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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Tatiana Tîbuleacs "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte"
Der geheilte Menschenfeind ist ein uraltes Komödien-Motiv. Auch in vielen Filmen hat es für unterhaltsame Stunden und manch weltumarmendes Finale gesorgt. Raus aus der misanthropischen Routine, Augen auf, das Leben ist doch schön! Und wer nur nett zu den anderen ist, wird bald in warmen Strömen reaktiven Wohlwollens baden dürfen.
Die moldauische, heute in Paris lebende Schriftstellerin Tatiana Tîbuleac hat einen international beachteten Debüt-Roman geschrieben, der sich dieses Erzählmusters bedient, allerdings gibt es eine entscheidende Abweichung: Mit Komödie hat Tîbuleac nichts im Sinn. Ihr Ich-Erzähler Aleksy versteht keinen Spaß, er ist geladen mit Hass. Einen Gleichaltrigen hat der Jugendliche beinahe totgeprügelt und muss seitdem eine Schule für Schwererziehbare besuchen. Vor allem aber hasst Aleksy seine Mutter, die er als rundum abscheuliche Person beschreibt, klein, dick, dumm und hässlich. Am liebsten würde er sie zerstückelt in der Tiefkühltruhe einlagern. Auf seinen Vater, einen trinkfreudigen Fernfahrer, der längst das Weite gesucht hat, ist er nicht besser zu sprechen.
In dunklen Farben erzählt Aleksy von seiner verkorksten Kindheit in einer Familie polnischer Einwanderer im Norden Londons, an die sich nahtlos eine missratene Jugend anschloss. Erzählt von der schwarzen Seele, die er selbst als Siebzehnjähriger war, damals, als das Muttermonster ihn am letzten Schultag vom Schulheim abholte, um mit ihm den Sommer in einem nordfranzösischen Dorf zu verbringen. Aleksy ließ sich dazu breitschlagen, obwohl er lieber mit ein paar Kumpels aus dem Heim, "menschlicher Abfall" wie er selbst, nach Amsterdam gefahren wäre, um alles verfügbare Geld für Drogen, Alkohol und Huren zu verprassen.
Mit seinem rüden Beginn wirkt "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte" zunächst wie negativistische Konfektionsware, die kein prekäres Motiv auslässt und immer wieder ein bisschen zu schrill formuliert erscheint. Liest man dann aber weiter, im Vertrauen darauf, dass die Autorin nicht ganz ohne Grund Literaturpreise bekommen haben wird, beginnt die Geschichte zu fesseln. In den aggressiven Ton des Ich-Erzählers mischen sich bald sensiblere Momente der Wahrnehmung von Licht, Farben und Stimmungen. Es gibt Rückblenden, in denen eine Familientragödie und nie verheilte Wunden der Vernachlässigung und Lieblosigkeit deutlich werden. Aleksy hatte eine Schwester, nach deren Tod sich die Mutter in einem Zimmer einschloss und sieben Monate lang nicht mehr sprach. Der Vater überließ sich dem Alkohol. So hatte Aleksy auf einen Schlag nicht nur die Schwester, sondern auch die Eltern verloren, als wäre er schuld an allem. So erscheint seine Neigung zu unkontrollierter Aggressivität zumindest gut begründet.
Während des Sommers in dem französischen Dorf geschieht mit der Mutter eine Veränderung: Sie wird schlanker und schöner, es geht von den Augen aus. Aleksy spürt, wie sein Hass von Tag zu Tag schwindet. Und eines Tages eröffnet sie Aleksy, dass sie Krebs hat und nur noch ein paar Monate zu leben. In Frankreich sterben und sich mit dem Sohn versöhnen - das ist ihr letzter Wunsch. Und es ereignet sich das Erstaunliche: Aleksy pflegt die gerade noch verhasste und bald immer hinfälligere Mutter, badet und füttert sie, unternimmt mit ihr Ausflüge und gibt sich alle Mühe, damit sie ihr Elend für kurze Zeit vergessen kann. Er entdeckt seine Mutter ganz neu - ihre Kenntnisse der Insekten, Pflanzen und Sternbilder, hört ihr gerne zu. Auch Aleksys Feindseligkeit gegenüber anderen Menschen nimmt ab. Hat er anfangs bei einem Gang über den örtlichen Markt alles abscheulich gefunden und darüber eine hämische Tirade verfasst, so fühlt er sich bald heimisch unter den Menschen in der nordfranzösischen Provinz. Aus mit bösem Blick ins Visier genommenen Gestalten werden Dorfbewohner mit Namen und Schicksal.
Früh verrät Aleksy, dass sich eine große Wandlung in seinem Leben vollzogen hat. Er ist inzwischen ein erfolgreicher Künstler, "behindert und reich". Aber warum macht er diese Aufzeichnungen? Offenbar stagniert seine Kreativität, und sein Psychiater hat ihm geraten, die Erlebnisse jenes entscheidenden Sommers noch einmal beim Aufschreiben durchzuarbeiten. Dieser Psychiater ist ein allzu belletristischer Impuls, wie überhaupt die Rahmenhandlung eher skizziert als erzählerisch ausgefüllt ist. Es gibt da noch eine sehr große unglückliche Liebe und einen sehr schweren Unfall, der Aleksy in den Rollstuhl zwingt. Als hätte der Roman nicht schon genug Lebensschwere geladen.
Gerne hört man die Botschaft, dass auch aus der kaputtesten Familienbeziehung noch etwas Gutes werden könne. Krankheit als Chance. Adoleszenzgeschichten, in denen die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen durch die Erfahrung schwerer Krankheiten wie Krebs bestimmt wird, sind fast zu einem eigenen Genre geworden - man denke an John Greens verfilmten Bestseller "Das Schicksal ist ein mieser Verräter". Tatiana Tîbuleac gibt dem Thema durch den rauen und zugleich poetischen Ton ihres Romans eine eigene Wendung. Es ist die Stärke dieses gegen den Hass geschriebenen Buches, dass es nie in einen Jargon psychologisierender Erklärung verfällt, sondern die heftigen Gefühle in sprachliche Bilder umsetzt und sie aus den Beschreibungen, etwa der kranken Mutter, hervorleuchten lässt. Ernest Wichners Übersetzung aus dem Rumänischen bewahrt viel von der Kraft dieser Prosa, ihrem Wechsel zwischen Derb- und Zartheit. Es ist diese Sprache, die verhindert, dass die Dramaturgie der Versöhnung rührselig wirkt. WOLFGANG SCHNEIDER
Tatiana Tîbuleac: "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte". Roman.
Aus dem Rumänischen von Ernst Wichner. Schöffling Verlag, Frankfurt 2021. 190 S., geb., 22,- Euro.
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