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Mooses Mentulas Roman "Der Schildkrötenpanzer"
Es steht schlecht um Tino, den psychisch kranken Enddreißiger in Mooses Mentulas Roman "Der Schildkrötenpanzer". Dieser introvertierte Finne, der an der Welt der Extrovertierten verzweifelt, kauert in Unterwäsche vor dem Computer, um sich von den Webcam-Bildern eines Aquariums beruhigen zu lassen, und als die gewünschte Wirkung einsetzt, genehmigt er sich vor dem Schritt nach draußen sicherheitshalber noch ein paar Bier. Eine Angststörung verhindert, was man als normales Leben bezeichnen will. Jeder Einkauf ist eine Tortur.
Diesmal kehrt Tino aber immerhin mit Gegenständen zurück, die ihn auf neue Gedanken bringen. In einem Secondhandladen fand er den Panzer einer Riesenschildkröte, der ihn auf dem Nachhauseweg "wie Gregor Samsa" aussehen ließ, und der Verkäufer legte noch einen Beutel voller Bücher dazu: "Kriegst du umsonst. Heutzutage zahlt dafür niemand mehr was."
Tino packt das erste Buch aus, taucht in die Südseewelt Jack Londons ein. Begreift Literatur als Möglichkeit zur Wirklichkeitsflucht. Und versucht sich spontan selbst an einem Roman, der in Ermangelung eigener Erlebnisse von dem inspiriert ist, was er gerade bei London gelesen hat. Der weiße Hai aus dem Kinoplakat, das im Zimmer hängt, kommt in seiner Geschichte über einen Missionar und eine Schildkröte bald ebenso vor wie Markantes aus dem nächsten Buchbeuteltitel, Jean Genets "Querelle".
Dass der Text holpert: völlig egal. Tino muss endlich raus aus seinem traurigen Dasein. Schon greift er nach Buch Nummer drei! Und die Verzweiflung, mit der er in die Tasten haut, kann man durch die Geschichte seiner Krankheit, die Mooses Mentula (bekannt durch "Nordlicht - Südlicht") parallel schildert, bestens verstehen. Tino, ehedem begabter junger Gymnasiast, erlitt bei der Aufnahmeprüfung fürs Pharmaziestudium eine verheerende Panikattacke. Er zog sich sozial zurück, auch der Versuch einer Ausbildung als Straßenbahnfahrer war ein Fiasko, und schließlich, über Wasser gehalten von Medikamenten und Sozialversicherungsanstalt, wurde er für erwerbsunfähig erklärt. Sehr viele Jahre strichen ins Land.
Plötzlich sitzt Charles Bukowski in Tinos Zimmer. Er empört sich darüber, dass Tino den von ihm erfundenen Henry Chinaski, sein Alter Ego, und Ideen anderer Autoren in die Handlung einbaute, und bietet Hilfe an: "Man muss einfach anfangen zu schreiben oder zu leben . . . Gehen wir, bevor ich nüchtern werde."
Und Tino ist ein gehorsamer Lehrling. Er schreibt nun über sich selbst und eine Frau namens Mirjam, die ein Töchterchen hat und ihr Geld mit gefakten Hotelbewertungen verdient. Während Bukowski auch noch Jack Kerouac anschleppt, der alles in Richtung Road Movie mit Wohnmobil dreht. Als die Handlung stockt, tauchen Edgar Allan Poe (mit krächzendem Raben auf der Schulter), George Orwell (als "Aufpasser") und Jane Austen auf.
Der Leser kann zu diesem Zeitpunkt nicht mehr unterscheiden, was in Tinos Leben wahr ist und was Illusion. Mooses Mentulas tragikomisches Buch "Der Schildkrötenpanzer", ein weiteres skandinavisches Werk, das sich mit dem Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion befasst, ist ein Künstlerroman, der im lockeren Trash-Sound vom Zauber des Schreibens und der harten Schule des Schriftstellerwerdens erzählt: "Ein Schriftsteller konnte nicht auf Inspiration warten, man musste den Stift laufen lassen. Tino hatte es versucht, aber es war nichts passiert. Alles ein einziges Pressen . . . Trotz Zutaten der Spitzenklasse hatte er nicht mehr zustandegebracht als schwarz verbranntes Wurstgulasch."
Aber Tino ist ernsthaft krank, auch das macht Mooses Mentula bis zum Schluss klar, und zur Behandlung bedarf es mehr als eines Laptops für die Schreibtherapie oder der richtigen Medikamente. Nämlich Liebe und einen Platz in der Welt, an dem der Mann mittleren Alters seinen "Charakterpanzer" loswerden kann. MATTHIAS HANNEMANN
Mooses Mentula: "Der Schildkrötenpanzer". Roman.
Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Illustriert von Greta von Richthofen. Weidle Verlag, Bonn 2022. 256 S., Abb., geb., 25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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