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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Carlo Lucarelli stellt moralische Fragen
Die Hoffnung, sich in diesem Winter mit dem neuen Krimi des Italieners Carlo Lucarelli etwas südliche Sonne ins Wohnzimmer zu holen, sollte man sofort begraben. Im Gegensatz zu Donna Leon lässt Lucarelli seine Ermittler nicht durch die pittoresken Touristenkulissen Venedigs streifen, sondern schickt sie ins deutlich rauere Bologna. "Der schwärzeste Winter" führt obendrein in eines der dunkelsten Kapitel der Stadtgeschichte zurück, jene Zeit im Dezember 1944, als die faschistischen Schwarzen Brigaden und die Partisanen des italienischen Widerstands um die Vorherrschaft in der Stadt kämpften, während Soldaten der Wehrmacht offiziell die Geschäfte führten.
In diesen hochpolitischen Wirren versucht Commissario De Luca einfach nur seinem Job nachzugehen. Im mittlerweile siebten Roman um diese Figur arbeitet der Ermittler für eine Spezialeinheit der Polizei, die in den politischen Prozessen mitmischt. De Luca versucht sich herauszuhalten. Natürlich gelingt es nicht. Drei Mordopfer liegen im Leichenschauhaus: ein erschlagener Ingenieur, ein erschossener Professor und ein nackter, verstümmelter SS-Mann. Für jedes Opfer bittet eine andere Partei De Luca um Aufklärung, schließlich muss er für die Präfektur, die Resistenza und die Deutschen ermitteln.
Lucarelli ist in Italien für seinen kühnen Stil bekannt. In seinen frühen, vielfach ausgezeichneten Kriminalromanen hielt er nicht viel von Genrekonventionen, verwob lieber collagenhaft Monologe, Assoziationen und Bilder mit der Erzählung. Hier nun geht der Autor fast konventionell vor, indem er seine Handlung klassisch dreiteilt ("Die Morde", "Die Ermittlung", "Die Mörder"). Was jedoch volle Aufmerksamkeit erfordert, sind die Verwicklungen der drei Morde, deren Ermittlungsstränge und Verdächtige sich immer weiter verquicken.
Als Leserin ist man versucht, wie der Kommissar den Bleistift zu zücken, um Notizen zu machen und die Fäden nicht zu verlieren. Die Vielzahl der Eindrücke und neuen Hinweise, in denen De Luca fast zu ertrinken droht, sind jedoch keineswegs Zeichen schlampiger Erzähltechnik, sondern mit Bedacht eingestreut. Immer tiefer begibt man sich in den Kopf des Kommissars, der sich in den Ermittlungen vergräbt, weil sie das einzig Sinnvolle sind, das er in dieser Zeit tun kann. Würde er innehalten, müsste er sich der Realität stellen. "Sie schauen starr in eine Richtung, weil Sie Angst haben, alles andere zu sehen", wirft ihm ein Freund vor. Ermittlungsarbeit heißt hier zum einen Verdrängung und zum anderen im Rahmen des persönlichen Handlungsspielraums aktiv zu bleiben, wenn es viel einfacher wäre, aufzugeben und dadurch zum Mittäter zu werden.
Der geschichtliche Hintergrund ist bei Lucarelli keine Staffage. Der Autor hat jahrelang in einer beliebten Sendung im staatlichen italienischen Fernsehen über historische Kriminalfälle berichtet. Sein Interesse für korrekte Details zeigt sich hier in zahlreichen Originalquellen. So steht jedem Kapitel ein Auszug des "Resto del Carlino" voran, einer von den Faschisten übernommenen Tageszeitung, die schöngefärbt über den Kriegsverlauf berichtet und jede Ausgabe mit Propaganda für die Zusammenarbeit mit den Deutschen schließt. Auch Figuren der Resistenza, die am Rande auftauchen, sind echten Personen nachempfunden, und so manche Szene nutzt Lucarelli, um an Kriegsgräuel zu erinnern.
Da beschreibt ein versteckter jüdischer Anwalt im Kellerloch die Deportation italienischer Juden durch die Deutschen, bevor er seine Zeugenaussage macht. Oder ein Schwarzmarkthändler handelt mit Goldschmuck aus Marzabotto. ("Sie wissen doch, was dort passiert ist. Nein? Ist gut, Sie haben recht, in Marzabotto ist nichts passiert.") In dem Ort hatte die Waffen-SS eines der schlimmsten Massaker an Zivilisten auf italienischem Boden verübt.
In all diese Begebenheiten verwickelt Lucarelli seine Leser ganz nebenbei. Wenn sein Kommissar De Luca im viel zu dünnen Trenchcoat durch den dunklen Bologneser Winter streift, stellt sich die Frage nach dem richtigen Leben im Falschen ganz automatisch und alles andere als abstrakt. MARIA WIESNER.
Carlo Lucarelli: "Der schwärzeste Winter". Ein Commissario-De-Luca-Krimi.
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Bozen/Wien 2021. 319 S., br., 22,- Euro.
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