Nominiert für den Schweizer Buchpreis 2022 »Pass dich an, dann überlebst du«, bekommt der elfjährige Arthur Goldau zu hören, als ihn seine Mutter im Herbst 1963 im Klosterinternat hoch in den Schweizer Bergen abliefert. Hier, wo schon im September der Schnee fällt und einmal im Jahr die österreichische Exkaiserin Zita zu Besuch kommt, wird er zum »Zögling 230« und lernt, was schon Generationen vor ihm lernten. Doch das riesige Gemäuer, in dem die Zeit nicht zu vergehen, sondern ewig zu kreisen scheint, birgt ein Geheimnis: Ein immens wertvoller Diamant aus der Krone der Habsburger soll seit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie im Jahr 1918 hier versteckt sein. Während Arthur mit seinen Freunden der Spur des Diamanten folgt, die tief in die Katakomben des Klosters und der Geschichte reicht, bricht um ihn herum die alte Welt zusammen. Rose, das Dorfmädchen mit der Zahnlücke, führt Arthur in die Liebe ein, und durch die Flure weht Bob Dylans »The Times They Are a-Changin'«.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.2022Glaubens- und Gefühlsmauern
Hürlimann-Apokalypse: Mit seinem Roman "Der Rote Diamant" hat der Schweizer Schriftsteller ein Meisterwerk geschaffen.
Um Thomas Hürlimanns neuem Roman "Der Rote Diamant" nahezukommen, ist ein kleiner Umweg nötig. Er führt zu Thomas Bernhard, dem singulären Tragikomödianten unserer Literatur. Zu dessen luziden Begriffsfindungen zählt "die Lachphilosophie", naturgemäß inklusive eines entsprechenden "Lachprogramms". Bernhard veranschaulicht es an seinem Debüt- und Verzweiflungsroman "Frost" von 1963: "Wenn man ,Frost' liest zum Beispiel, das ist eigentlich alle Augenblick' hellauf zum Lachen . . . Das sagt nicht, daß ich nicht auch ernste Sätze geschrieben hab', zwischendurch, damit die Lachsätze zusammengehalten werden. Das ist der Kitt."
Die Nutzanwendung in Sachen Hürlimann lautet: Auch dieser ernste und grundmelancholische Erzähler zeigt sich in seinem neuen Buch als eminenter Lachphilosoph. Als lachphilosophischer Untergangsroman ist "Der Rote Diamant" ein Triumph. So viel Heiterkeit bei so viel Verlust. So viel Witz trotz endlosen Schreckens. So viel Humor bei permanenter Tristesse. Dieser Roman ist als Karneval der Katastrophen vor allem ein Fest des Komödiantischen. Ganz im Sinne Bernhards dürfte Hürlimann jede Menge Fenster-, Fugen- oder Glaserkitt benötigt haben, um sein Erzählgebäude irgendwie zusammenzuhalten. In beeindruckender Solidität steht es jetzt da.
Was aber geht unter? Nicht weniger als das Katholische selbst: Kirche wie Kreuz, Klosterwesen wie Katechismus, Pilgerfrömmigkeit wie Reliquienglaube. Zudem laufen die Leute einfach weg. Zwei Akteure bleiben am Ende zurück: der Vatikan, der freilich erst im allerletzten Moment auftreten darf, und die Hauptfigur des Buchs, ihrerseits eine derart heldenferne und auf unwiderstehlich liebenswerte Weise auch derart lächerliche Gestalt, dass man mit Bewunderung über ihre Durabilität, ihre Menschennähe und ihre, man kann es nicht anders sagen, metaphysische List gar nicht mehr innehalten möchte. Diese Hauptfigur heißt Arthur Goldau. Den Namen sollte man sich merken.
Als Kloster- und Ketzer-, als Mönchs- wie als Mordgeschichte erinnert "Der Rote Diamant" natürlich auch an einen der erfolgreichsten Untergangsromane der jüngeren Literatur, an Umberto Ecos "Der Name der Rose" von 1982. Bei Eco gibt es, im Kapitel "Zweiter Tag. Tertia", ein Streitgespräch über das Wesen der Komödie und, grundsätzlicher noch, über den Sinn des Lachens. Dabei versteigt sich der blinde Jorge von Burgos, der brillante Bösewicht des Buchs, zu der These, Komödien und Fabeln seien schon deshalb verwerflich, weil sie eine Erfindung der "Heiden" seien, "unser Herr Jesus" sie ebendeshalb gemieden habe. Stattdessen habe er "klare Gleichnisse" erzählt, die uns zeigten, "wie wir ins Paradies gelangen". Weil das Paradies zwar eine wahre und schöne, aber eben auch eine sehr ernste Sache sei, "hat Christus auch nie gelacht".
Hürlimann gelingt mit dem "Roten Diamanten" ein poetisches Paradox: eine Gleichniskomödie über die Suche nach Ewigkeit wie die Realität von Sterben und Tod. Diese Gleichniskomödie, weltanschaulich situiert, ist zwar postchristlich, aber keineswegs heidnisch. Wir haben es mit einem säkularen Erzähljuwel zu tun, in dem noch ein Restfunke göttlichen Lichts glimmt, schimmert, leuchtet. Selbst der Christus des Jorge von Burgos hätte beim Lesen des neuen Hürlimann zumindest gelegentlich gelacht.
Die Eingangspassage des "Roten Diamanten" ist hinreißend. Anfang Oktober 1963. Eine etwas überkandidelte, aber durchaus vornehme Offiziersgattin chauffiert ihren dreizehnjährigen Sohn über enge Passstraßen hinauf ins fast neunhundert Meter hoch gelegene Zentrum des helvetischen Katholizismus. Der Sohn: ebenjener Arthur Goldau. Er ist der Icherzähler des Romans. Seine Mutter nennt er respektvoll "Maman", burschikos aber allermeist "Mimi". Sie ruft ihn dafür ebenso zärtlich wie spitzzüngig "Arthi-Darling". Der Glaubenshort in den Bergen ist die Benediktinerabtei Einsiedeln, im Roman aus guten Gründen: "Maria zum Schnee". Die Fahrt ist hindernisreich, ein Unfall muss überlebt werden. Endlich angekommen, ruinieren Mimis Stöckelschuhe das Linoleum des Präfekten, der sich in tiefer Demut als "Bruder Frieder" tituliert.
Mimis leicht hysterischem Abgang will sich der sofort heimwehkranke Arthur anschließen, aber es ist zu spät: In Kutte und auf Sandalen wird er von nun an acht Jahre hinter festen Glaubens- und Gefühlsmauern verbringen. "Steinstadt" lautet das Romanwort für die Abtei. Architektonisch ist sie imposant, auf einschüchternde Weise sogar grandios, weshalb sie der Erzähler im weiteren Verlauf wiederholt mit dem Escorial der spanischen Könige in eins setzen wird: Palast, aber auch Mausoleum.
Es folgt ein Internatsroman, ein in der jüngeren deutschen Literatur, beginnend mit Musils "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" und Hesses "Unterm Rad" (beide 1906), höchst renommiertes Genre. Hürlimann lässt uns die Traditionslast aber nicht spüren. Mit leichter Hand schildert Arthur die Zurichtungen seiner selbst wie jene der Kameraden: mal bittere Burleske, mal grotesker Klamauk. Für diese Internatspassagen nutzt Hürlimann eigene Erfahrung und eigenes Erleben - vor zwei Jahren veröffentlichte er das Hörbuch "Einsiedeln", in dem er, fabelhaft extemporierend, seine Zeit im Klosterinternat während der Sechzigerjahre erzählt. Als erzählte Zeit verlängert "Der Rote Diamant" sein bisher bedeutendstes autobiographisches Buch ganz unmittelbar und direkt: Die wunderbare Kindheits- und Knabennovelle "Fräulein Stark" erschien 2001 und spielt im Sommer 1963, kurz vor der Klosterfahrt mit Mimi.
Zum lachphilosophischen Untergangsepos hinaufgesteigert wird "Der Rote Diamant", weil Hürlimann den Internatsroman als Basislager für einen ebenso rauschhaften wie riskanten Aufstieg auf gleich mehrere Erzählgipfel nutzt. Mal existieren sie lediglich - dafür aber majestätisch - in der Phantasie des Autors, mal fußen sie - nicht minder erhaben - auf wirklichem Geschehen. Adorno hat sinngemäß einmal geäußert, große Kunstwerke seien jene, die an ihren fragwürdigen Stellen Glück hätten. Eine formidable These, die sich am neuen Hürlimann ein ums andere Mal verifiziert. Denn beim Sturm auf die Erzählhöhen drohen jede Menge Gefahren, Plausibilitätsfallen zuallererst. Eine besonders tückische: Bruder Frieder dichtet der Roman eine Vergangenheit als Metzgergeselle aus Deutschland, als SA-Mann, als möglichen Mörder eines jüdischen Impresarios, als Stalingrad-Kämpfer und langjährigen Gefangenen in sowjetischen Lagern an. Der Praefectus maximus eines Schweizer Klosters der Nachkriegszeit: ein urgermanischer Nazi?
Dass man selbst dies schließlich akzeptiert, hängt mit einer spezifischen Hürlimann-Gabe zusammen: Dieser Autor überwältigt - durch schiere Fabulierfreude, stupende Einfälle und eine überbordende, dabei wundersam kalkuliert wirkende Konstruktionslust. Der Stiftsbibliothekar heißt "Käpt'n Silver", als wäre er samt grünem Papagei direkt Stevensons "Schatzinsel" entsprungen. Warum nicht? Zita, Habsburgs letzte Kaiserin, erleben wir beim jährlichen Klostergedenken in Einsiedeln für ihren Mann, den verstorbenen Kaiser Karl I. - im Rückblick aber auch als Aktivistin eines Putschversuchs im ungarischen Ödenburg, mit dem die K.-u.-k.-Monarchie im Handstreich restituiert werden soll, drei Jahre nach ihrem Untergang von 1918. War es nicht so? Schließlich der geheimnisumwitterte jüdische Baron namens Bruno Steiner, der ehedem die größten Sänger der Epoche in die Klosterkathedrale lockte und dem der Roman einen ebenso erschütternden wie ergreifenden Epitaph im Kurpark von Baden-Baden errichtet. Spielt es eine Rolle, was daran faktisch ist und was fiktiv?
Bleibt der titelgebende Diamant. Arthur und seine Schatzsucherbande aus dem Internat sind ihm von Anfang an auf der Spur. Als "Roter Florentiner" geistert er durch Zeit und Zeiten. Er weise, glaubt der Erzähler zu wissen, eine "sechstausendjährige Geschichte" auf, habe Cleopatras Hals geschmückt, sei im Kronschatz der Habsburger gelandet und nun - ein letztes Faustpfand der Kaiserin - irgendwo in der Abtei versteckt. In Wirklichkeit gilt der Florentiner seit Langem als verschollen - und zwar endgültig.
Das vierte und letzte Kapitel umfasst knapp siebzig Seiten und ist ohne Zweifel ein Höhepunkt gegenwärtigen Erzählens. Hürlimann, der viele Jahre lang am und fürs Theater gearbeitet hat, kennt die Stücke des Samuel Beckett naturgemäß in- und auswendig. Nun inszeniert er sein ureigenes "Endspiel". Es spielt in unserer unmittelbaren Gegenwart. Es ist traurig und trostlos: die Abtei zerfallen, die Mönche tot, das Internat verlassen. Es ist irrwitzig komisch: Die Szene, in der die längst zu alten weißen Männern mutierten Ex-Zöglinge bei ihrer finalen Schatzsuche einen Denkfehler machen und Käpt'n Silvers Bibliotheks-Papagei einen Altar in die Luft jagt: Diese Szene sollte jeder kennen und dürfte keiner je vergessen. Lachphilosophischer Untergang in Vollendung. Arthur Goldau kann danach getrost zur Audienz in den Vatikan aufbrechen. JOCHEN HIEBER
Thomas Hürlimann: "Der Rote Diamant". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 317 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hürlimann-Apokalypse: Mit seinem Roman "Der Rote Diamant" hat der Schweizer Schriftsteller ein Meisterwerk geschaffen.
Um Thomas Hürlimanns neuem Roman "Der Rote Diamant" nahezukommen, ist ein kleiner Umweg nötig. Er führt zu Thomas Bernhard, dem singulären Tragikomödianten unserer Literatur. Zu dessen luziden Begriffsfindungen zählt "die Lachphilosophie", naturgemäß inklusive eines entsprechenden "Lachprogramms". Bernhard veranschaulicht es an seinem Debüt- und Verzweiflungsroman "Frost" von 1963: "Wenn man ,Frost' liest zum Beispiel, das ist eigentlich alle Augenblick' hellauf zum Lachen . . . Das sagt nicht, daß ich nicht auch ernste Sätze geschrieben hab', zwischendurch, damit die Lachsätze zusammengehalten werden. Das ist der Kitt."
Die Nutzanwendung in Sachen Hürlimann lautet: Auch dieser ernste und grundmelancholische Erzähler zeigt sich in seinem neuen Buch als eminenter Lachphilosoph. Als lachphilosophischer Untergangsroman ist "Der Rote Diamant" ein Triumph. So viel Heiterkeit bei so viel Verlust. So viel Witz trotz endlosen Schreckens. So viel Humor bei permanenter Tristesse. Dieser Roman ist als Karneval der Katastrophen vor allem ein Fest des Komödiantischen. Ganz im Sinne Bernhards dürfte Hürlimann jede Menge Fenster-, Fugen- oder Glaserkitt benötigt haben, um sein Erzählgebäude irgendwie zusammenzuhalten. In beeindruckender Solidität steht es jetzt da.
Was aber geht unter? Nicht weniger als das Katholische selbst: Kirche wie Kreuz, Klosterwesen wie Katechismus, Pilgerfrömmigkeit wie Reliquienglaube. Zudem laufen die Leute einfach weg. Zwei Akteure bleiben am Ende zurück: der Vatikan, der freilich erst im allerletzten Moment auftreten darf, und die Hauptfigur des Buchs, ihrerseits eine derart heldenferne und auf unwiderstehlich liebenswerte Weise auch derart lächerliche Gestalt, dass man mit Bewunderung über ihre Durabilität, ihre Menschennähe und ihre, man kann es nicht anders sagen, metaphysische List gar nicht mehr innehalten möchte. Diese Hauptfigur heißt Arthur Goldau. Den Namen sollte man sich merken.
Als Kloster- und Ketzer-, als Mönchs- wie als Mordgeschichte erinnert "Der Rote Diamant" natürlich auch an einen der erfolgreichsten Untergangsromane der jüngeren Literatur, an Umberto Ecos "Der Name der Rose" von 1982. Bei Eco gibt es, im Kapitel "Zweiter Tag. Tertia", ein Streitgespräch über das Wesen der Komödie und, grundsätzlicher noch, über den Sinn des Lachens. Dabei versteigt sich der blinde Jorge von Burgos, der brillante Bösewicht des Buchs, zu der These, Komödien und Fabeln seien schon deshalb verwerflich, weil sie eine Erfindung der "Heiden" seien, "unser Herr Jesus" sie ebendeshalb gemieden habe. Stattdessen habe er "klare Gleichnisse" erzählt, die uns zeigten, "wie wir ins Paradies gelangen". Weil das Paradies zwar eine wahre und schöne, aber eben auch eine sehr ernste Sache sei, "hat Christus auch nie gelacht".
Hürlimann gelingt mit dem "Roten Diamanten" ein poetisches Paradox: eine Gleichniskomödie über die Suche nach Ewigkeit wie die Realität von Sterben und Tod. Diese Gleichniskomödie, weltanschaulich situiert, ist zwar postchristlich, aber keineswegs heidnisch. Wir haben es mit einem säkularen Erzähljuwel zu tun, in dem noch ein Restfunke göttlichen Lichts glimmt, schimmert, leuchtet. Selbst der Christus des Jorge von Burgos hätte beim Lesen des neuen Hürlimann zumindest gelegentlich gelacht.
Die Eingangspassage des "Roten Diamanten" ist hinreißend. Anfang Oktober 1963. Eine etwas überkandidelte, aber durchaus vornehme Offiziersgattin chauffiert ihren dreizehnjährigen Sohn über enge Passstraßen hinauf ins fast neunhundert Meter hoch gelegene Zentrum des helvetischen Katholizismus. Der Sohn: ebenjener Arthur Goldau. Er ist der Icherzähler des Romans. Seine Mutter nennt er respektvoll "Maman", burschikos aber allermeist "Mimi". Sie ruft ihn dafür ebenso zärtlich wie spitzzüngig "Arthi-Darling". Der Glaubenshort in den Bergen ist die Benediktinerabtei Einsiedeln, im Roman aus guten Gründen: "Maria zum Schnee". Die Fahrt ist hindernisreich, ein Unfall muss überlebt werden. Endlich angekommen, ruinieren Mimis Stöckelschuhe das Linoleum des Präfekten, der sich in tiefer Demut als "Bruder Frieder" tituliert.
Mimis leicht hysterischem Abgang will sich der sofort heimwehkranke Arthur anschließen, aber es ist zu spät: In Kutte und auf Sandalen wird er von nun an acht Jahre hinter festen Glaubens- und Gefühlsmauern verbringen. "Steinstadt" lautet das Romanwort für die Abtei. Architektonisch ist sie imposant, auf einschüchternde Weise sogar grandios, weshalb sie der Erzähler im weiteren Verlauf wiederholt mit dem Escorial der spanischen Könige in eins setzen wird: Palast, aber auch Mausoleum.
Es folgt ein Internatsroman, ein in der jüngeren deutschen Literatur, beginnend mit Musils "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" und Hesses "Unterm Rad" (beide 1906), höchst renommiertes Genre. Hürlimann lässt uns die Traditionslast aber nicht spüren. Mit leichter Hand schildert Arthur die Zurichtungen seiner selbst wie jene der Kameraden: mal bittere Burleske, mal grotesker Klamauk. Für diese Internatspassagen nutzt Hürlimann eigene Erfahrung und eigenes Erleben - vor zwei Jahren veröffentlichte er das Hörbuch "Einsiedeln", in dem er, fabelhaft extemporierend, seine Zeit im Klosterinternat während der Sechzigerjahre erzählt. Als erzählte Zeit verlängert "Der Rote Diamant" sein bisher bedeutendstes autobiographisches Buch ganz unmittelbar und direkt: Die wunderbare Kindheits- und Knabennovelle "Fräulein Stark" erschien 2001 und spielt im Sommer 1963, kurz vor der Klosterfahrt mit Mimi.
Zum lachphilosophischen Untergangsepos hinaufgesteigert wird "Der Rote Diamant", weil Hürlimann den Internatsroman als Basislager für einen ebenso rauschhaften wie riskanten Aufstieg auf gleich mehrere Erzählgipfel nutzt. Mal existieren sie lediglich - dafür aber majestätisch - in der Phantasie des Autors, mal fußen sie - nicht minder erhaben - auf wirklichem Geschehen. Adorno hat sinngemäß einmal geäußert, große Kunstwerke seien jene, die an ihren fragwürdigen Stellen Glück hätten. Eine formidable These, die sich am neuen Hürlimann ein ums andere Mal verifiziert. Denn beim Sturm auf die Erzählhöhen drohen jede Menge Gefahren, Plausibilitätsfallen zuallererst. Eine besonders tückische: Bruder Frieder dichtet der Roman eine Vergangenheit als Metzgergeselle aus Deutschland, als SA-Mann, als möglichen Mörder eines jüdischen Impresarios, als Stalingrad-Kämpfer und langjährigen Gefangenen in sowjetischen Lagern an. Der Praefectus maximus eines Schweizer Klosters der Nachkriegszeit: ein urgermanischer Nazi?
Dass man selbst dies schließlich akzeptiert, hängt mit einer spezifischen Hürlimann-Gabe zusammen: Dieser Autor überwältigt - durch schiere Fabulierfreude, stupende Einfälle und eine überbordende, dabei wundersam kalkuliert wirkende Konstruktionslust. Der Stiftsbibliothekar heißt "Käpt'n Silver", als wäre er samt grünem Papagei direkt Stevensons "Schatzinsel" entsprungen. Warum nicht? Zita, Habsburgs letzte Kaiserin, erleben wir beim jährlichen Klostergedenken in Einsiedeln für ihren Mann, den verstorbenen Kaiser Karl I. - im Rückblick aber auch als Aktivistin eines Putschversuchs im ungarischen Ödenburg, mit dem die K.-u.-k.-Monarchie im Handstreich restituiert werden soll, drei Jahre nach ihrem Untergang von 1918. War es nicht so? Schließlich der geheimnisumwitterte jüdische Baron namens Bruno Steiner, der ehedem die größten Sänger der Epoche in die Klosterkathedrale lockte und dem der Roman einen ebenso erschütternden wie ergreifenden Epitaph im Kurpark von Baden-Baden errichtet. Spielt es eine Rolle, was daran faktisch ist und was fiktiv?
Bleibt der titelgebende Diamant. Arthur und seine Schatzsucherbande aus dem Internat sind ihm von Anfang an auf der Spur. Als "Roter Florentiner" geistert er durch Zeit und Zeiten. Er weise, glaubt der Erzähler zu wissen, eine "sechstausendjährige Geschichte" auf, habe Cleopatras Hals geschmückt, sei im Kronschatz der Habsburger gelandet und nun - ein letztes Faustpfand der Kaiserin - irgendwo in der Abtei versteckt. In Wirklichkeit gilt der Florentiner seit Langem als verschollen - und zwar endgültig.
Das vierte und letzte Kapitel umfasst knapp siebzig Seiten und ist ohne Zweifel ein Höhepunkt gegenwärtigen Erzählens. Hürlimann, der viele Jahre lang am und fürs Theater gearbeitet hat, kennt die Stücke des Samuel Beckett naturgemäß in- und auswendig. Nun inszeniert er sein ureigenes "Endspiel". Es spielt in unserer unmittelbaren Gegenwart. Es ist traurig und trostlos: die Abtei zerfallen, die Mönche tot, das Internat verlassen. Es ist irrwitzig komisch: Die Szene, in der die längst zu alten weißen Männern mutierten Ex-Zöglinge bei ihrer finalen Schatzsuche einen Denkfehler machen und Käpt'n Silvers Bibliotheks-Papagei einen Altar in die Luft jagt: Diese Szene sollte jeder kennen und dürfte keiner je vergessen. Lachphilosophischer Untergang in Vollendung. Arthur Goldau kann danach getrost zur Audienz in den Vatikan aufbrechen. JOCHEN HIEBER
Thomas Hürlimann: "Der Rote Diamant". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2022. 317 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
Rezensent Christoph Schröder kann sich für Thomas Hürlimanns Roman begeistern. Der Autor vermischt hier Fiktion und Autobiografie, wenn er von den Beobachtungen des elfjährigen Arthur Goldaus berichtet, der im Spätsommer 1963 in einer bedrückenden, schmucklos leeren Klosterschule in den Schweizer Bergen abgeliefert wird, erklärt Schröder. Die teilweise monströsen oder skurrilen Charaktere sind dem Rezensenten zufolge scharf gezeichnet, jedes noch so unwichtig erscheinende Detail ergibt an irgendeinem Punkt des Romans Sinn. Schröder registriert ebenso erschütternde wie bewundernswerte Passagen, die Handlung wandle sich zeitweise sogar zu einem spannenden, philosophischen Abenteuer inklusive Schatzsuche und einem spektakulären Showdown. So bleibt dem Rezensenten gar nichts anderes übrig, als diesen "atemberaubend guten, hochintelligenten Roman" dieses lebenserfahrenen, reifen Autors weiterzuempfehlen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Es scheint, dass der Autor vor allem die geniale sprachliche Gabe besitzt, seine skurrilen Figuren ungemein witzig zu beschreiben. Christine Westermann Stern 20230112
Rezensent Christoph Schröder kann sich für Thomas Hürlimanns Roman begeistern. Der Autor vermischt hier Fiktion und Autobiografie, wenn er von den Beobachtungen des elfjährigen Arthur Goldaus berichtet, der im Spätsommer 1963 in einer bedrückenden, schmucklos leeren Klosterschule in den Schweizer Bergen abgeliefert wird, erklärt Schröder. Die teilweise monströsen oder skurrilen Charaktere sind dem Rezensenten zufolge scharf gezeichnet, jedes noch so unwichtig erscheinende Detail ergibt an irgendeinem Punkt des Romans Sinn. Schröder registriert ebenso erschütternde wie bewundernswerte Passagen, die Handlung wandle sich zeitweise sogar zu einem spannenden, philosophischen Abenteuer inklusive Schatzsuche und einem spektakulären Showdown. So bleibt dem Rezensenten gar nichts anderes übrig, als diesen "atemberaubend guten, hochintelligenten Roman" dieses lebenserfahrenen, reifen Autors weiterzuempfehlen.
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Ein aberwitzig-schräger, absolut empfehlenswerter Roman Klaus Hübner Münchner Feuilleton 20221213