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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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Miljenko Jergovics Roman "Der rote Jaguar"
Autos und pensionierte Offiziere der jugoslawischen Volksarmee, das sind oft Protagonisten der Romane von Miljenko Jergovic, und so ist es auch in seinem neuesten Werk, "Der rote Jaguar": Der Berufssoldat Starovic (dass er einen Vornamen hat, findet nur beiläufig Erwähnung) wird 1985 im Generalsrang pensioniert und setzt sich in Sarajevo zur Ruhe. Sechs Jahre später zerfällt der gemeinsame Staat der Südslawen, dem er aus Überzeugung gedient hatte. Starovic wird das Land unter den Füßen weggezogen. Er will Jugoslawe sein, doch die Zeit reduziert ihn wider Willen auf eine scheinbar simplere Identität, auf eine Definition von sich selbst, die er hinter sich gelassen zu haben glaubte: Der Krieg macht ihn in den Augen der anderen wieder zum Serben. Starovic empfindet sich fortan als heimatlos, "weil er auf das, was nicht mehr ist, einen Eid geschworen habe und weil er für das, was nicht mehr ist, General gewesen sei", wie Jergovic ihn sagen lässt. Dass Jergovic (wo wir schon bei scheinbar simplen Identitäten sind: ein in Sarajevo geborener kroatischer Schriftsteller, der bei Zagreb lebt) unter anderem aus der Perspektive von Serben erzählt, die im Krieg in Bosniens geschundener Hauptstadt blieben, ist einer der vielen Kniffe dieses Buches. Es wird selten thematisiert, dass im belagerten Sarajevo, das fast vier Jahre lang von Soldaten des serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladic beschossen wurde, auch Serbinnen und Serben ausharrten.
Indem Sarajevo aus einer solchen Perspektive erzählt wird, bekommt die Stadt eine Färbung, die sie besonders in der ausländischen Wahrnehmung sonst kaum hat. Aus der Ferne wird Sarajevo oft als multiethnische und multireligiöse Metropole geschildert, als "Europas Jerusalem" oder (einstige) "Wunderstadt", wie Dzevad Karahasan sie genannt hat. Jergovics Sarajevo ist anders - eine Stadt, in der es "nicht mehr egal war, ob du Ahmo oder Zoran, Borka oder Fata heißt". Starovic ist, "wie jeder Sarajevoer Serbe, der in der Stadt geblieben war, ein bisschen schlimmer dran als der Durchschnitt".
Seine Tochter und deren Mann, aus dessen Perspektive das Buch zum Teil erzählt ist, haben die Stadt deshalb nach dem Krieg verlassen und leben in Wien. In Sarajevo seien sie nämlich stellvertretend für alles verantwortlich gemacht worden "was Serben Muslimen antaten, in Srebrenica, Prijedor, Sarajevo". Daran änderte auch der Umstand nichts, das beide "während des Krieges in einer übrigens mächtig überschätzten Wirklichkeit in Sarajevo lebten, in Reichweite serbischer Sniper und Granatwerfer", heißt es an anderer Stelle. "Denn als Serben sind wir nicht nur schuld an allem, das Muslimen angetan wurde, haben nicht nur den Tod der in Srebrenica, Prijedor und Sarajevo ermordeten Muslime ebenso zu verantworten wie das Leid der überlebenden Muslime von Srebrenica, Prijedor und Sarajevo, nein, wir sind auch für das Leid der Muslime verantwortlich, die aus München, Ankara oder Riad auf das schauten, was in Srebrenica, Prijedor und Sarajevo geschah, die sich von Amerika, Australien oder Arabien aus in das Leid ihrer Brüder und Glaubensgenossen einfühlten."
Für Serben scheint in der Leidensgeschichte Sarajevos kein Platz zu sein. "Jeder Muslim, ganz gleich, ob bosnischer, türkischer, arabischer oder malaysischer Muslim, ganz gleich, ob er Bosnisch oder Arabisch spricht, Bier trinkt oder Biertrinkern den Kopf abhackt", könne sich auf das muslimische Leid im belagerten Sarajevo berufen, doch den (wenigen) in der Stadt gebliebenen Serben werde das nicht zugestanden, konstatiert Jergovics Erzähler. Belagert und beschossen wie alle anderen, gehörten sie im Krieg zur Masse der Eingeschlossenen, seien aber "wie alle Serben nach dem Krieg von Muslimen aus Sarajevo vertrieben" worden, "weil sie uns nicht mehr brauchten, um der Welt ihr angeborenes Merhamet und ihre Toleranz zu beweisen". So leben die Kinder des Generals also in Wien, verharren dort aber, obschon beruflich erfolgreich, in einem emotionalen Niemandsland. Für sie bleibt das versunkene Jugoslawien eine Realität, "zusammengesetzt aus mehreren Ängsten".
Jergovics Roman kreist um die Unbehaustheit der Emigrierten und die Vielschichtigkeit ihrer Identitäten, die komplizierter sind als eine Fahne, eine Hymne oder ein Reisepass. Dieser Roman ist so auch eine Variation von Ivo Andrics Spätwerk "Omer Pascha Latas". Dort macht ein fahnenflüchtiger habsburgischer Kadett Karriere im Osmanischen Reich, träumt aber noch als alter Mann davon, sein Ruhm möge nicht in Istanbul oder Sarajevo, sondern in Wien anerkannt werden. Bei Jergovic ist es umgekehrt. Ein bosnischer Flüchtling macht Karriere in Österreich und sehnt sich nach Sarajevo zurück: "Der ganze Wiener Ruhm galt ihm nichts im Vergleich zu dem trübselig-schwermütigen Ruhm in der Bascarsija und in Marijin Dvor."
Ein zweiter Erzählstrang, der erst am Ende mit dem ersten zusammengeführt wird, handelt von einem kroatischen Freischärler, einem Kriegsverbrecher, der ein brutaler Mörder und zugleich ein sanft-liebender Vater seines geistig behinderten Sohnes ist. Dieser Teil des Romans ist auch eine Satire auf das heutige Kroatien, "einer primitiven, chauvinistischen, katholisch-balkanischen Kultur", wie es bei Jergovic heißt. Namentlich nicht genannt und doch unschwer zu erkennen, tritt die frühere kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic auf, als deren bedeutendste politische Leistung in Erinnerung blieb, dass sie nach Kroatiens Niederlage im verregneten Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Moskau, ein klatschnasses Trikot der kroatischen Nationalmannschaft tragend, jeden Spieler ihres Landes herzte, der sich nicht beizeiten in Sicherheit gebracht hatte. Jergovic erwähnt diese Szene beiläufig und porträtiert die Präsidentin als chauvinistische Schreckschraube an der Spitze eines Staates im nationalistischen Fieberwahn. Dabei mischt er im Stil einer vermeintlichen Dokumentation ständig Fiktives und Reales. Den Journalisten Rathfelder von der "taz" etwa, der in der Geschichte als Geldbriefträger auftaucht, gibt es wirklich, ebenso wie den bei Ajax Amsterdam spielenden Fußballprofi Dusan Tadic, den Jergovic ein Tor in einer Partie Serbiens gegen Kroatien erzielen lässt. Dass Dusan Tadic zudem der Name des Serben ist, gegen den wegen "ethnischer Säuberungen" und anderer Schandtaten in Bosnien das erste Urteil des Haager Kriegsverbrechertribunals erging, muss man nicht wissen, um dieser Satire folgen zu können.
Das alles ist im furiosen Stil des begnadeten Erzählers Jergovic geschrieben, und doch ist "Der Rote Jaguar" wohl nicht geeignet als Einstiegslektüre in sein Werk. Wer die Schauplätze dieses Romans nicht gut kennt, dürfte hier und da ratlos zurückbleiben angesichts von Namen und Anspielungen, die im außerjugosphärischen Kontext unbekannt sind. Dass "Teritorijalci" regionale Militäreinheiten zur Landesverteidigung waren, Kosevo ein Stadtteil Sarajevos ist und Bijelo dugme (Weißer Knopf) der Name einer in Jugoslawien bekannten Rockband war, hätte sich durch ein Glossar aufklären lassen, wird so aber zumindest jenen, die nicht alle paar Buchseiten eine Internetrecherche anstellen wollen, verschlossen bleiben. Insgesamt aber ist es wie stets bei Jergovic: Die Geschichten wuchern und sprießen wie ein verwilderter Garten in einem fruchtbaren Landstrich. Wer dort war, will unbedingt wiederkommen. MICHAEL MARTENS
Miljenko Jergovic: "Der rote Jaguar". Roman.
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling Verlag, Frankfurt 2021. 192 S., geb., 22,- Euro.
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