»Am New Market stehen in einem Korb zwei weiße Hähne mit sichelförmigem Schwanz, rotgezackten, durchscheinenden, in die Höhe stehenden Kämmen, die bei jeder Bewegung gummiartig zur Seite kippen. Rundum sind die brennenden Glühbirnen mit Silberpapier ummantelt, damit das Licht konzentriert auf die aufgestapelten Papayas, Mangos und auf die Früchte der Ananas aus Kerala fällt.« So lautet eine der Kapitelüberschriften – und gleich sind wir mittendrin in der Überfülle der Beobachtungen und kleinsten Geschichten, die Josef Winkler notiert hat.
Den Indienfahrer hat es diesmal nicht nach Varanasi zu den Einäscherungsstätten am heiligen Ganges, sondern nach Kalkutta verschlagen. Dort nimmt er uns mit auf seine Touren durch die Stadt – immer wieder hinein in das elektrisierende, bunt verwirrende Treiben auf einem großen Lebensmittelmarkt; leuchtendes Indien.
Dann auch hier zum Einäscherungsort am heiligen Fluss (dem Hooghli) und schließlich zur herzzerreißenden Opferung vieler kleiner weißer Ziegen. Darunter die Lieblingstiere von Kindern, die diese in Begleitung der Eltern heranführen, damit im finsteren Tempel die Göttin Kali ihr Blut trinken kann; dunkles Indien.
Den Indienfahrer hat es diesmal nicht nach Varanasi zu den Einäscherungsstätten am heiligen Ganges, sondern nach Kalkutta verschlagen. Dort nimmt er uns mit auf seine Touren durch die Stadt – immer wieder hinein in das elektrisierende, bunt verwirrende Treiben auf einem großen Lebensmittelmarkt; leuchtendes Indien.
Dann auch hier zum Einäscherungsort am heiligen Fluss (dem Hooghli) und schließlich zur herzzerreißenden Opferung vieler kleiner weißer Ziegen. Darunter die Lieblingstiere von Kindern, die diese in Begleitung der Eltern heranführen, damit im finsteren Tempel die Göttin Kali ihr Blut trinken kann; dunkles Indien.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.12.2019Wo es wehtut
Josef Winklers Blick auf Kalkutta
Seit dem Buch "Domra" (1996), in dem er minutiös die Vorgänge auf den Verbrennungsstätten am Ganges-Ufer von Benares notierte, hat sich Josef Winklers Blick auf Indien nicht geändert. Inzwischen hat er sich aber von Kalkutta faszinieren lassen. Im Jahr 2006 war er vom Goethe-Institut nach Indien eingeladen worden, und er hatte sich entschieden, einen Monat in der Metropole zu verbringen. Nicht dass er Kalkutta verstehen wollte, seine Gesellschaft, Kultur und Geschichte - ein Bestreben, das zum Beispiel Günter Grass dreimal dorthin geführt hatte. Winkler suchte stattdessen, wie schon in Benares, die ekelhaften, offen grausamen, menschen- und tierverachtenden, von Tod und Verwesung und Verstümmelung gezeichneten Orte auf.
In Kalkutta waren dies Nimtala, ein Verbrennungsplatz am Ganges, der Kali-Tempel und die große Markthalle von New Market. Da ist Winkler Tag für Tag umhergestreift und hat sofort jede Beobachtung in seine Notizhefte eingetragen. Ziegen werden dutzendfach geköpft, Hühner geschlachtet, die danach noch zucken und schreien, Leichen von Hunden angenagt, und die Menschen sind in tumber Gleichgültigkeit Mithandelnde. Aufzeichnungen dieser Art sind über die Jahre in drei Bänden einer Faksimile-Ausgabe erschienen. Das gegenwärtige Buch ist nun offenbar eine Zusammenstellung von Exzerpten.
Wie Winkler schreibt, suchte er in Kalkutta "Bilder" und "Geschichten". Seine Notate sind aneinandergereihte Momentaufnahmen, die ohne Wertung nüchtern und emotionslos registriert werden. Religiöse oder gesellschaftliche Zusammenhänge und menschliche Beweggründe aufzudecken, das Geschaute zu interpretieren und dadurch zu relativieren ist nicht sein Anliegen. Es gilt allein das faszinierte Nichtwegschauenkönnen des Europäers, dessen stierer Blick auf die Einzelheiten. Sie reiht Winkler mit einem sturen Stakkatorhythmus aneinander, auch oft sich wiederholend und ähnliche Momente immer neu darstellend, so dass er bei den Lesern eine Betäubung des Zuviel, einen Taumel hervorruft, in dem das ästhetische und moralische Bewusstsein suspendiert wird, damit ein Weiterlesen möglich ist.
Legt es Josef Winkler gerade darauf an? Wäre seine Prosa sensationslüstern, effekthascherisch, könnte man sie als schlechte Illustriertentexte beiseitelegen. So aber erfährt man einen aufwühlenden Zwiespalt bei der Frage, wie man der Winkler'schen Realität gerecht werden soll.
MARTIN KÄMPCHEN
Josef Winkler:
"Der Stadtschreiber von Kalkutta".
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2019.
105 S., geb., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Josef Winklers Blick auf Kalkutta
Seit dem Buch "Domra" (1996), in dem er minutiös die Vorgänge auf den Verbrennungsstätten am Ganges-Ufer von Benares notierte, hat sich Josef Winklers Blick auf Indien nicht geändert. Inzwischen hat er sich aber von Kalkutta faszinieren lassen. Im Jahr 2006 war er vom Goethe-Institut nach Indien eingeladen worden, und er hatte sich entschieden, einen Monat in der Metropole zu verbringen. Nicht dass er Kalkutta verstehen wollte, seine Gesellschaft, Kultur und Geschichte - ein Bestreben, das zum Beispiel Günter Grass dreimal dorthin geführt hatte. Winkler suchte stattdessen, wie schon in Benares, die ekelhaften, offen grausamen, menschen- und tierverachtenden, von Tod und Verwesung und Verstümmelung gezeichneten Orte auf.
In Kalkutta waren dies Nimtala, ein Verbrennungsplatz am Ganges, der Kali-Tempel und die große Markthalle von New Market. Da ist Winkler Tag für Tag umhergestreift und hat sofort jede Beobachtung in seine Notizhefte eingetragen. Ziegen werden dutzendfach geköpft, Hühner geschlachtet, die danach noch zucken und schreien, Leichen von Hunden angenagt, und die Menschen sind in tumber Gleichgültigkeit Mithandelnde. Aufzeichnungen dieser Art sind über die Jahre in drei Bänden einer Faksimile-Ausgabe erschienen. Das gegenwärtige Buch ist nun offenbar eine Zusammenstellung von Exzerpten.
Wie Winkler schreibt, suchte er in Kalkutta "Bilder" und "Geschichten". Seine Notate sind aneinandergereihte Momentaufnahmen, die ohne Wertung nüchtern und emotionslos registriert werden. Religiöse oder gesellschaftliche Zusammenhänge und menschliche Beweggründe aufzudecken, das Geschaute zu interpretieren und dadurch zu relativieren ist nicht sein Anliegen. Es gilt allein das faszinierte Nichtwegschauenkönnen des Europäers, dessen stierer Blick auf die Einzelheiten. Sie reiht Winkler mit einem sturen Stakkatorhythmus aneinander, auch oft sich wiederholend und ähnliche Momente immer neu darstellend, so dass er bei den Lesern eine Betäubung des Zuviel, einen Taumel hervorruft, in dem das ästhetische und moralische Bewusstsein suspendiert wird, damit ein Weiterlesen möglich ist.
Legt es Josef Winkler gerade darauf an? Wäre seine Prosa sensationslüstern, effekthascherisch, könnte man sie als schlechte Illustriertentexte beiseitelegen. So aber erfährt man einen aufwühlenden Zwiespalt bei der Frage, wie man der Winkler'schen Realität gerecht werden soll.
MARTIN KÄMPCHEN
Josef Winkler:
"Der Stadtschreiber von Kalkutta".
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2019.
105 S., geb., 14,- [Euro].
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»Indiens wahnwitzige, zwischen Merkantilem und Spirituellem schwirrende Präsenz hält Winkler fest: in seinen mit blauer Tinte geschriebenen indischen Notizbüchern ... « Peter von Becker Der Tagesspiegel 20190516