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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Was ist es, das uns an manchen Fotos und Filmen so stark berührt? Helmut Lethen spürt der Macht des Unheimlichen nach.
Dies ist keine Medientheorie, auch keine Theorie der Fotografie, des Films oder der Medienkunst. Von alledem ist bei dem Germanisten Helmut Lethen zwar die Rede, aber der Autor ist auf einer anderen Spur: "Irgendwie scheint dieses Buch dem Muster eines Bildungsromans zu folgen, wenn es die verschiedenen Stadien meines Nachdenkens in den letzten drei Jahrzehnten durchläuft." Ein richtiger Bildungsroman ist es dann glücklicherweise auch nicht geworden, denn der hat ja an sich, dass er viel mehr Sinn transportiert, als das Leben bereithält. Nennen wir das Ganze also eine Sammlung von Erzählungen. Ihr gemeinsames Motiv ist die Frage, was uns an Bildern berührt.
"Vom Mordgerücht zum Film, von der Geschichtsschreibung zur Ausstellung - Medien bildeten für mich den Königsweg zum Unheimlichen." Lethen erzählt von der Fähigkeit bloßer Indizien, Angst zu erzeugen. Fotografien sind solche Indizien dafür, dass sich zugetragen hat, was sie zeigen. Dabei weiß Lethen durchaus, dass es sich immer um "Unheimlichkeiten aus zweiter Hand" handelt. Die meisten Medientheorien nähren den Verdacht, dass hinter den Bildern oder in ihrer Tiefe ihr eigentliches Wesen versteckt sei, dass man aber andererseits nicht so naiv sein dürfe zu glauben, "es gäbe sie, die Wirklichkeit, wirklich".
Die Erzählungen des vorliegenden Buches kreisen um diese Verdachtskultur einerseits und die Sehnsucht nach Wirklichkeit, wie sie sich etwa in Siegfried Kracauers "Theorie des Films" und in Roland Barthes' letztem Buch "Die helle Kammer" ausdrückt. Lethen erinnert sich an Fotografien wie Filme, die tiefen Eindruck auf ihn und andere gemacht haben, und geht ihrer Entstehung nach. Wie konnte es sein, dass die Werke des italienischen Neo-Realismus (de Sica, Rossellini, Visconti) für eine ganze Generation erschlossen, was Italien sei - obwohl sie doch nur ein halbes Prozent der italienischen Filmproduktion jener Jahre ausmachten? Wie entsteht der Eindruck, "So ist es gewesen", durch Fotografien, die in der Dunkelkammer falsch entwickelt wurden, wie Robert Capas berühmtes Bild von der Landung der Alliierten 1944?
An einer Performance der Künstlerin Marina Abramovic aus dem Jahr 1977 in Bologna zeigt Lethen, was Berührung durch Kunst im Extremfall heißen kann. Abramovic hatte sich mit ihrem Freund nackt in die schmale Eingangstür zur Galerie gestellt, so dass für das Publikum beim Eintritt die Berührung ihrer Körper unvermeidlich war. Lethen zeichnet nach, wie die Erwartungen von Künstlerin und Publikum hier sowohl erfüllt wie enttäuscht wurden, weil Letzteres sich längst auf der Höhe der medientheoretischen Reflexion befand und entsprechend verhielt Was den Autor zu dem Seufzer bringt: "Oh, diese Kunstfreaks! Seltsame Routiniers."
Denn für Lethen soll Kunst nicht nur Reflexion sein, sondern Realitätskontakt, ihn bestimmt eine Suche nach der "Schwerkraft des Wirklichen", wie er sie früh in den "Mythen des Alltags" von Roland Barthes fand. Seine Wiederholungslektüre kommt zu der überraschenden Feststellung, Barthes habe hier keineswegs ausschließlich das Geschäft der Ideologiekritik und der "Routinen der Entzauberung" anhand kultureller Artefakte vom Striptease bis zum Beefsteak betrieben. Der große Zeichenleser, selbst ein Angehöriger der Verdachtskultur, hat offenbar gleichzeitig große Sehnsucht nach der Wirklichkeit. "Als Strukturalist, der die Eigendynamik der Zeichen kennt, versucht Barthes die Ordnungsmacht der Medien ,anatomisch' zu erfassen", schreibt Lethen. "Als Schriftsteller lässt er den Dingen ,ihr Gewicht', auch wenn sie unter diesem Blick opak werden und nur in literarischer Form angemessen beschrieben werden können." Lethen nennt diese Strategie treffend "Barthes' Pendel".
Freilich gilt das berühmte "Es ist so gewesen" (Barthes) als implizites Urteil aller Fotografie allenfalls für ihre analoge Variante. Inzwischen werden die Bilder mehr als nur "entwickelt" oder "bearbeitet". Aber darum geht es nicht. Es geht, so Lethen, um "die Sehnsucht, das Netz und die Ökonomie der symbolischen Ordnung der Medien zu zerreißen, Spuren von etwas zu finden, das tatsächlich einmal da war". Historisch da war, aber beispielsweise auch erotisch da war. Lethen zitiert die Wendung "Netzhautsex" für die Magie, die der Film auf den Körper ausübt. Das hat aber nichts Erbauliches, und auch die Lust ist unheimlich, weil sie Angstlust enthält und zuweilen Angst jener Wirklichkeitskontakt ist, der gesucht wurde.
Der Anfang des "tiefen Tals", das Lethen durchschreitet, um die Wirkung von Bildern zu beschrieben, liegt im Jahr 1957, als der Obersekundaner zusammen mit seinen Mitschülern den Film "Nacht und Nebel" von Alain Resnais sieht. Da er danach glaubt, alles über die Verbrechen der Väter zu wissen, kümmert er sich wenig um die weiter Aufklärung, bis ihm die erste Wehrmachtsausstellung von 1995 Anlass gibt, sich zum ersten Mal "mit den Steintafeln des Entsetzens zu befassen".
Diese erste Ausstellung stieß nicht nur auf rechtsradikale Empörung, sie geriet auch in die Kritik der Historiker, unter anderem, weil einzelne Fotos nicht richtig zugeordnet waren und anderes zeigten, als sie angeblich vor Augen führten. Die zweite, "sachlichere", überarbeitete Ausstellung wurde Ende 2001 eröffnet. Lethen analysiert, worin der eigentliche "Skandal", das heißt die schockartige Wirkung der ersten gelegen hatte: "Die Ausstellung schleppte tabuisierte oder unbekannte Bilder in den Austausch der Erinnerung zwischen den Generationen. Solange keine Bilder des Mordes ,auf freiem Feld' vorgelegen hatten, konnten die Bildhaushalte des Kriegs einerseits und des Verbrechens andererseits säuberlich voneinander getrennt werden, parallel nebeneinander bestehen. Der Skandal der Ausstellung lag in der Überschreitung dieser Trennungslinie. Sie lenkte den Blick auf das Handwerk von Tätern mit den individuellen Physiognomien einer Vätergeneration."
Vielleicht am faszinierendsten ist die knappe Analyse des Fotos, das auf dem Cover des Buches zu sehen ist, eine scheinbare Idylle mitten im Krieg: Eine Frau schreitet mit gerafftem Rock durch einen Fluss. Auf der Rückseite des Bildes steht "Die Minenprobe". Es ist diese Art Schock, der Lethen nachspürt. Gegen Ende, als Lethen das tiefe Tal wieder verlassen hat und sich mit einer Wiener volkskundlichen Ausstellung über Unterwäsche aus der Sowjetunion beschäftigt, finden sich diese Sätze: "Die grotesken Erzählungen des Katalogs prägen sich ein; wie Erzählungen offenbar immer die strapazierfähigsten Evidenzcontainer sind. Sie bleiben, im Gegensatz zu den medienkritischen Wahrnehmungsmodellen, die aufgeboten werden, um neuen Strömungen zu entsprechen, dauerhaft interessant und weltaufschließend." Das gilt auch für die Erzählungen dieses Bandes.
JOCHEN SCHIMMANG
Helmut Lethen: "Der Schatten des Fotografen". Bilder und ihre Wirklichkeiten. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2014. 256 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].
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