleich die Geschichte einer Amour fou ist, einer Liebe auf den ersten Blick, die sich obsessiv entfaltet und tödlich endet, der Liebe des Studenten Nishikawa zu dem Revolver, den er bei dem Toten unter der Brücke findet: „Bisher hatte ich überhaupt kein Interesse an Waffen, aber in dem Moment, in dem ich den Revolver sah, musste ich ihn haben.“
Nur um dieser Tatwaffe willen gibt es die Leiche, nur, damit der Autor sie seinem Ich-Erzähler in die Hand drücken kann, damit die geballte Energie des Revolvers in ihn eingeht. Es ist der Beginn einer Verwandlung, die nicht wie bei Kafkas Gregor Samsa schlagartig erfolgt, sondern als unaufhaltsame, vom Coup de foudre ausgelöste Metamorphose. Im Revolver steckt der faktische Tod, den er schon gebracht hat, und der potenzielle Tod, den er künftig wird bringen können. Denn in der Trommel stecken vier Patronen.
Der Student hört gelegentlich Vorlesungen über Amerika und die „Amerikanisierung Japans“, Amerika und Waffen sind in seinem Kopf assoziativ verknüpft, und er weiß, dass in Japan strengere Waffengesetze herrschen. Aber was ist der unerlaubte Waffenbesitz, dessen er sich schuldig weiß, gegen den überwältigenden Charme des Objekts seiner Begierde? „Wie von selbst fanden alle fünf Finger ihren Platz, gaben dem Revolver und auch mir Halt. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, lag der Daumen auf dem Hahn, der Zeigefinger am Abzug, während die restlichen Finger den Griff stabilisierten. Die Berührung meiner Haut mit dem Revolver hatte eine geradezu elektrisierende Wirkung, mein ganzer Körper spannte sich an, und ich wusste, dieses Gefühl würde nie vergehen.“
Bei der Verwandlung des melancholischen Studenten Nishikawa in den nervös euphorischen Liebhaber der Tatwaffe, der, je mehr er mit dem Revolver verschmilzt, umso empfänglicher für dessen stumme Imperative wird, ihn seinem Zweck entsprechend als Tötungsinstrument zu benutzen, steht von Beginn an Dostojewskis Student Raskolnikow im Hintergrund. Aber dessen Fieberschauer, Unwohlsein und Erbleichen sind Heimsuchungen nach der Tat.
Nakamuras schmaler Roman ist ganz auf die schrittweise Annäherung an die Tat fokussiert. Erst erzwingt der Revolver den abstrakten Willen zum Töten, dann erst die Wahl des konkreten Opfers. Anders als bei Raskolnikow wächst sie nicht aus hochfahrender Selbstermächtigung des Intellektuellen heraus, sondern – wie in einem schwarzen Märchen – aus der dämonischen Macht, die das Ding über seinen scheinbaren Herrn ausübt. Der Revolver hat auch seine sexuelle Lethargie in bedenkenlose Teilnahme an den universitären Eroberungsroutinen verwandelt.
Aber weder die trancehaft-zerstreut in aufflackernde Gewalttätigkeit übergehende sexuelle Entsicherung des Helden noch seine Ausstattung mit einer Adoptionsgeschichte und einem camushaft ungerührten Besuch beim sterbenden leiblichen Vater ist die stärkste Waffe des Autors. Die klaustrophobische Verengung des Bewusstseins, den Sog und die Verlockung der Tat hat er in die „coole“ Sprache seines Ich-Erzählers verlagert. Umso greller wirken die unheimlichen Begegnungen mit der tierischen, leidenden Kreatur, die den Weg zum Ende säumen: die verstümmelten Krebse in einer Plastiktüte, das Würgen und der Blick der Katze kurz vor ihrem Tod. Hier zeigt der Debütant, was in ihm steckt. Und in der Lässigkeit, mit der er aus einem Polizeibeamten in Tokio, der einen Verdacht auf Nishikawa geworfen hat, einen so überzeugenden Nachfahren von Dostojewskis Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch macht, dass man ihm eine größere Rolle als Gegenspieler des Revolvers gern gegönnt hätte.
Fuminori Nakamura: Der Revolver. Roman. Aus dem Japanischen von Thomas Eggenberg. Diogenes Verlag, Zürich 2019. 192 Seiten, 22 Euro.
„… mein ganzer Körper spannte
sich an, und ich wusste, dieses
Gefühl würde nie vergehen.“
1941 wurde Walter Molino Cover-Illustrator des italienischen Magazins La Domenica del Corriere und blieb es fast dreißig Jahre. Seine Cover prägten die Ästhetik des menschlichen Ausnahmezustands, des Unheils, das in das Leben unbescholtener Bürger einbricht. Die Bilder dieser Beilage stammen von ihm.
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»Fuminori Nakamura ist der preisgekrönteste japanische Jungschriftsteller. Er schreibt magische, unterkühlte Romane. Fuminori Nakamura ist Hochliteratur. Das nächste große Literaturding nach Haruki Murakami. Das Tokioter Wunderkind.« Elmar Krekeler / Die Welt Die Welt