Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Wenn wir der Welt abhandenkommen: Eva Kocziszky geht dem Motiv des Schlafs in der Literatur- und Kunstgeschichte nach.
Den Wert des Schlafs als Zugang zu einer höheren Wirklichkeit schätzten die französischen Surrealisten so hoch, dass der Schriftsteller Saint-Pol-Roux, wenn er sich morgens niederlegte, an seiner Tür ein Schild anbrachte: Le poéte travaille - der Dichter arbeitet. Bis zu dieser Blüte der modernen Traumschlafepidemie reicht Eva Kocziszkys Kunstgeschichte der menschlichen Weltabwesenheit zwar nicht. Gleichwohl vermag die Germanistin von der griechischen Antike bis zur europäischen Gegenwart einen Bogen über die literarische und bildnerische Bearbeitung dieses rätselhaften Geisteszustandes zu schlagen, der die Menschen zu allen Zeiten zutiefst irritiert hat.
Die Beunruhigung steckt schon in der Ursprungserzählung von Hesiod, nach der einst Nyx, die Nacht, nicht nur ihren freundlichen Sohn Hypnos, den Gott des Schlafes, sondern auch seinen Zwillingsbruder Thanatos, den Tod, geboren hatte. Um der Gefahr zu entgehen, Schlafende mit Toten zu verwechseln, so zeigt die Autorin in einem Jahrhunderte übergreifenden Bildvergleich, markierten die Künstler den Unterschied stets mit einem unscheinbaren, aber wirkungsvollen Motiv: Auf Vasen, Sarkophagreliefs, Statuen und Gemälden haben Schlafende stets einen Arm über oder neben dem Kopf abgelegt, während Tote alle Glieder hängen lassen.
Schlafenden drohte stets Unheil, wie es dem geblendeten Polyphem, der enthaupteten Medusa oder dem wahnsinnig gewordenen Dionysos widerfuhr. Folglich hielten Plato und Aristoteles die regelmäßige Geistesnacht für unvereinbar mit der attischen Ethik der Wachsamkeit. Weil der Schlaf der animalisch-triebhaften Natur des Menschen zugerechnet wurde, blieb er eine Domäne der Künstler, die ihn zur Ausstellung unverhüllter erotischer Schönheit nutzten - wie bei dem auf 220 vor Christus datierten "Barberinischen Faun".
Im Gegensatz zur Schlafverachtung tatendurstiger Politiker und Philosophen, so belegt die Autorin mit Pindar, Pausanias und Seneca, stieg Hypnos zum Lieblingsgott der Musen auf. Später nobilitierte die Spätantike den Schlaf als Begegnung mit den Göttern und maß ihm sogar seherische Kräfte bei. Es gab den wundersamen Heilschlaf für Kranke in Tempeln, und auch die "Siebenschläfer", jene zweihundert Jahre lang eingemauerten sieben Jünglinge von Ephesos, überstanden ihr Martyrium nur schlafend.
Doch das Christentum sah den Schlaf ebenso wie die Arbeit als Strafe für die Erbsünde und distanzierte sich von den alttestamentarischen Schläfern Noah und Jonas. Kirchenvater Augustinus war zutiefst erschrocken, wenn er beim Wegdämmern eine zweite Person in sich wahrnahm, die ohne Kontrolle der Vernunft der "Traumbetörung" erlag. Dennoch galt die nächtliche Bewusstlosigkeit weiterhin als Einfallstor für göttliche Visionen und Vorbereitung auf das ewige Leben nach dem Tod. Mittelalterliche Mystiker wie Hildegard von Bingen oder Meister Eckart schätzten die "unio mystica" des weltabwesenden Menschen mit Gott. Aber die Reformatoren wollten von solchen Schwärmereien nichts wissen.
Bei ihrem Schnelldurchlauf durch die Epochen - der sprachlich und orthographisch leider recht mangelhaft redigiert ist - stößt Eva Koczinszky in der Aufklärung auf Vorfahren hochmoderner Radarsubjekte, die wie Descartes, Diderot oder Kant den Schlaf als nutzlosen Wahn verurteilten. Weitaus vernunftkritischer und menschenfreundlicher verteidigte der Magus des Nordens Johann Georg Hamann die archaische Kreativität des Schlafs als Idylle aus einer früheren menschlichen Kulturstufe. Das klassizistische Tugendprogramm aus Jugend, Schönheit und Schlaf führte zur Wiederentdeckung des griechischen Götterlieblings Endymion, der nach Jahrhunderten auf Sargreliefs nun in Werken von Girodet und Canova zum Inbild arkadischer Seelenruhe und spiritueller Entrücktheit mutierte.
Die Entdeckung der modernen Seele lässt die Autorin sehr früh beginnen mit Goyas berühmtem Capriccio "Der Schlaf der Vernunft" - das sie mit 1787 zehn Jahre zu früh datiert - bis hin zu Jean Pauls Warnung 1799: "Wir sehen bei Nacht die wilden Grabtiere und Abendwölfe herumstreifen, die am Tage die Vernunft in Ketten hielt." Vom Magnetismus-Forscher Franz Anton Mesmer über Lord Byron, Heine, Rilke und Sigmund Freud bis Thomas Mann reicht die Aufwertung der träumerisch-genialen Bewusstlosigkeit - wobei große Schlaf-Apologeten wie Walter Benjamin oder Peter Sloterdijk leider fehlen. Trotzdem darf der Leser gegen alle Wachsamkeitsappelle der entnächtigten Zivilisation nach der Lektüre sich wie ein guter Surrealist mit bestem Gewissen zur Nachtruhe legen.
MICHAEL MÖNNINGER
Eva Kocziszky:
"Der Schlaf in Kunst
und Literatur". Konzepte im Wandel von der Antike zur Moderne.
Reimer Verlag, Berlin 2019. 240 S., Abb., br., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH