Familie Barnes steckt in Schwierigkeiten. Dickie Barnes' lukratives Autogeschäft läuft nicht mehr. Aber anstatt sich dem Problem zu stellen, beginnt er in den Wäldern einen Bunker zu bauen. Seiner Frau Imelda, die ihren Schmuck auf eBay verkauft, erscheinen die Avancen von Big Mike, dem reichen Rinderzüchter, immer attraktiver. Die achtzehnjährige Cass, die immer die Klassenbeste war, reagiert auf den Niedergang, indem sie beschließt sich bis zu ihrem Abschluss jeden Tag zu betrinken, während der zwölfjährige PJ einen Plan schmiedet, um von zu Hause abzuhauen. Wenn das Leben und die Welt auseinanderfallen, stellen sich die großen Fragen: Wann und warum begann der Untergang? Was hätte man tun können und wie weit müsste man zurückgehen, wenn man die Geschichte ändern könnte? Bis zu dem Tag als Dickie Barnes zehnjährig zitternd vor seinem Vater stand und lernte, wie man ein richtiger Mann wird? Bis zu dem Autounfall zwölf Monate vor Cass' Geburt? Oder bis zu dem verheerenden Stich der Biene, der Imeldas Hochzeitstag ruinierte?
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Kai Sina ist beeindruckt von Paul Murrays 700-seitigem Familien- und Verfallsroman, der das Handy in den Fokus rückt. Anders als in Daniel Kehlmanns thematisch verwandtem "Ruhm" von 2009 greife bei Murray nicht mehr das Handy in die Realität, sondern andersherum die Realität in die digitale Welt ein, stellt Sina fasziniert fest - so verfangen seien die Mitglieder der (einstigen) Wohlstandsfamilie Barnes in ihre Smartphones: die Mutter lässt sich durch immer neue Werbeangebote verführen, der Vater wird durch digitale Sextapes erpresst, der Sohn Opfer von Cybergrooming. Wie radikal Murray diese Abhängigkeit werden lässt und sie eigentlich als noch wichtiger für den Verfall der Familie darstellt als sämtliche generationenübergreifende Traumata, um die es ebenfalls geht, imponiert dem Kritiker. Außerdem lobt er Murrays erzählerisches Verfahren, in dem das Geschehen - manchmal auch die gleichen Szenen - in jedem Kapitel aus einer anderen Perspektive erfasst wird. Ein "starker" Gegenwartsroman, ganz ohne "kulturkritische Denkfaulheit", schließt Sina anerkennend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.07.2024Sommer mit der
ganzen Familie
Jonathan Franzen wird sich irgendwann dafür verantworten müssen, dass er den multiperspektivischen, ausschweifenden Dysfunktionale-Familien-Roman wieder marktreif gemacht hat. Allerdings eignen sich die Trümmer, die seither von okayen bis grässlichen Kopisten geschrieben werden, bestens als Sommerlektüre. Und ab und zu ist sogar ein echtes Fruchtstück dabei. Was Paul Murray hier auf 700 Seiten über die irische Provinzfamilie Barnes erzählt, über das abenteuerliche Chaos hinter der Elternehe, die Verwicklungen um die vom Großvater geerbte Autowerkstatt und die Generation-Z-Malaisen der Kinder – das hat eine rasante literarische Selbstironie, die ähnlichen Versuchen oft fehlt. Dass es im Kern darum geht, wie man als sozialer Verbund auf die Herausforderungen der apokalyptischen Inflations-Klimawandel-Gegenwart reagieren kann, macht „Der Stich der Biene“ gleich noch zum Gesellschaftsroman des Jahres, mindestens.
JOACHIM HENTSCHEL
Paul Murray:
Der Stich der Biene.
Roman. Aus dem
Amerikanischen von
Wolfgang Müller.
Verlag Antje Kunstmann, München 2024.
700 Seiten, 30 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
ganzen Familie
Jonathan Franzen wird sich irgendwann dafür verantworten müssen, dass er den multiperspektivischen, ausschweifenden Dysfunktionale-Familien-Roman wieder marktreif gemacht hat. Allerdings eignen sich die Trümmer, die seither von okayen bis grässlichen Kopisten geschrieben werden, bestens als Sommerlektüre. Und ab und zu ist sogar ein echtes Fruchtstück dabei. Was Paul Murray hier auf 700 Seiten über die irische Provinzfamilie Barnes erzählt, über das abenteuerliche Chaos hinter der Elternehe, die Verwicklungen um die vom Großvater geerbte Autowerkstatt und die Generation-Z-Malaisen der Kinder – das hat eine rasante literarische Selbstironie, die ähnlichen Versuchen oft fehlt. Dass es im Kern darum geht, wie man als sozialer Verbund auf die Herausforderungen der apokalyptischen Inflations-Klimawandel-Gegenwart reagieren kann, macht „Der Stich der Biene“ gleich noch zum Gesellschaftsroman des Jahres, mindestens.
JOACHIM HENTSCHEL
Paul Murray:
Der Stich der Biene.
Roman. Aus dem
Amerikanischen von
Wolfgang Müller.
Verlag Antje Kunstmann, München 2024.
700 Seiten, 30 Euro.
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