Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Reformvorschlag für das unterste Sicherheitsnetz
Der Ökonom Ronnie Schöb ist kein Eiferer. Bevor er in seinem Buch zu einer detaillierten Kritik am deutschen Sozialstaat ansetzt, schlägt er den grundsätzlichen Ton an - und der ist angenehm moderat: In der Corona-Pandemie habe sich einmal mehr gezeigt, dass wir Deutschen uns in existentiellen Großkrisen auf unseren Sozialstaat verlassen könnten. In Amerika habe gerade dessen Fehlen eine schnelle Eindämmung des Virus verhindert, etwa weil in Not geratene Bürger aus Angst vor Arbeitsplatzverlust auch mit leichten Krankheitsanzeichen noch zur Arbeit gingen: "Verglichen mit den meisten anderen Ländern der Welt, ist der deutsche Sozialstaat im Kern gut aufgestellt", schreibt der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin.
Aber: Der deutsche Sozialstaat muss dennoch reformiert werden, ist der Finanzwissenschaftler überzeugt, und zwar an einer ganz bestimmten Stelle: der Grundsicherung für in Not gerate Menschen. Es geht ihm also um das unterste soziale Sicherungsnetz, das Menschen auffangen soll, wenn alle anderen Stricke im Leben reißen. Schöb nennt es das "Herz des Sozialstaats". Er will es stärken, wobei stärken für ihn nicht einfach das Erhöhen der Transferzahlungen bedeutet, sondern das Setzen der richtigen Anreize - vor allem Anreize zur Selbsthilfe. Er bekennt sich zum Prinzip "Fördern und Fordern" und zeigt sich damit auch als ausdrücklicher Befürworter der Hartz'schen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen, die - wie er zu Recht bedauert - "im Zuge vieler irreführenden Debatten oft wieder zurückgeschraubt wurden".
Die politischen Forderungen von links, die mehr staatliche Fürsorge fordern, aber keine Selbsthilfe einfordern, hält er für falsch. Von Ideen wie dem bedingungslosen Grundeinkommen hält er gar nichts. Großzügigkeit allein sei kein Kennzeichen eines starken Sozialstaats. Ihm geht es darum, zielgenau zu helfen, nicht mit der Gießkanne. Wer arbeitet, soll stets mehr Einkommen haben als ein Arbeitsloser, und wer viel arbeitet, soll auch mehr haben als jemand, der wenig arbeitet. Die heute geltenden Hinzuverdienstregeln versprächen aber viel, wenn jemand wenig arbeitet, und wenig, wenn jemand viel arbeitet, schreibt Schöb in seiner lesenswerten Analyse: Es sollte genau umgekehrt sein. "Wenn wir wollen, dass jemand auf eigenen Beinen steht, dann geht das nur, wenn er mehr arbeitet als ein paar Stunden in der Woche."
Wenig hält er daher auch von Minijobs. Sie seien ein "Relikt aus einer Zeit in der noch Vollbeschäftigung herrschte". Viele Hilfsempfänger gingen heute zwar einer geringfügigen Beschäftigung nach, doch die Anreize, darüber hinaus zu arbeiten, seien oft zu gering, weil ihnen, sobald sie mehr arbeiten, Leistungen gekürzt würden. Es brauche mehr Anreize, einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitstelle nachzugehen. Besonders schwierig sei die Anreizsituation für Familien mit Kindern. Er beklagt auch vielfach willkürliche Sprungstellen, bei denen Mehrarbeit richtig bestraft wird. Zudem kritisiert er das Förderwirrwar - das sich auch wieder vor allem bei Arbeitslosen mit Kindern zeige. Seine Argumente untermauert Schöb mit etlichen Beispielrechnungen und Grafiken, an manchen Stellen sind es fast zu viele. Auch mit der Konzentration auf wenige, dafür ausgewählt aussagekräftige Grafiken wäre die Argumentationslinie wohl noch verständlich geblieben.
Statt den Sozialstaat zu einer Art Versicherung gegen fast alle Gefahren des Lebens auszubauen, sollte er sich auf seine Kernaufgabe konzentrieren: Unser Versprechen, uns gegenseitig zu helfen, wenn wir unverschuldet in Not geraten, aber jeder sich auch selbst helfen muss, so gut er kann. Stattdessen würden dem Staat und den Sozialversicherungen immer mehr Aufgaben aufgebürdet, die nicht zu deren Aufgaben gehörten, mahnt Schöb, oft weil politisch gut organisierte Gruppen ihre Eigeninteressen durchsetzten: etwa beim Baukindergeld oder den kostenlosen Kitaplätzen. Auch die von der SPD vorangetriebene Grundrente nennt er klassische Klientelpolitik.
Er plädiert für eine neue Grundsicherungsarchitektur mit drei Grundpfeilern: Der erste Pfeiler dient zur Absicherung des alltäglichen Bedarfs von Arbeitslosen - ähnlich wie das Arbeitslosengeld II heute, allerdings mit anderen Hinzuverdienstmöglichkeiten: Minijobs sollen unattraktiv werden, dafür sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeit attraktiver. Der zweite Pfeiler soll den Bedarf der Kinder von Arbeitslosen sichern. Hier plädiert er für eine eigenständige Kindergrundsicherung unabhängig vom Alter der Kinder, die aber versteuert werden muss. Sprungstellen in der Förderung, wie es sie heute beim Übergang vom Arbeitslosengeld II zum Kinderzuschlag gibt, sollen eliminiert werden. Der dritte Pfeiler soll den Wohnbedarf abdecken. Auch hier geht es ihm darum, Sprungstellen zu eliminieren.
Ein sehr interessantes Kapitel des Buches widmet sich der Frage, inwiefern der Sozialstaat Migranten zur Verfügung stehen soll. Hier geht es um das schwierige Problem, wie abgemildert werden kann, dass der Sozialstaat wie ein Magnet auf Geringqualifizierte wirkt - ein Problem das viele Linke nicht sehen wollen und viele Konservative zum Schließen der Grenzen animiert. Schöb bleibt liberal offen, Freizügigkeit ist ihm wichtig, er plädiert aber dafür, den Zugang zu den Leistungen des Sozialstaats - speziell die steuerfinanzierte Grundsicherung - stärker einzuschränken. Für EU-Bürger müsse in den ersten Jahren nach dem Umzug das Heimatlandprinzip statt des Wohnsitzlandprinzips angewendet werden: Wer bedürftig ist, soll seine Ansprüche auf Hilfe an sein früheres Heimatland richten statt sofort an sein neues Wohnland.
TILLMANN NEUSCHELER
Ronnie Schöb: Der starke Sozialstaat - Weniger ist mehr. Campus Verlag, Frankfurt 2020, 288 Seiten, 28 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main