Eine verzaubernde Parabel über das heutige Russland Was beginnt wie eine Erzählung aus dem 19. Jahrhundert, entpuppt sich als fantastische Irrfahrt durch das ländliche Russland einer nahen Zukunft. Ein überraschend zartes Buch des bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellers Russlands.Garin, ein Landarzt, will so schnell wie möglich in den Ort Dolgoje, um die Menschen dort gegen eine rätselhafte Krankheit zu impfen, die jeden Infizierten zum Zombie macht. Doch es herrscht Schneesturm, Garins Pferde sind erschöpft, also heuert er den einfältigen Brotkutscher Kosma an, dessen Schneemobil von fünfzig winzigen Pferden gezogen wird. Und damit beginnen die Merkwürdigkeiten erst: Auf seiner Reise durch das unablässige Schneetreiben begegnet das ungleiche Paar Zwergen und Riesen, es gibt ein Radio mit »lebendigen« Bildern, eine Paste, die Filz »wachsen« lässt, eine Wunderdroge und vieles mehr - eine Märchenwelt mit Ingredienzien einer Hochtechnologie-Gesellschaft. Eingebettet in den erzählerischen Kosmos von Tolstoi, Tschechow und Gogol, versetzt »Der Schneesturm« ein grotesk-imaginäres Russland in den Abgrund zwischen den Zeiten - ein zugleich heiteres wie verstörendes Buch, das einmal mehr Sorokins herausragende Stellung unter den zeitgenössischen russischen Schriftstellern untermauert. »Vladimir Sorokin ist eine Kultfigur in Russland.« Spiegel online
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.01.2015Mit Sorokin durchs
weite, weiße Land
In Russland gibt es viele Orte
namens Dogolje. Infolge einer Verschwörung, die ganz woanders angezettelt wurde, ist in Dogolje die Pest ausgebrochen. Den rettenden Impfstoff soll Landarzt Platon Iljitsch Garin bringen. Wenige Werst trennten ihn vom Ziel, wäre da nicht ein gewaltiger Schneesturm über ihn und den Fuhrmann Krächz hereingebrochen. Von 40 Minipferdchen gezogen, wird ihr euphemistisch „das Mobil“ genannter Schlitten nie in Dogolje ankommen. Sie fahren durch weißes, weites Land mit nichts in Sicht außer Schnee. Gute Voraussetzungen zum Träumen, und mit allerlei seltsamen Erscheinungen und wundersamen Begegnungen werden Herr und Knecht auf der Fahrt durch den Märchenwald verwöhnt: Wild ist das Land, mit Riesen und Zwergen, ein Land der grotesken Leiber und absurden Ideen. Alles, was Beine oder auch keine hat, steht auf dem Kopf. Mit sardonischem Witz, deftigem Sarkasmus, auch zarter Ironie zieht Sorokin alle Register der Weltliteratur, von Puschkin über Gogol bis Tschechow, von Rabelais über Swift bis Kafka, und schickt uns auf eine irre Reise in die tiefsten Windungen der russischen Seele. VOLKER BREIDECKER
Vladimir Sorokin: Der Schneesturm. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kiwi Verlag, Köln 2014. 208 Seiten,
8,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
weite, weiße Land
In Russland gibt es viele Orte
namens Dogolje. Infolge einer Verschwörung, die ganz woanders angezettelt wurde, ist in Dogolje die Pest ausgebrochen. Den rettenden Impfstoff soll Landarzt Platon Iljitsch Garin bringen. Wenige Werst trennten ihn vom Ziel, wäre da nicht ein gewaltiger Schneesturm über ihn und den Fuhrmann Krächz hereingebrochen. Von 40 Minipferdchen gezogen, wird ihr euphemistisch „das Mobil“ genannter Schlitten nie in Dogolje ankommen. Sie fahren durch weißes, weites Land mit nichts in Sicht außer Schnee. Gute Voraussetzungen zum Träumen, und mit allerlei seltsamen Erscheinungen und wundersamen Begegnungen werden Herr und Knecht auf der Fahrt durch den Märchenwald verwöhnt: Wild ist das Land, mit Riesen und Zwergen, ein Land der grotesken Leiber und absurden Ideen. Alles, was Beine oder auch keine hat, steht auf dem Kopf. Mit sardonischem Witz, deftigem Sarkasmus, auch zarter Ironie zieht Sorokin alle Register der Weltliteratur, von Puschkin über Gogol bis Tschechow, von Rabelais über Swift bis Kafka, und schickt uns auf eine irre Reise in die tiefsten Windungen der russischen Seele. VOLKER BREIDECKER
Vladimir Sorokin: Der Schneesturm. Aus dem Russischen von Andreas Tretner. Kiwi Verlag, Köln 2014. 208 Seiten,
8,99 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2021Die Krankheit verleiht Monsterkräfte
Auf Impfmission im russischen Dorf der Zukunft: Yaroslav Schwarzstein zeichnet Sorokins Romandystopie "Der Schneesturm".
Just zur Zeit der in Deutschland lahmenden Impfkampagne und der Kontroversen um das russische Vakzin Sputnik V ist ein Band mit Zeichnungen erschienen, der in ein archaisch-hochtechnologisches Russland der Zukunft entführt. Darin versucht ein Arzt, den rettenden Impfstoff in ein von einer Seuche heimgesuchtes Dorf zu bringen. Der aus der russischen Provinzstadt Tula stammende, heute in Hannover lebende Künstler und Musiker Yaroslav Schwarzstein hat sich von dem vor zehn Jahren erschienenen Roman Vladimir Sorokins, "Der Schneesturm", gefangen nehmen lassen und Figuren und Szenen in die Sprache bald anatomisch präziser, bald pointillistisch zerstiebender Federzeichnungen übersetzt. Schwarzsteins Skizzensammlung, die der Verlag ciconia ciconia unter dem Titel "Blizzard" herausgebracht hat, greift wie Sorokin gekonnt klassische Stile auf, um sie zum märchenhaften Mix zu rekombinieren.
Sorokin spinnt eine große russische Tradition fort, sowohl Alexander Puschkin als auch Lew Tolstoi schrieben Erzählungen mit dem gleichen Titel. Sorokin erzählt im Idiom eines Tolstoi oder Tschechow von zwei Weggefährten - auf Russisch "Sputniki" -, die in medizinischer Mission zu einem nur zwanzig Kilometer entfernten Ort aufbrechen, an dem sie nie ankommen. Der europäisch gebildete Doktor, dem der Autor eine große Nase und erotische Erregbarkeit schenkt, hat die Zweitimpfung gegen eine Krankheit im Gepäck, die Menschen in Monster mit übermenschlichen Kräften verwandelt. In dieser Winterwelt fährt man wieder Pferdeschlitten, der allerdings von fünfzig offenbar genmanipulierten Minipferdchen durch einen Laufbandmechanismus angetrieben wird. Die üppige Müllersgattin, die ihren giftigen Winzmann gefügig umsorgt, sich dem Intellektuellen aber sofort willig hingibt, scheint auch das Verhältnis des großen Landes zu seinen Machthabern und den Kreativen in ein Bild zu fassen.
Schwarzstein schildert den Arzt mit seinen spiegelnden Kneifergläsern in Altmeisterschraffur und subtil karikierend wie ein Horst Janssen oder Wilhelm Busch. Der schönen Müllerin hingegen verleiht er die porzellanglatten Volumina der Kaufmannsfrauen, die Boris Kustodiew sich in der frühen Sowjetzeit erträumte. Eher impressionistisch zerfranst strichelt er die Züge des früh seiner Lendenkraft verlustig gegangenen Brotkutschers, dessen ganze Zärtlichkeit seinen anmutigen Zugtierchen gilt. Die weißen Seiten werden dem Künstler zur schneeigen Leere, auf der als schwarze Punkte, Flecken oder Linienornament Birkenstämme, Menschen in Zottelpelzen und ihr fragiles Pferdestärkengefährt hervortreten, das, wie viele Sowjetautos der Marke Schiguli, unterwegs wiederholt Pannen erleidet.
Sorokin und Schwarzstein beschwören eine poetisch-prophetische Märchenwelt, in der der Intellektuelle durch Hybris schuldig wird und scheitert, der Mann aus dem Volk zugrunde geht - und beide von einem chinesischen Transportzug mit haushohen Riesenpferden eingesammelt werden. Das weiße Treiben vernichtet das Raumgefühl, die Helden kommen von der Straße ab, drehen sich im Kreis, rammen im Schnee aber auch eine geheimnisvolle Kristallpyramide, die sich als Superdroge erweist, und die Nase eines Riesen, der neben seiner leeren Wodkaflasche erfroren ist. Unser Bild, das auf den "Leichnam Christi" von Hans Holbein anspielt, zeigt den Doktor, der nach einem Versuch, das Dorf doch noch zu Fuß zu erreichen, in den Betriebsraum des Schlittens gekrochen ist, um sich an den Pferdchen zu wärmen, wobei seine Gulliverfigur die Verschalung sprengen und den Weggefährten das Leben kosten wird.
KERSTIN HOLM
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf Impfmission im russischen Dorf der Zukunft: Yaroslav Schwarzstein zeichnet Sorokins Romandystopie "Der Schneesturm".
Just zur Zeit der in Deutschland lahmenden Impfkampagne und der Kontroversen um das russische Vakzin Sputnik V ist ein Band mit Zeichnungen erschienen, der in ein archaisch-hochtechnologisches Russland der Zukunft entführt. Darin versucht ein Arzt, den rettenden Impfstoff in ein von einer Seuche heimgesuchtes Dorf zu bringen. Der aus der russischen Provinzstadt Tula stammende, heute in Hannover lebende Künstler und Musiker Yaroslav Schwarzstein hat sich von dem vor zehn Jahren erschienenen Roman Vladimir Sorokins, "Der Schneesturm", gefangen nehmen lassen und Figuren und Szenen in die Sprache bald anatomisch präziser, bald pointillistisch zerstiebender Federzeichnungen übersetzt. Schwarzsteins Skizzensammlung, die der Verlag ciconia ciconia unter dem Titel "Blizzard" herausgebracht hat, greift wie Sorokin gekonnt klassische Stile auf, um sie zum märchenhaften Mix zu rekombinieren.
Sorokin spinnt eine große russische Tradition fort, sowohl Alexander Puschkin als auch Lew Tolstoi schrieben Erzählungen mit dem gleichen Titel. Sorokin erzählt im Idiom eines Tolstoi oder Tschechow von zwei Weggefährten - auf Russisch "Sputniki" -, die in medizinischer Mission zu einem nur zwanzig Kilometer entfernten Ort aufbrechen, an dem sie nie ankommen. Der europäisch gebildete Doktor, dem der Autor eine große Nase und erotische Erregbarkeit schenkt, hat die Zweitimpfung gegen eine Krankheit im Gepäck, die Menschen in Monster mit übermenschlichen Kräften verwandelt. In dieser Winterwelt fährt man wieder Pferdeschlitten, der allerdings von fünfzig offenbar genmanipulierten Minipferdchen durch einen Laufbandmechanismus angetrieben wird. Die üppige Müllersgattin, die ihren giftigen Winzmann gefügig umsorgt, sich dem Intellektuellen aber sofort willig hingibt, scheint auch das Verhältnis des großen Landes zu seinen Machthabern und den Kreativen in ein Bild zu fassen.
Schwarzstein schildert den Arzt mit seinen spiegelnden Kneifergläsern in Altmeisterschraffur und subtil karikierend wie ein Horst Janssen oder Wilhelm Busch. Der schönen Müllerin hingegen verleiht er die porzellanglatten Volumina der Kaufmannsfrauen, die Boris Kustodiew sich in der frühen Sowjetzeit erträumte. Eher impressionistisch zerfranst strichelt er die Züge des früh seiner Lendenkraft verlustig gegangenen Brotkutschers, dessen ganze Zärtlichkeit seinen anmutigen Zugtierchen gilt. Die weißen Seiten werden dem Künstler zur schneeigen Leere, auf der als schwarze Punkte, Flecken oder Linienornament Birkenstämme, Menschen in Zottelpelzen und ihr fragiles Pferdestärkengefährt hervortreten, das, wie viele Sowjetautos der Marke Schiguli, unterwegs wiederholt Pannen erleidet.
Sorokin und Schwarzstein beschwören eine poetisch-prophetische Märchenwelt, in der der Intellektuelle durch Hybris schuldig wird und scheitert, der Mann aus dem Volk zugrunde geht - und beide von einem chinesischen Transportzug mit haushohen Riesenpferden eingesammelt werden. Das weiße Treiben vernichtet das Raumgefühl, die Helden kommen von der Straße ab, drehen sich im Kreis, rammen im Schnee aber auch eine geheimnisvolle Kristallpyramide, die sich als Superdroge erweist, und die Nase eines Riesen, der neben seiner leeren Wodkaflasche erfroren ist. Unser Bild, das auf den "Leichnam Christi" von Hans Holbein anspielt, zeigt den Doktor, der nach einem Versuch, das Dorf doch noch zu Fuß zu erreichen, in den Betriebsraum des Schlittens gekrochen ist, um sich an den Pferdchen zu wärmen, wobei seine Gulliverfigur die Verschalung sprengen und den Weggefährten das Leben kosten wird.
KERSTIN HOLM
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Mit sardonischem Witz, deftigem Sarkasmus, auch zarter Ironie zieht Sorokin alle Register der Weltliteratur [...].« Süddeutsche Zeitung 20150109