»Eine Kompetenzgranate mit Dauerzündung, die unterhalten, aber nicht unterfordern will« Ulrich Blumenbach. Zum zehnten Todestag des wichtigsten amerikanischen Autors seiner Generation erscheinen alle Essays in einem Band. Gerade die Essays und Reportagen sind für viele Kritiker und Leser Wallace' Königsdisziplin, und in dieser nach Themen geordneten Anthologie sind seine Beobachtungsschärfe und sprachliche Brillanz neu zu entdecken. Neben Romanen und Erzählungen hat David Foster Wallace immer auch Essays geschrieben, mal im Auftrag von Zeitschriften und Zeitungen, mal für Sammlungen. Zu den bekanntesten gehört sicherlich »Schrecklich amüsant - aber in Zukunft ohne mich«, sein berühmter Text über die Reise auf einem Kreuzfahrtschiff, und »Das hier ist Wasser«. Dieses monumentale Buch versammelt alle Sachtexte des großen amerikanischen Autors. Ulrich Blumenbach, der längst zur deutschen Stimme Wallace' geworden ist, hat die Essays in diesem finalen Band nach Themengebieten geordnet: Von Tennis über Ästhetik, Sprache & Literatur, Politik, Film & Fernsehen, die Unterhaltungsindustrie und Leben & Liebe reicht die Bandbreite. So ist Wallace in all seiner Brillanz in diesen höchst unterhaltsamen und klugen Texten aufs Neue zu entdecken und zu bewundern.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2018Ein verdammter Mensch
Vor zehn Jahren hat sich David Foster Wallace das Leben genommen. Mit dem Abstand und einem neuen Essayband kann man noch mal nachschauen, wer der Überschriftsteller war - und was dann doch eher nicht
Riesige, hundsperfide, wahnsinnig machende Gemeinheit als Prolog: Jeden Satz dieses Textes über David Foster Wallace hätte David Foster Wallace besser geschrieben. Das wirklich Deprimierende ist aber, dass David Foster Wallace nicht nur über sich selbst mit fast unerträglicher Eleganz schrieb, sondern über so viele konturlose, unübersehbar große Dinge. Der elende Journalistenstift starrt aufs blinkende Cursormetronom. Was würde DFW tun? Zack sitzt der Journalistenstift nicht mehr am Laptop, sondern in der knallvollen DFW-Kirche, Fremdwörter, Straßenslang und Weisheit durchziehen die Litanei und vielleicht auch die schweren, süßen Schwaden von Gras.
Vor zehn Jahren, am 12. September 2008, hat David Foster Wallace sich das Leben genommen. Auf den Tod des Großen Amerikanischen Schriftstellers folgten Huldigungen praktisch aller lebenden anderen GAS, ungezählte Foreneinträge von Fans, die schrieben, wie DFW ihnen im wörtlichen Sinn das Leben gerettet habe, Biographien, ein Spielfilm, der ganze messianische Erinnerungskult, der DFW zu einer Art Grunge-Version von Jesus machte: Er, der an ihm verzweifelt war, hatte sich ersatzweise dem Zuviel der Gegenwart ausgesetzt, damit wir es nicht mussten. Amen.
Es tut gut, dass zu seinem Todestag ein Band erschienen ist, der alle DFW-Essays bündelt. Nüchternheit gegen die Verklärung. "Der Spaß an der Sache" ist ein 1088-Seiten-Klotz, der nichts Neues enthält, zumindest auf Englisch sind alle Texte in früheren Sammlungen zu lesen. Aber das erleichtert die Sache ja eher: Das literarische und journalistische Werk des DFW hat Barockhausopulenz, Prunkwörter in schwingenden Sätzen wird man noch beim x-ten Lesen entdecken, und so kann man nebenher nach Hinweisen suchen, die verraten, wie und warum DFW zum Heiland geworden ist, zum Superstar der amerikanischen Literatur, erschienen in dem Moment, als die amerikanische Literatur zweifelte, noch Superstars hervorbringen zu können.
Seit Beginn seiner Karriere als Schriftsteller schrieb Foster Wallace auch journalistische Texte für Amerikas Magazine, besonders dann, wenn er mit seiner literarischen Arbeit nicht weiterkam. Also oft. "Der Spaß an der Sache" gliedert seine Sachtexte nach Themen und beginnt mit der frühen Leidenschaft Tennis.
Zwei außergewöhnliche Gaben machten David ein paar Jahre lang zu einem hervorragenden Jugendspieler. Das Logiktalent, die tückischen Wind- und Platzverhältnisse in seiner Heimat, der flachen Provinz in Illinois, zu abstrahieren und ihre Folgen zu antizipieren. Und die "zenartige Akzeptanz der Dinge", die seine Gegner reihenweise den Schläger in die Ecke knallen ließ. Wenn DFW Jahre später den amerikanischen Tennisspieler Michael Joyce trifft, einen der hundert besten der Welt, aber zu schlecht, um bekannt zu sein, dann kann man nicht anders, als anzunehmen, dass er im Porträt auch über sich schrieb: "Die radikale Verdichtung seiner Aufmerksamkeit und seines Ichs haben ihn zu einem so überragenden Könner in seiner Kunst gemacht - was den wenigsten von uns vergönnt ist." Und: "Michael Joyce ist ein vollkommener Mensch (wenn auch auf grotesk eingeschränkte Weise). Aber er will mehr."
Seit der ersten Veröffentlichung dieser Texte sind durchschnittlich etwa zwanzig Jahre vergangen, das hat ihnen aber ihre kindliche Gegenwartslust nicht genommen. Von den Vergleichen - nie ist etwas "saphirblau", denn wer weiß, welches Blau ein Saphir hat, eher vielleicht: durchscheinend blau wie ein Windows-Desktophintergrund - über die Themen (Pornos, Kreuzfahrten, Werbesprache) zur Selbstbewusstheit des Autors und der Selbstbewusstheit der Selbstbewusstheit: Foster Wallace hatte einen so orakelhaften Weitblick, dass seine Texte mehr über die Gegenwart verraten als viele Gegenwartstexte.
"Alle Essays" heißt es auf dem Cover von "Der Spaß an der Sache". Nur ein lustiger Moment beim Lesen: Foster Wallace hatte keine Ahnung, wie er "Essay" definieren sollte, als ihn ein Verlag bat, die besten amerikanischen Essays des Jahres in seinem Namen herausgeben zu dürfen. Er unterscheidet dann zwischen Sachtexten und Literatur, wobei er dem Unterschied nicht traut. Bei beiden Textsorten "hat man das Gefühl von Drahtseilakten über Abgründen - nur die Abgründe unterscheiden sich. Der Abgrund der Literatur ist das Schweigen, nada. Der Abgrund der Sachliteratur ist das Gesamtrauschen." Das Nichts und das Reizflächenbombardement, für DFW waren sie oft das Gleiche.
Seine Methode, das Gegenwartsrauschen zu erfassen, nannte er "giant floating eyeball". Foster Wallace muss das Außen mit gnadenlosem Mitgefühl gescannt haben, sonst hätte er etwa eine Landwirtschaftsmesse nicht in dem Detailreichtum beschreiben können, dass sie beim Lesen zum Hieronymus-Bosch-Wimmelbild wird. Das Auge rotierte aber auch nach innen. Die Stimmung der Messe, die stumpfe Vergnügungsflucht ihrer Besucher, ist die von Foster Wallace wahrgenommene Stimmung, seine Wahrheit, und die steht über den Tatsachen. Sein Biograph hat haufenweise Beispiele für Erfindungen in DFWs Sachtexten aufgelistet, im Messetext ist die offensichtlichste eine Szene, in der einem jungen Mann auf einem Zipper, einer Art fieserem Riesenrad, seine Crackampulle aus der Tasche fällt, "genau auf einen State Trooper, der in der Budengasse darunter wachsam Zitroneneis aß". Als ihn ein Student fragte, warum die Messebesucher in ihrer Gleichförmigkeit "viehisch" wirkten, antwortete der Schreibdozent Foster Wallace: Wenn ihm, dem Studenten, das so ergangen sei, habe er, der Autor, "das Arschlochproblem" - der Schreiber interessiert sich mehr für sich als das zu Beschreibende.
Womit das Kratzen an der Sankt-David-Statue beginnt. Der echte DFW entsprach nicht der Ikone, die das Bildungsbürgertum auf den Platz in seiner Mitte stellte. Als junger Mann wählte er den Republikaner Ronald Reagan, seine vielen Groupies bildeten die "Bimbo-Brigade", in einem Essay von 1996, da war er 34, schrieb er über den Thrill von Aids, das Risiko, das aus Kopulieren Erotik macht. Nee. In seiner Verachtung für Journalisten, den "Stiften", die nur dumme Fragen stellen, hätte DFW seinen Zeitgenossen zur Abwechslung nicht voraus sein müssen. Zumal er selbst den Zusammenhalt seiner älteren Nachbarinnen im Mittleren Westen, in deren Kreis er den 11. September 2001 vor dem Fernseher verbrachte, mit einer Rührung beschrieb wie manche Auslandsreporter Ureinwohner. Zum Bush-Kritiker, der erwog, Senator Obama Reden zu schreiben, wurde DFW viel später.
Doch bloß weil Foster Wallace mit dem Durchschnittsbewohner des Mittleren Westens einige konservative Ansichten teilte, muss man seine Sachtexte dennoch sehr selektiv lesen, um ihn zum Kulturpessimisten zu machen. In "E Unibus Pluram", einem der bekanntesten Essays, beschreibt er die Wechselwirkung von Literatur und Fernsehen. These: Das Fernsehen hat die Techniken postmoderner Schriftsteller übernommen, das Selbstreferentielle, die Ironie, weshalb post-postmoderne Literatur mehr leisten muss, als die Unterhaltungsgesellschaft zu parodieren, denn das tut sie längst selbst. Auf keinen Fall wollte DFW aber zu den Fernsehen-verdummt-Muffköpfen gehören oder ins Prä-TV-Zeitalter zurück: Ihm war "der Nihilismus dann doch lieber als der Neandertalismus".
Foster Wallace' Schwester erzählte mal, dass sie niemanden kannte, der mehr fernsah als ihr Bruder, der Hochintelligente mit Doppelabschluss vom Elitecollege (summa cum laude). "Man kann ausruhen, während man stimuliert wird. Nehmen, ohne zu geben", schrieb er. Fernsehen war für ihn eine Droge, und wie bei vielen Drogen war er auch für diese empfänglich. Die Frage, was ihn und seine Landsleute viele Stunden am Tag vor den Bildschirm fesselte und was daraus für die Literatur folgen musste, war für ihn existentiell: Als der Essay erschien, arbeitete Foster Wallace seit mehreren Jahren an "Unendlicher Spaß".
Foster Wallace' Schluss wurde oft als Abkehr von der Ironie verstanden, einer Ironie, die das Heile-Welt-Amerika der Nachkriegszeit und seine Verlogenheit gesprengt hatte - aber keine neuen Werte bieten konnte, weil sie für nichts stand. "Die nächsten echten literarischen ,Rebellen'" könnten Antirebellen sein, glaubte DFW, "die die kindliche Unverfrorenheit mitbringen, allen Ernstes eindeutige Prinzipien aufzustellen und zu verfechten. Die schlichte, alte, unmodische menschliche Nöte und Gefühle (. . .) voller Andacht und Überzeugung behandeln." Drei Jahre später erschien "Unendlicher Spaß".
Ein Titel, der (auch) etwas anderes sagt, als er meint - mit seinem Monumentalwerk wollte DFW nicht weg von der Ironie, zumindest nicht völlig. Lieber verband er unterschiedliche Techniken, Stile, Formen und Erzählperspektiven zu einem Rauschen, das Leser nur durchdringen konnten, wenn sie einiges gaben, und "eindeutige Prinzipien" vertraten die Hauptfiguren genau zwei. Der angeschossene Don Gately weist am Ende die Schmerzmittel zurück - und damit symbolisch alle sedierenden Süchtigmacher der Ablenkungsindustrie. Hal Incandenza, ein Teenager in einer Art Locked-in-Sprachlosigkeit, hofft im ersten Kapitel, dass ihn jemand nach seiner Geschichte fragen wird, weil das Erzählen Erlösung bringt. Echte-Menschen-echte-Gefühle-Kitsch, Wir-müssen-uns-wieder-fühlen-Schwulst, der Beginn einer Neuen Empfindsamkeit? Wirklich nicht. Nichts kommt im DFW-Werk weniger vor als romantische Beziehungen, Liebe.
Aber DFW wollte mehr. Nicht nur die falschen Werte ablehnen wie die Ironie und Don Gately, sondern die zeigen, nach denen es sich in der Gegenwart leben lässt: Literatur, die hilft, "ein verdammter Mensch zu sein". Am explizitesten tat er das in seiner berühmten Rede "Das hier ist Wasser" vor Collegeabsolventen, letzter Text der Sammlung, mit der er an die Fähigkeit des Menschen appellierte, sich in jedem Moment entscheiden zu können, woran er denkt. Weil sich der ungewöhnlich einfache Text mit "Lebe bewusst" zusammenfassen lässt, wurde DFW für einen Moment zum Achtsamkeitsguru der Nation. Sein Verleger bedauerte später, dass Foster Wallace die Rede gehalten hatte. Drei Jahre nach ihr nahm sich der Lebenserklärer das Leben.
Das ist nur eines der vielen Paradoxe des DFW. Andere sind: Der brillanteste Fernsehkritiker war abhängig vom Fernsehen, er, der über die Verheerungen der Dauerironie klagte, ein großer Ironiker, bei ausverkauften Lesungen sprach er über seine Menschenscheu, für ihre Kritik an der Unterhaltungssucht unterhalten viele Texte recht gut. Und doch steht hinter dem DFW-Riesenwerk ein Wert, das eindeutige Prinzip: Aufrichtigkeit. No Bullshit. Das Versprechen der Ernsthaftigkeit, die Gewissheit, nicht verarscht zu werden (selbst wenn er einen verarschte). In einer Zeit "des so gut wie beispiellosen Zynismus und des Ekels" war er der bestmögliche Näherungswert an den schalen Begriff Held, einer, dem seine Leser glauben und an den sie glauben konnten.
Letztes Paradox. Den Wittgenstein-Anhänger Foster Wallace, der daran litt, dass nicht einmal die geliebte Sprache die soziale Isolation des Individuums durchbrechen kann, lieben DFW-Anhänger genau dafür: dass er vermitteln konnte, was es heißt, "ein verdammter Mensch zu sein".
FLORENTIN SCHUMACHER
David Foster Wallace: "Der Spaß an der Sache". Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach und Marcus Ingendaay. Kiepenheuer & Witsch, 1088 Seiten, 36 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor zehn Jahren hat sich David Foster Wallace das Leben genommen. Mit dem Abstand und einem neuen Essayband kann man noch mal nachschauen, wer der Überschriftsteller war - und was dann doch eher nicht
Riesige, hundsperfide, wahnsinnig machende Gemeinheit als Prolog: Jeden Satz dieses Textes über David Foster Wallace hätte David Foster Wallace besser geschrieben. Das wirklich Deprimierende ist aber, dass David Foster Wallace nicht nur über sich selbst mit fast unerträglicher Eleganz schrieb, sondern über so viele konturlose, unübersehbar große Dinge. Der elende Journalistenstift starrt aufs blinkende Cursormetronom. Was würde DFW tun? Zack sitzt der Journalistenstift nicht mehr am Laptop, sondern in der knallvollen DFW-Kirche, Fremdwörter, Straßenslang und Weisheit durchziehen die Litanei und vielleicht auch die schweren, süßen Schwaden von Gras.
Vor zehn Jahren, am 12. September 2008, hat David Foster Wallace sich das Leben genommen. Auf den Tod des Großen Amerikanischen Schriftstellers folgten Huldigungen praktisch aller lebenden anderen GAS, ungezählte Foreneinträge von Fans, die schrieben, wie DFW ihnen im wörtlichen Sinn das Leben gerettet habe, Biographien, ein Spielfilm, der ganze messianische Erinnerungskult, der DFW zu einer Art Grunge-Version von Jesus machte: Er, der an ihm verzweifelt war, hatte sich ersatzweise dem Zuviel der Gegenwart ausgesetzt, damit wir es nicht mussten. Amen.
Es tut gut, dass zu seinem Todestag ein Band erschienen ist, der alle DFW-Essays bündelt. Nüchternheit gegen die Verklärung. "Der Spaß an der Sache" ist ein 1088-Seiten-Klotz, der nichts Neues enthält, zumindest auf Englisch sind alle Texte in früheren Sammlungen zu lesen. Aber das erleichtert die Sache ja eher: Das literarische und journalistische Werk des DFW hat Barockhausopulenz, Prunkwörter in schwingenden Sätzen wird man noch beim x-ten Lesen entdecken, und so kann man nebenher nach Hinweisen suchen, die verraten, wie und warum DFW zum Heiland geworden ist, zum Superstar der amerikanischen Literatur, erschienen in dem Moment, als die amerikanische Literatur zweifelte, noch Superstars hervorbringen zu können.
Seit Beginn seiner Karriere als Schriftsteller schrieb Foster Wallace auch journalistische Texte für Amerikas Magazine, besonders dann, wenn er mit seiner literarischen Arbeit nicht weiterkam. Also oft. "Der Spaß an der Sache" gliedert seine Sachtexte nach Themen und beginnt mit der frühen Leidenschaft Tennis.
Zwei außergewöhnliche Gaben machten David ein paar Jahre lang zu einem hervorragenden Jugendspieler. Das Logiktalent, die tückischen Wind- und Platzverhältnisse in seiner Heimat, der flachen Provinz in Illinois, zu abstrahieren und ihre Folgen zu antizipieren. Und die "zenartige Akzeptanz der Dinge", die seine Gegner reihenweise den Schläger in die Ecke knallen ließ. Wenn DFW Jahre später den amerikanischen Tennisspieler Michael Joyce trifft, einen der hundert besten der Welt, aber zu schlecht, um bekannt zu sein, dann kann man nicht anders, als anzunehmen, dass er im Porträt auch über sich schrieb: "Die radikale Verdichtung seiner Aufmerksamkeit und seines Ichs haben ihn zu einem so überragenden Könner in seiner Kunst gemacht - was den wenigsten von uns vergönnt ist." Und: "Michael Joyce ist ein vollkommener Mensch (wenn auch auf grotesk eingeschränkte Weise). Aber er will mehr."
Seit der ersten Veröffentlichung dieser Texte sind durchschnittlich etwa zwanzig Jahre vergangen, das hat ihnen aber ihre kindliche Gegenwartslust nicht genommen. Von den Vergleichen - nie ist etwas "saphirblau", denn wer weiß, welches Blau ein Saphir hat, eher vielleicht: durchscheinend blau wie ein Windows-Desktophintergrund - über die Themen (Pornos, Kreuzfahrten, Werbesprache) zur Selbstbewusstheit des Autors und der Selbstbewusstheit der Selbstbewusstheit: Foster Wallace hatte einen so orakelhaften Weitblick, dass seine Texte mehr über die Gegenwart verraten als viele Gegenwartstexte.
"Alle Essays" heißt es auf dem Cover von "Der Spaß an der Sache". Nur ein lustiger Moment beim Lesen: Foster Wallace hatte keine Ahnung, wie er "Essay" definieren sollte, als ihn ein Verlag bat, die besten amerikanischen Essays des Jahres in seinem Namen herausgeben zu dürfen. Er unterscheidet dann zwischen Sachtexten und Literatur, wobei er dem Unterschied nicht traut. Bei beiden Textsorten "hat man das Gefühl von Drahtseilakten über Abgründen - nur die Abgründe unterscheiden sich. Der Abgrund der Literatur ist das Schweigen, nada. Der Abgrund der Sachliteratur ist das Gesamtrauschen." Das Nichts und das Reizflächenbombardement, für DFW waren sie oft das Gleiche.
Seine Methode, das Gegenwartsrauschen zu erfassen, nannte er "giant floating eyeball". Foster Wallace muss das Außen mit gnadenlosem Mitgefühl gescannt haben, sonst hätte er etwa eine Landwirtschaftsmesse nicht in dem Detailreichtum beschreiben können, dass sie beim Lesen zum Hieronymus-Bosch-Wimmelbild wird. Das Auge rotierte aber auch nach innen. Die Stimmung der Messe, die stumpfe Vergnügungsflucht ihrer Besucher, ist die von Foster Wallace wahrgenommene Stimmung, seine Wahrheit, und die steht über den Tatsachen. Sein Biograph hat haufenweise Beispiele für Erfindungen in DFWs Sachtexten aufgelistet, im Messetext ist die offensichtlichste eine Szene, in der einem jungen Mann auf einem Zipper, einer Art fieserem Riesenrad, seine Crackampulle aus der Tasche fällt, "genau auf einen State Trooper, der in der Budengasse darunter wachsam Zitroneneis aß". Als ihn ein Student fragte, warum die Messebesucher in ihrer Gleichförmigkeit "viehisch" wirkten, antwortete der Schreibdozent Foster Wallace: Wenn ihm, dem Studenten, das so ergangen sei, habe er, der Autor, "das Arschlochproblem" - der Schreiber interessiert sich mehr für sich als das zu Beschreibende.
Womit das Kratzen an der Sankt-David-Statue beginnt. Der echte DFW entsprach nicht der Ikone, die das Bildungsbürgertum auf den Platz in seiner Mitte stellte. Als junger Mann wählte er den Republikaner Ronald Reagan, seine vielen Groupies bildeten die "Bimbo-Brigade", in einem Essay von 1996, da war er 34, schrieb er über den Thrill von Aids, das Risiko, das aus Kopulieren Erotik macht. Nee. In seiner Verachtung für Journalisten, den "Stiften", die nur dumme Fragen stellen, hätte DFW seinen Zeitgenossen zur Abwechslung nicht voraus sein müssen. Zumal er selbst den Zusammenhalt seiner älteren Nachbarinnen im Mittleren Westen, in deren Kreis er den 11. September 2001 vor dem Fernseher verbrachte, mit einer Rührung beschrieb wie manche Auslandsreporter Ureinwohner. Zum Bush-Kritiker, der erwog, Senator Obama Reden zu schreiben, wurde DFW viel später.
Doch bloß weil Foster Wallace mit dem Durchschnittsbewohner des Mittleren Westens einige konservative Ansichten teilte, muss man seine Sachtexte dennoch sehr selektiv lesen, um ihn zum Kulturpessimisten zu machen. In "E Unibus Pluram", einem der bekanntesten Essays, beschreibt er die Wechselwirkung von Literatur und Fernsehen. These: Das Fernsehen hat die Techniken postmoderner Schriftsteller übernommen, das Selbstreferentielle, die Ironie, weshalb post-postmoderne Literatur mehr leisten muss, als die Unterhaltungsgesellschaft zu parodieren, denn das tut sie längst selbst. Auf keinen Fall wollte DFW aber zu den Fernsehen-verdummt-Muffköpfen gehören oder ins Prä-TV-Zeitalter zurück: Ihm war "der Nihilismus dann doch lieber als der Neandertalismus".
Foster Wallace' Schwester erzählte mal, dass sie niemanden kannte, der mehr fernsah als ihr Bruder, der Hochintelligente mit Doppelabschluss vom Elitecollege (summa cum laude). "Man kann ausruhen, während man stimuliert wird. Nehmen, ohne zu geben", schrieb er. Fernsehen war für ihn eine Droge, und wie bei vielen Drogen war er auch für diese empfänglich. Die Frage, was ihn und seine Landsleute viele Stunden am Tag vor den Bildschirm fesselte und was daraus für die Literatur folgen musste, war für ihn existentiell: Als der Essay erschien, arbeitete Foster Wallace seit mehreren Jahren an "Unendlicher Spaß".
Foster Wallace' Schluss wurde oft als Abkehr von der Ironie verstanden, einer Ironie, die das Heile-Welt-Amerika der Nachkriegszeit und seine Verlogenheit gesprengt hatte - aber keine neuen Werte bieten konnte, weil sie für nichts stand. "Die nächsten echten literarischen ,Rebellen'" könnten Antirebellen sein, glaubte DFW, "die die kindliche Unverfrorenheit mitbringen, allen Ernstes eindeutige Prinzipien aufzustellen und zu verfechten. Die schlichte, alte, unmodische menschliche Nöte und Gefühle (. . .) voller Andacht und Überzeugung behandeln." Drei Jahre später erschien "Unendlicher Spaß".
Ein Titel, der (auch) etwas anderes sagt, als er meint - mit seinem Monumentalwerk wollte DFW nicht weg von der Ironie, zumindest nicht völlig. Lieber verband er unterschiedliche Techniken, Stile, Formen und Erzählperspektiven zu einem Rauschen, das Leser nur durchdringen konnten, wenn sie einiges gaben, und "eindeutige Prinzipien" vertraten die Hauptfiguren genau zwei. Der angeschossene Don Gately weist am Ende die Schmerzmittel zurück - und damit symbolisch alle sedierenden Süchtigmacher der Ablenkungsindustrie. Hal Incandenza, ein Teenager in einer Art Locked-in-Sprachlosigkeit, hofft im ersten Kapitel, dass ihn jemand nach seiner Geschichte fragen wird, weil das Erzählen Erlösung bringt. Echte-Menschen-echte-Gefühle-Kitsch, Wir-müssen-uns-wieder-fühlen-Schwulst, der Beginn einer Neuen Empfindsamkeit? Wirklich nicht. Nichts kommt im DFW-Werk weniger vor als romantische Beziehungen, Liebe.
Aber DFW wollte mehr. Nicht nur die falschen Werte ablehnen wie die Ironie und Don Gately, sondern die zeigen, nach denen es sich in der Gegenwart leben lässt: Literatur, die hilft, "ein verdammter Mensch zu sein". Am explizitesten tat er das in seiner berühmten Rede "Das hier ist Wasser" vor Collegeabsolventen, letzter Text der Sammlung, mit der er an die Fähigkeit des Menschen appellierte, sich in jedem Moment entscheiden zu können, woran er denkt. Weil sich der ungewöhnlich einfache Text mit "Lebe bewusst" zusammenfassen lässt, wurde DFW für einen Moment zum Achtsamkeitsguru der Nation. Sein Verleger bedauerte später, dass Foster Wallace die Rede gehalten hatte. Drei Jahre nach ihr nahm sich der Lebenserklärer das Leben.
Das ist nur eines der vielen Paradoxe des DFW. Andere sind: Der brillanteste Fernsehkritiker war abhängig vom Fernsehen, er, der über die Verheerungen der Dauerironie klagte, ein großer Ironiker, bei ausverkauften Lesungen sprach er über seine Menschenscheu, für ihre Kritik an der Unterhaltungssucht unterhalten viele Texte recht gut. Und doch steht hinter dem DFW-Riesenwerk ein Wert, das eindeutige Prinzip: Aufrichtigkeit. No Bullshit. Das Versprechen der Ernsthaftigkeit, die Gewissheit, nicht verarscht zu werden (selbst wenn er einen verarschte). In einer Zeit "des so gut wie beispiellosen Zynismus und des Ekels" war er der bestmögliche Näherungswert an den schalen Begriff Held, einer, dem seine Leser glauben und an den sie glauben konnten.
Letztes Paradox. Den Wittgenstein-Anhänger Foster Wallace, der daran litt, dass nicht einmal die geliebte Sprache die soziale Isolation des Individuums durchbrechen kann, lieben DFW-Anhänger genau dafür: dass er vermitteln konnte, was es heißt, "ein verdammter Mensch zu sein".
FLORENTIN SCHUMACHER
David Foster Wallace: "Der Spaß an der Sache". Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrich Blumenbach und Marcus Ingendaay. Kiepenheuer & Witsch, 1088 Seiten, 36 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2018Auf dem Scheitelpunkt der Scheußlichkeit
David Foster Wallace hatte in seinen Essays „Spaß an der Sache“, an Kino, Porno, Politik und Tennis
Natürlich hat kein Leser auf die über 1000-seitige Neuauflage aller Essays von David Foster Wallace gewartet, die sein preisgekrönter deutscher Übersetzer Ulrich Blumenbach zusammengestellt hat. Jeder der 33 Essays, die Wallace zwischen 1990 und 2008, dem Jahr seines Selbstmords, für amerikanische Zeitschriften und Sammelbände verfasste, liegt in irgendeinem Sammelband längst vor. Andererseits war David Foster Wallace nicht irgendein Autor, sondern spätestens seit seinem 1996 erschienenen Opus magnum „Unendlicher Spaß“ einer der berühmtesten und einflussreichsten Schriftsteller der Welt, ein Literatur-Star – und als Essayist ein so furchtloser wie gefeierter Beobachter und Analytiker vor allem auch der niedrigeren kulturellen Umtriebe seiner Zeit, des Fernsehens, des Hollywood-Kinos, der Pornoindustrie, des Tourismus oder der Politik. Ein großer Überblick, zudem wenn er so umsichtig thematisch geordnet ist wie dieser, ist dann auch eine echte Chance zur Prüfung. Können die Essays vor unserer Gegenwart immer noch bestehen – und besteht unsere Gegenwart eigentlich gegenüber diesen Essays?
In ganzer Pracht ist auf jeden Fall noch einmal zu bestaunen, was Wallace auch als Essayisten so viele Verehrer unter den eigenen Freunden, den Kollegen und Kritikern, den Kulturjournalisten und Kulturwissenschaftlern einbrachte: das wache, blitzgescheite Auge auf die Höhen und Tiefen der Kunst des Schreibens, seine harte Medienkritik, seine Begeisterung für Sprach- und Wortnuancen aller Art und natürlich das erbarmungslos Selbstreflexive seiner Texte, wenn er etwa – wie im 1998 für ein kleines Schriftsteller-Magazin verfassten Essay „Der Spaß an der Sache“ – ein Buchprojekt mit einem missgebildeten Kind vergleicht und schreibt: „Die ganze Angelegenheit ist total verkorkst und traurig, gleichzeitig aber auch zärtlich, bewegend und cool – irgendwie ist es ja eine echte Beziehung –, und selbst auf dem Scheitelpunkt seiner Scheußlichkeit berührt und weckt das entstellte Kind etwas in einem, das man selbst für die besten Teile seiner selbst hält: mütterliche und dunkle Teile.“
Allerdings verblüfft ebenso immer wieder die gelegentlich erstaunlich schamlose Offenheit, mit der Wallace sich zu seinem Geltungsbedürfnis bekannte, um dann – sei es in großen Essays oder Talk-Sendungen – zu bemerken, wie wenig ihn der Ruhm schließlich doch befriedigt habe, wie traurig alles letztlich trotzdem sei. Im ersten Moment und bei hinreichend narzisstischen Lesern (aus der Verlags- und Medien-Branche zum Beispiel) geht das womöglich als Demut durch. Bei etwas stabileren Charakteren, die sich im Angesicht des Universums über ihre grundsätzliche Nichtigkeit nicht ganz so stark wundern können, wirkt es bei einem so intelligenten Mann doch eher manisch prätentiös (auch wenn man zur Verteidigung von Wallace hier nicht verschweigen darf, dass er Zeit seines Leben unter schweren Depressionen litt).
Um in dieser Ego-Kränkung eine der großen ewigen Wahrheiten zu wittern, die nur die Literatur auszudrücken vermag, muss man sehr selbstbewusst und sehr naiv durch die Welt laufen. Man sehe sich nur einmal in „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“, erschienen im Magazin Harper’s 1996, die Erklärung dafür an, warum alle Kreuzfahrten etwas „unerträglich Trauriges“ umgebe: „An Bord der Nadir überkam mich – vor allem nachts, wenn der beruhigende Spaß- und Lärmpegel seinen Tiefpunkt erreichte – regelrecht Verzweiflung. Zugegeben, das Wort Verzweiflung klingt mittlerweile ziemlich abgegriffen, doch es ist ein ernstes Wort, und ich verwende es im Ernst.“ Für ihn bedeute Verzweiflung nämlich „Todessehnsucht, aber verbunden mit dem vernichtenden Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit“.
Elend sei vielleicht der bessere Ausdruck. „Man möchte sterben, um der Wahrheit nicht ins Auge blicken zu müssen, der Wahrheit nämlich, dass man nichts weiter ist als klein, schwach und egoistisch – und dass man mit absoluter Sicherheit irgendwann sterben wird. In solchen Stunden möchte man am liebsten über Bord springen.“ An solchen Stellen merkt man leider auch, wie schlecht manches (und manchmal sogar das Berühmteste) gealtert ist. Und wie wenig häufig stimmt, was der sonst grandiose Übersetzer Blumenbach in seiner Einleitung bemerkt, dass Wallace vor allem Befindlichkeiten und Mentalitäten verstehen und herausfinden wollte, warum die „Amerikaner tickten, wie sie tickten“.
Schon richtig, er ging dahin, wo es weh tat. Aber eine ungnädige große Vivisektion des organisierten Vergnügens auf gigantischen Kreuzfahrt-Schiffen liest sich inzwischen eher etwas wohlfeil. So schön und genau erzählt hat sie seither freilich niemand mehr.
Bestens lässt sich mit dieser Sammlung auch noch einmal der eindrucksvoll sture Irrwitz besichtigen, mit dem Wallace versuchte, die Fußnote für den modernen literarischen Magazinjournalismus zu rehabilitieren. Besonders schön ist es da, wo sich Fußnoten zu sehr klein gedruckten mittelgroßen, in die Fußnoten der nächsten Seite herüberwachsenden Parallel-Essays auswachsen, es sogar Fußnoten in Klammern oder zu Fußnoten gibt und man gar nicht mehr so sicher ist, ob es wirklich stimmt, dass David Foster Wallace ein großer Kämpfer gegen die Ironie war. Denn das konnte ja unmöglich sein Ernst sein. Fußnoten in Klammern? Fußnoten zu Fußnoten?
Um das mit dem Vergnügen lesen zu können, das es oft verdient, hilft es, sich in einen Zustand größtmöglicher Neugier und geringstmögliche Ungeduld zu versetzen. Wallace begleitet einen durch seine Themen und Thesen nämlich eher wie ein Museumsführer. Seinen Gedanken und Beschreibungen folgt man besser ohne Ordnungszwang und allzu konventionelle dramaturgische Ansprüche, dafür aber mit Begeisterung für stolze Detail- und Vergleichswut aller Art. Dann sind die Fußnoten nicht Ablenkung vom Eigentlichen, Megastaudämme im Lesefluss, sondern geheimnisvolle Nebenräume, in die man noch unbedingt reinschauen muss, wenn man schon mal da ist, aha, interessant, dass weiß er also auch noch über die „ephemeren Tics“ von Tennisprofis beim Aufschlag zu berichten: „Schauen Sie nur wie sich Sampras linke Fußspitze leicht hebt, wenn er den Ball hochwirft, als hätte er plötzlich heiße Zehen bekommen.“
Oder: „McEnroes bizarre Aufschlaghaltung mit gespreizten Beinen, die Füße parallel zur Grundlinie und die Seite so schräg zum Netz, dass er an Figuren auf ägyptischen Friesen erinnert“. Oder: „Edbergs seltsame Angewohnheit, beim Wurf noch schnell den Griff am Schläger zu wechseln und vom Semi-Eastern zum Extreme-Eastern überzugehen, als wäre der Schläger eine Bratpfanne“. Oder Enqvists Angewohnheit, sich beim Werfen nach hinten zu krümmen, „als wolle er sich per Rückwärtslimbo vom Ball entfernen, weil der plötzlich übel riecht oder so“. Oder, oder, oder, oder.
Die Schleichwege und Trampelpfade, auf die man von ihm beim Lesen geführt wird, fesseln freilich auch, weil sie mit den Texthauptstraßen der typische Foster-Wallace-Stil verbindet, diese verrückt eloquente Mischung aus hohem und niederen Ton, aus analytischer Präzision und ganz lockerem, aber doch nie gedankenlosem Kumpeln. Studenten „schnallen“ dann etwa Kafkas Humor nicht, sie tun es aber, weil „wir ihnen beigebracht haben, Humor als etwas anzusehen, das man einfach ,schnallt‘.“ Kein Wunder, dass sie so Kafkas „eigentlichen Witz“ nicht würdigen könnten, dass nämlich „die schreckliche Plackerei, eine menschliche Identität auszubilden, zu einer Identität führt, deren Menschlichkeit untrennbar mit der schrecklichen Plackerei verbunden ist“.
Foster Wallace war nicht einfach bloß kundig oder „im Thema“. Das Wissen stand ihm bis zum Hals – und alles musste raus. Die gute Seite davon ist, dass er so auch mehr als einmal das ewige große Ziel des Essay-Schreibens erreicht. Man ist fast immer irgendwann bereit, die Dinge wirklich mit anderen, also mit David Foster Wallace’ Augen zu sehen.
Das versöhnt auch mit dem Narzissten Wallace. Wie wenige Autoren vor und noch viel weniger Autoren nach ihm beherrschte er die Kunst, Non-Fiction so zu schreiben, dass man sich – ganz unmittelbar, während der Lektüre seiner Texte – tatsächlich etwas weniger als bloßer „Sklave des eigenen Kopfes“ und dessen „angeborener Standardeinstellung“ fühlte. Und als etwas sensiblerer, offenerer und freierer Mensch als zuvor.
JENS-CHRISTIAN RABE
Er begleitet einen durch seine
Themen und Thesen
wie ein Museumsführer.
Man folgt seinen Gedanken
besser ohne Ordnungszwang
David Foster Wallace:
Der Spaß an der Sache – Alle Essays. Aus dem
Englischen von Ulrich
Blumenbach und Marcus Ingendaay. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
1087 Seiten, 36 Euro.
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David Foster Wallace hatte in seinen Essays „Spaß an der Sache“, an Kino, Porno, Politik und Tennis
Natürlich hat kein Leser auf die über 1000-seitige Neuauflage aller Essays von David Foster Wallace gewartet, die sein preisgekrönter deutscher Übersetzer Ulrich Blumenbach zusammengestellt hat. Jeder der 33 Essays, die Wallace zwischen 1990 und 2008, dem Jahr seines Selbstmords, für amerikanische Zeitschriften und Sammelbände verfasste, liegt in irgendeinem Sammelband längst vor. Andererseits war David Foster Wallace nicht irgendein Autor, sondern spätestens seit seinem 1996 erschienenen Opus magnum „Unendlicher Spaß“ einer der berühmtesten und einflussreichsten Schriftsteller der Welt, ein Literatur-Star – und als Essayist ein so furchtloser wie gefeierter Beobachter und Analytiker vor allem auch der niedrigeren kulturellen Umtriebe seiner Zeit, des Fernsehens, des Hollywood-Kinos, der Pornoindustrie, des Tourismus oder der Politik. Ein großer Überblick, zudem wenn er so umsichtig thematisch geordnet ist wie dieser, ist dann auch eine echte Chance zur Prüfung. Können die Essays vor unserer Gegenwart immer noch bestehen – und besteht unsere Gegenwart eigentlich gegenüber diesen Essays?
In ganzer Pracht ist auf jeden Fall noch einmal zu bestaunen, was Wallace auch als Essayisten so viele Verehrer unter den eigenen Freunden, den Kollegen und Kritikern, den Kulturjournalisten und Kulturwissenschaftlern einbrachte: das wache, blitzgescheite Auge auf die Höhen und Tiefen der Kunst des Schreibens, seine harte Medienkritik, seine Begeisterung für Sprach- und Wortnuancen aller Art und natürlich das erbarmungslos Selbstreflexive seiner Texte, wenn er etwa – wie im 1998 für ein kleines Schriftsteller-Magazin verfassten Essay „Der Spaß an der Sache“ – ein Buchprojekt mit einem missgebildeten Kind vergleicht und schreibt: „Die ganze Angelegenheit ist total verkorkst und traurig, gleichzeitig aber auch zärtlich, bewegend und cool – irgendwie ist es ja eine echte Beziehung –, und selbst auf dem Scheitelpunkt seiner Scheußlichkeit berührt und weckt das entstellte Kind etwas in einem, das man selbst für die besten Teile seiner selbst hält: mütterliche und dunkle Teile.“
Allerdings verblüfft ebenso immer wieder die gelegentlich erstaunlich schamlose Offenheit, mit der Wallace sich zu seinem Geltungsbedürfnis bekannte, um dann – sei es in großen Essays oder Talk-Sendungen – zu bemerken, wie wenig ihn der Ruhm schließlich doch befriedigt habe, wie traurig alles letztlich trotzdem sei. Im ersten Moment und bei hinreichend narzisstischen Lesern (aus der Verlags- und Medien-Branche zum Beispiel) geht das womöglich als Demut durch. Bei etwas stabileren Charakteren, die sich im Angesicht des Universums über ihre grundsätzliche Nichtigkeit nicht ganz so stark wundern können, wirkt es bei einem so intelligenten Mann doch eher manisch prätentiös (auch wenn man zur Verteidigung von Wallace hier nicht verschweigen darf, dass er Zeit seines Leben unter schweren Depressionen litt).
Um in dieser Ego-Kränkung eine der großen ewigen Wahrheiten zu wittern, die nur die Literatur auszudrücken vermag, muss man sehr selbstbewusst und sehr naiv durch die Welt laufen. Man sehe sich nur einmal in „Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich“, erschienen im Magazin Harper’s 1996, die Erklärung dafür an, warum alle Kreuzfahrten etwas „unerträglich Trauriges“ umgebe: „An Bord der Nadir überkam mich – vor allem nachts, wenn der beruhigende Spaß- und Lärmpegel seinen Tiefpunkt erreichte – regelrecht Verzweiflung. Zugegeben, das Wort Verzweiflung klingt mittlerweile ziemlich abgegriffen, doch es ist ein ernstes Wort, und ich verwende es im Ernst.“ Für ihn bedeute Verzweiflung nämlich „Todessehnsucht, aber verbunden mit dem vernichtenden Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit“.
Elend sei vielleicht der bessere Ausdruck. „Man möchte sterben, um der Wahrheit nicht ins Auge blicken zu müssen, der Wahrheit nämlich, dass man nichts weiter ist als klein, schwach und egoistisch – und dass man mit absoluter Sicherheit irgendwann sterben wird. In solchen Stunden möchte man am liebsten über Bord springen.“ An solchen Stellen merkt man leider auch, wie schlecht manches (und manchmal sogar das Berühmteste) gealtert ist. Und wie wenig häufig stimmt, was der sonst grandiose Übersetzer Blumenbach in seiner Einleitung bemerkt, dass Wallace vor allem Befindlichkeiten und Mentalitäten verstehen und herausfinden wollte, warum die „Amerikaner tickten, wie sie tickten“.
Schon richtig, er ging dahin, wo es weh tat. Aber eine ungnädige große Vivisektion des organisierten Vergnügens auf gigantischen Kreuzfahrt-Schiffen liest sich inzwischen eher etwas wohlfeil. So schön und genau erzählt hat sie seither freilich niemand mehr.
Bestens lässt sich mit dieser Sammlung auch noch einmal der eindrucksvoll sture Irrwitz besichtigen, mit dem Wallace versuchte, die Fußnote für den modernen literarischen Magazinjournalismus zu rehabilitieren. Besonders schön ist es da, wo sich Fußnoten zu sehr klein gedruckten mittelgroßen, in die Fußnoten der nächsten Seite herüberwachsenden Parallel-Essays auswachsen, es sogar Fußnoten in Klammern oder zu Fußnoten gibt und man gar nicht mehr so sicher ist, ob es wirklich stimmt, dass David Foster Wallace ein großer Kämpfer gegen die Ironie war. Denn das konnte ja unmöglich sein Ernst sein. Fußnoten in Klammern? Fußnoten zu Fußnoten?
Um das mit dem Vergnügen lesen zu können, das es oft verdient, hilft es, sich in einen Zustand größtmöglicher Neugier und geringstmögliche Ungeduld zu versetzen. Wallace begleitet einen durch seine Themen und Thesen nämlich eher wie ein Museumsführer. Seinen Gedanken und Beschreibungen folgt man besser ohne Ordnungszwang und allzu konventionelle dramaturgische Ansprüche, dafür aber mit Begeisterung für stolze Detail- und Vergleichswut aller Art. Dann sind die Fußnoten nicht Ablenkung vom Eigentlichen, Megastaudämme im Lesefluss, sondern geheimnisvolle Nebenräume, in die man noch unbedingt reinschauen muss, wenn man schon mal da ist, aha, interessant, dass weiß er also auch noch über die „ephemeren Tics“ von Tennisprofis beim Aufschlag zu berichten: „Schauen Sie nur wie sich Sampras linke Fußspitze leicht hebt, wenn er den Ball hochwirft, als hätte er plötzlich heiße Zehen bekommen.“
Oder: „McEnroes bizarre Aufschlaghaltung mit gespreizten Beinen, die Füße parallel zur Grundlinie und die Seite so schräg zum Netz, dass er an Figuren auf ägyptischen Friesen erinnert“. Oder: „Edbergs seltsame Angewohnheit, beim Wurf noch schnell den Griff am Schläger zu wechseln und vom Semi-Eastern zum Extreme-Eastern überzugehen, als wäre der Schläger eine Bratpfanne“. Oder Enqvists Angewohnheit, sich beim Werfen nach hinten zu krümmen, „als wolle er sich per Rückwärtslimbo vom Ball entfernen, weil der plötzlich übel riecht oder so“. Oder, oder, oder, oder.
Die Schleichwege und Trampelpfade, auf die man von ihm beim Lesen geführt wird, fesseln freilich auch, weil sie mit den Texthauptstraßen der typische Foster-Wallace-Stil verbindet, diese verrückt eloquente Mischung aus hohem und niederen Ton, aus analytischer Präzision und ganz lockerem, aber doch nie gedankenlosem Kumpeln. Studenten „schnallen“ dann etwa Kafkas Humor nicht, sie tun es aber, weil „wir ihnen beigebracht haben, Humor als etwas anzusehen, das man einfach ,schnallt‘.“ Kein Wunder, dass sie so Kafkas „eigentlichen Witz“ nicht würdigen könnten, dass nämlich „die schreckliche Plackerei, eine menschliche Identität auszubilden, zu einer Identität führt, deren Menschlichkeit untrennbar mit der schrecklichen Plackerei verbunden ist“.
Foster Wallace war nicht einfach bloß kundig oder „im Thema“. Das Wissen stand ihm bis zum Hals – und alles musste raus. Die gute Seite davon ist, dass er so auch mehr als einmal das ewige große Ziel des Essay-Schreibens erreicht. Man ist fast immer irgendwann bereit, die Dinge wirklich mit anderen, also mit David Foster Wallace’ Augen zu sehen.
Das versöhnt auch mit dem Narzissten Wallace. Wie wenige Autoren vor und noch viel weniger Autoren nach ihm beherrschte er die Kunst, Non-Fiction so zu schreiben, dass man sich – ganz unmittelbar, während der Lektüre seiner Texte – tatsächlich etwas weniger als bloßer „Sklave des eigenen Kopfes“ und dessen „angeborener Standardeinstellung“ fühlte. Und als etwas sensiblerer, offenerer und freierer Mensch als zuvor.
JENS-CHRISTIAN RABE
Er begleitet einen durch seine
Themen und Thesen
wie ein Museumsführer.
Man folgt seinen Gedanken
besser ohne Ordnungszwang
David Foster Wallace:
Der Spaß an der Sache – Alle Essays. Aus dem
Englischen von Ulrich
Blumenbach und Marcus Ingendaay. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
1087 Seiten, 36 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Arno Widmann entdeckt die schöpferische Technik von David Foster Wallace. Die hier versammelten Essays machen dem Rezensenten klar, wie sehr gerade das Werk dieses Autors dem Kampf mit dem Leben abgerungen ist. Ob es die Einladung zur Empathie ist, die Wallace in einer Rede an einem College aussprach, oder die Gedanken zum Werk von Jorge Luis Borges - stets spürt Widmann die in der Tiefe drohenden Kräfte unter der Oberfläche des Gedankens. Für Widmann sind das von einem Menschen gemachte Texte, keine Kleinigkeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Das Buch ist ein Denkmal und gehört in jedes Bücherregal.« Thea Dorn ZDF Das literarische Quartett 20181012