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Stellvertreter des Unheimlichen auf Erden: E. T. A. Hoffmanns "Sandmann" lässt das Bild des Sandmännchens ins Schauerliche kippen. Der Leser allerdings hat dabei vor allem den Spaß, zwischen Dämonie und Verstand hin- und hergerissen zu werden.
Eine schnelle, fast überstürzte Dynamik hatte um 1800 das Bild vom Künstler ergriffen. Zunächst war es in der Frühromantik, in Tiecks "Franz Sternbalds Wanderungen", in seinen gemeinsam mit Wackenroder verfassten "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders", auch in dem Ofterdingen-Roman von Novalis, eine Frömmigkeitsrhetorik, die auf die Kunstübung projiziert wurde. Ein Missverständnis, womöglich auch ein Selbstmissverständnis dieser Autoren war es aber, hier schon von einer positiven Wende zum Glauben zu sprechen - ging es doch eher um eine Aufwertung des Ästhetischen, die sich der Sprache, der Formeln des Glaubens bediente. Der Bildungs- und Künstlerroman schuf sich damit eine intellektuelle Spannung und Höhe, die ihn von der bloßen Unterhaltungsliteratur absetzte und wahrscheinlich unser Bild der autonomen Kunst bis heute prägt.
War diese Position aber einmal erreicht, dann ließ sie sich nicht mehr steigern. Vielmehr kippte sie. Alles Künstlerische oder auch nur Kunsthandwerkliche, alles, was überhaupt mit einem entschiedenen Werkbegriff zu tun hatte, nahm bei E. T. A. Hoffmann die Züge des Dämonischen an. Manchmal - in dem Märchen "Nussknacker und Mausekönig" - nur in der liebenswürdigen Bizarrerie und kauzigen Sonderlingsart des Paten Drosselmeier; in anderen Erzählungen, wie im "Fräulein von Scuderi", erwächst aus der atemberaubenden Schönheit der Geschmeide, die der Juwelier Cardillac anfertigt, ein Mordmotiv. Das Unheimliche zirkuliert in Hoffmanns Geschichten nicht irgendwo und -wie, sondern nur dort, wo Künstler und Werke auftauchen.
So ist es nun auch im "Sandmann". Das Werk freilich, dem sich Nathanaels Vater und der sinistre Coppelius widmen, ist das alchemistische. Wie überhaupt hier nicht die autonome Kunst, sondern eine Sphäre des gesteigerten, ans Magische herangerückten künstlichen Handwerks das Dämonische ausbrütet. Vor Coppelius hatte Nathanael als kleiner Junge furchtbare Angst ausstehen müssen, weil er ihn mit dem Sandmann gleichsetzte, von dem ihm die Kinderfrau erzählt hatte: Dieser reiße Kindern die Augen aus und verfüttere sie an seinen Nachwuchs auf dem Mond.
Die Motive kehren verwandelt wieder. Den fatalen Coppelius wähnt Nathanael später wiederzutreffen, nun tritt er unter dem Namen Coppola auf und verkauft dem Studenten ein Fernrohr. Die Augen der schönen Olimpia, in die Nathanael sich verguckt, sind ein mechanisch-künstliches Werk des Professors Spalanzani. Am Ende stürzt sich Nathanael, der keine Täuschung mehr von der Wahrheit zu unterscheiden vermag, von einem Turm.
Die Edition ist ungemein schön bearbeitet und auch dem Auge beim Lesen angenehm. Nur wird man eines nicht verkennen dürfen: Aus dem großen, revolutionären Projekt der Editionsphilologie, das mit der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe in den siebziger Jahren begann, ist man nun bei den nachrevolutionären Mühen der Ebenen angelangt. Ein grundsätzlich neues Hoffmann-Bild steht nicht ins Haus. Die Handschrift, getreu transkribiert, zeigt alle Zeichen der flüssigen und regelmäßigen Arbeit, hie und da finden sich Korrekturen von Hoffmanns Hand, nicht besonders dramatische übrigens, eher sind es Präzisierungen. Kein aufgewühltes Text-Unwetter wie im Falle Hölderlin, das in dramatisch-fragmentarische Schriftbilder mündet und selbst in der Transkription dem Leser das Rätsel nicht löst, sondern es nur steigert - hier, bei Hoffmann, sehen wir einen Juristen redlich bei der Arbeit. Das hat auch damit zu tun - die Herausgeberin Kaltërina Latifi weist darauf hin -, dass es stets mehrere Arbeitsgänge gab, neue Abschriften, bei denen dann weiter gefeilt wurde. Der Arbeitsprozess also, den diese Edition schön und nachvollziehbar dokumentiert, scheint in sich gleichsam professionalisiert und damit auch insgesamt viel ruhiger.
Ein Nachwort, in dem die Herausgeberin zur Interpretation ansetzt, ist sorgfältig gearbeitet und das philologische Ethos nicht zu verkennen. Kaltërina Latifi weist auf die mehrfache Bewegung von Täuschung und Entzauberung hin, die sich im Leser dieser Erzählung ereignet: "Hoffmann integriert den Erzähler als eine täuschende Falle in den Lauf der Erzählung." Im Nachhinein, so zitiert sie Manfred Momberger, werde dem bereits Erzählten ein anderer Status zugewiesen. Kierkegaards Gedanken zur "indirekten Mitteilung" sind sehr zu Recht aufgerufen. Und dann führen diese Bewegungen auch wieder zu dem Hauptmotiv der Augen zurück und dem Sandmännchen, das etwas in die Augen streut. Das ist alles sehr klug ausgeführt, vor allem dort, wo es um die Form des Erzählens geht, die nicht kontinuierlich voranschreitet, sondern sozusagen von Dementi zu Dementi.
Nur eine Frage tritt gar nicht in den Umkreis dieser Interpretation: die nach dem komischen Effekt, den die Erzählung beim Leser ja auch macht. Man muss nicht nur an Nathanaels Liebeswahn denken, der ihn zu der mechanischen Puppe Olimpia ergriffen hat. Die kann immer nur "Ach, ach" sagen, dem Studenten aber wird's ein Zeugnis ihres innigsten Fühlens. Und erst ihre Augen - wie tief bedeutungsvoll schauen sie ihn nicht an! Die Interpretation der Herausgeberin aber folgt durchweg einem gewissen zähen Ernst und verfehlt damit doch mindestens ein Moment der Lektüreerfahrung. Die Tendenz der Arbeit aber wird damit nur klarer. Hier hat sich die Editionsphilologie mit einer von Derrida herstammenden Buchstäblichkeits-Emphase verbunden, und tatsächlich heißt es am Ende, man lese den "Sandmann" als "Inbegriff aller vorkommenden Buchstaben". Und das soll die seit zwei Jahrhunderten ungebrochene Popularität dieser Erzählung begründen?
LORENZ JÄGER
E. T. A. Hoffmann: "Der Sandmann".
Historisch-kritische Edition. Hrsg. von Kaltërina Latifi. Verlag Stroemfeld, Frankfurt am Main 2012, br., 194 S., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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