»Das Besondere an den besten Lethem-Romanen ist, dass sie so viel Spaß machen.« The Guardian Seit dem Stillstand lebt Journeyman zurückgezogen mit seiner Schwester Maddy auf einem Bio-Bauernhof in Maine. Der Stillstand kam plötzlich. Autos, Waffen, Computer und Flugzeuge funktionierten nicht mehr und schon war die Gesellschaft im Eimer. Was ganz okay ist, bis Todbaum mit seinem irren Atom-Gefährt auftaucht. Hochamüsant, äußerst gegenwärtig - Lethem at his best! Vor dem Stillstand hatte Journeyman ein gutes Leben, nun hilft er dem Metzger von East Tindwerwick in Maine und liefert die Lebensmittel aus, die seine Schwester Maddy auf ihrer Bio-Farm anbaut. Doch dann taucht sein alter Freund Todbaum wieder auf, mit einem Fahrzeug namens Blue Streak: einem atombetriebenen Tunnelbagger. Todbaum ist einer der mächtigsten Männer in Hollywood, seine Motive sind unklar, aber seine Art ist so unangenehm wie eh und je. Was auch immer Todbaume vorhat, es könnte an Journeyman liegen, ihn aufzuhalten. Der Stillstand vereint knisternde Prosa, schnellen Witz und ein großes Herz.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit "Der Stillstand" ist Jonathan Lethem ein sehr unterhaltsam zu lesender, vielschichtiger Roman gelungen, urteilt Rezensentin Rosa-Maria Gropp. Lethem konfrontiert Journeyman, den sympathisch-naiven (Anti-)Helden seiner früheren Romane, mit dem plötzlichen Funktionsstopp aller Elektrogeräte, benzinbetriebenen Maschinen etc. In dieser postapokalyptsichen Welt lebt Journeyman zusammen mit seiner Schwester Maddy als Schlachtergehilfe in einer Selbstversorgerenklave in Maine ein verhältnismäßig ruhiges Leben. Dann allerdings taucht Todbaume, dem Journeyman vor dem Stillstand in Hollywood behilflich war, mit einem rätselhaften Fahrzeug, einer "KI", auf. Gropp hat sich bestens amüsiert, wie es aussieht. Daneben imponiert ihr die Belesenheit Lethems, die sich ihr zum Beispiel in einem verdeckten literaturkritischen Exkurs zu Cormac McCarthys Roman "Die Straße" zeigt. Unbedingt eine Leseempfehlung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.02.2024Schluss mit Bananen und Rihanna
Allen, die sich wünschen, endlich mal so richtig abzuschalten, erfüllt Jonathan Lethem mit dem Roman „Der Stillstand“ einen Traum.
In jeder postapokalyptischen Fantasie steckt eine Pastorale, die eine Sehnsucht nach der Reinheit des Urzustands und der Befreiung vom Stress der Tech-Moderne bedient. Das ist die autodestruktive Seite der Nachhaltigkeitsmoral, die bei den meisten Linken und Progressiven beim Erwachsenwerden die Identitätspolitik ablöst. Wer wäre geeigneter, daraus einen Roman zu machen, als Jonathan Lethem, Meister des ironischen Subtexts und vor allem lange Jahre Bürger jenes Teils von Brooklyn, in dem diese Lebenshaltung ihr Zentrum hat.
Auch in seinem aktuellen Roman hat er wieder eine Figur gefunden, die nicht zum Helden taugt und gerade deswegen so glaubwürdig in eine Welt passt, die man sonst aus dem Kino kennt. Sein Tourette-geplagter Detektiv Lionel Essrog aus „Motherless Brooklyn“ war so einer oder der tödlich erkrankte Backgammon-Hustler Alexander Bruno aus „Anatomie eines Spielers“. Diesmal ist es Alexander Duplessis, den alle „Journeyman“ nennen, ein Skript Doctor aus Hollywood. Den hat der „Stillstand“ des Zusammenbruchs der Zivilisation beim Besuch seiner Schwester Madeleine auf einer Selbstversorgerfarm in einem Nordostküstendorf ganz gut erwischt.
Es ist keine Zombie- und auch keine Katastrophen-Apokalypse. Aus ungeklärten Gründen gaben zuerst sämtliche Elektrogeräte ihren Geist auf, dann alle Benzin-getriebenen Maschinen und schließlich die Schusswaffen. Niemand weiß, warum. Es ist einfach so. Und weil Alexander „Journeyman“ Duplessis nichts besonders gut kann, ein deutliches Defizit an Zivilcourage hat und auch nicht lernfähig ist, was die Fertigkeiten angeht, die man in diesem mit einem Male wieder prä-industriellen Amerika brauchen könnte, verdingt er sich in der Dorfgemeinschaft als Botenjunge und Gehilfe des Schlachters.
Lethem hat in einem Interview mal beschrieben, wie er selbst sich seine Rolle als Schriftsteller in der Postapokalypse vorstellen würde: „Das ist dann erst einmal so: ‚Du baust das Essen an, du machst das Feuer, du räumst die Straße, und ich schreibe die Romane!‘ Ich glaube, es würde nicht lange dauern, bis mir jemand sagen würde: ‚Wir brauchen heute eigentlich keinen Roman, aber wir könnten Hilfe beim Aufräumen gebrauchen.‘“
Auch Journeyman hat das Schreiben aufgegeben. Zu Beginn führt er ein etwas fades, aber zufriedenes Leben, wie es sich so viele aus dem Moralbürgertum jener Vergangenheit erträumten, die die Gegenwart der Leserschaft ist und für die Figuren des Buchs eine blasse Erinnerung. Es mag rau sein, das Leben in dieser Enklave im Nordosten Amerikas, aber alle werden satt und es geht ihnen eigentlich ganz gut. Die Verteidigung hat eine Horde Bewaffneter übernommen, die in jeden „Mad Max“-Film passen würde, sich aber nur selten blicken lässt. Die Dörfler nennen sie die Kordonisten und bezahlen sie mit Lebensmitteln dafür, dass sie die Gewalt der postapokalyptischen Welt an sie auslagern dürfen. So haben sie ihre Ruhe und nicht einmal eine Ahnung, was für Kämpfe da draußen toben.
Bis zu jenem Tag, der alles und auch Journeymans Leben verändert, weil es seine Vergangenheit ist, die die Dorfgemeinschaft da in Form eines Monsters von Wagen mit Atomantrieb und Chromhülle ereilt. Obendrauf in einer Kuppel aus Glas sitzt Peter Todbaum am Steuer, die Schlüsselfigur aus Journeymans früherer Existenz in Hollywood. Und so wird alles anders. Was nicht verraten werden soll, weil Jonathan Lethem nicht nur die Ironie und die Parabel beherrscht, sondern auch eine Erzählform, die die Handlung mit einem Tempo in immer größeren Trubel treibt, was oft an dicke Comicbände oder dreistündige Blockbusterfilme erinnert. Zu viel Exegese würde den Spaß nur verderben.
Eines kann man trotzdem noch verraten. Es gibt eine zweite Handlungsebene, in der Lethem die Dynamik zwischen Journeyman, seiner Schwester Madeleine und Todbaum im Hollywood der jüngeren, aber unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit auf Touren bringt. Todbaum und Journeyman leben da zu Beginn eine Zeit lang in den Starlet-Apartments, einem jener flachen motelhaften Komplexe rund um einen Swimmingpool, in dem im echten Los Angeles so viele von einer Karriere im Filmgeschäft träumen. Sie schreiben Drehbücher, die niemand dreht. Aber bald schon heben sie ab. Todbaum steigt sogar in die höchsten Sphären der Stadt auf, mit Macht und Reichtum, die er auf dem Ruhm der anderen aufbaut. Journeyman verdient in seinem Kielwasser als Skript Doctor gutes Geld. Madeleine kommt da in ihrer Anfangszeit als wunderschöne Erinnerung daran vor, in der Hollywood auch ohne Apokalypse eine bunte Blase der weltfremden Dauereuphorien ist.
Die Handlungsebene Hollywood dient Lethem nicht nur als Grundlage für die Verwicklungen der Hauptfiguren. Sie bleibt für die Lesenden eine Erinnerung daran, wie flüchtig eine Zivilisation ist, deren Erlebniswelt vor allem aus Popkultur und Technologie besteht. Immer wieder spickt Lethem den Roman mit Referenzen an all die Dinge, die nun nichts mehr bedeuten. Im fünften Kapitel lamentiert er eine Liste der Verluste: „Benzin, Patronen und geschmolzenen Kuchen ohne Mehl konnte man in den Wind schreiben. Kaffee konnte man sich abschminken. Schluss mit Bananen und Rihanna, mit Father John Misty, mit der Cloud, mit Newsfeeds über Kernschmelzen am anderen Ende der Welt, mit Seekühen, im Meer versunkenen Städten und anderen Tragödien, die Journeyman mit schlechtem Gewissen nicht betrauert hatte.“
Solche Referenzen gehören nicht nur bei Lethem zum Kern eines Stils, der von der europäischen Literaturkritik zu Unrecht als „Popliteratur“ verniedlicht wurde. Lethem ist Teil jener Generation amerikanischer Literaten, die das Drama nicht in ihrer Epoche, sondern im Privaten und in der Popkultur fanden. Sie sind die Kinder der goldenen Jahre, denen die Kriege und Krisen erspart blieben, mit denen sich die Generationen vor und nach ihnen herumschlagen müssen. Um das ein wenig einzuordnen: Lethem war ein Studienfreund von Bret Easton Ellis.
Rund um die Jahrtausendwende war er zusammen mit Franzen und Safran Foer einer der „drei Jonathans“ der jungen Literatur, die ein enormes Textniveau mit ebenso enormen Verkaufszahlen verbinden konnten. Seit vierzehn Jahren unterrichtet Jonathan Lethem außerdem am Pomona College auf jenem Lehrstuhl, den einst David Foster Wallace innehatte, der posthum zu so etwas wie dem Säulenheiligen dieser Alterskohorte wurde, die den sechzigsten Geburtstag bald vor oder gerade hinter sich haben.
In Haltung und in den Stoffen sind sie sich nicht besonders ähnlich. Lethem ist sehr viel freundlicher und liberaler als Ellis mit seinem tiefschwarzen Humor und seinem Konservatismus. Franzen ist epischer, Safran Foer politischer, Foster Wallace komplexer. Die gemeinsamen Nenner sind ihr ironischer Blick auf die Gesellschaft, ihre Fähigkeit, einen erzählerischen Sog zu erzeugen und ihr Umgang mit der Popkultur, die in der amerikanischen Hochkultur allerdings noch nie ein Antipode der Hochkultur war, sondern immer ihre Grundlage.
Das schlägt sich nicht nur inhaltlich, sondern auch im Schreiben nieder: Lethem und seine Zeitgenossen sind mit Fernsehen und Kino aufgewachsen. Zu den Idyll-Klischees ihrer Kindheit gehörten die Samstagmorgen im Schlafanzug vor dem Fernseher, um Zeichentrickserien anzuschauen, die Ausflüge in die Shoppingmalls, in denen die Kinos den planlosen Nachmittagen einen Anker gaben, die ersten Blockbuster des rebellischen Hollywoods der Siebzigerjahre und eine Popmusik, die vom Soundtrack der Jugendkultur zum Kanon Amerikas reifte. Das schlägt sich im Schreiben nieder. Die Verwendung von Pointen und Plot-Twists, die Dramaturgie des 90-Minüters, das Rhythmusgefühl, aber auch die poetische Verdichtung einer Popmusik, die mit Bob Dylan und den Beatles eine literarische Ebene gefunden hatte.
Wenn man als Leser in solche Romane eintaucht, fühlt man sich deswegen sofort zu Hause in den Gedankenwelten dieser Autoren, selbst wenn sie einen in exotische Welten wie die Hügel von Hollywood oder die postapokalyptische Pastorale des amerikanischen Nordostens führen. Das macht die Romane dieser Schriftstellergeneration aber vor allem zu einem so unendlichen Spaß. Das war eben nicht nur der Titel von David Foster Wallace’ Schlüsselwerk, sondern auch Programm.
ANDRIAN KREYE
Man fühlt sich in
diesen Gedankenwelten
sofort zu Hause
Wir haben doch alles, was wir brauchen, auch ohne stressige Technik, oder? Jonathan Lethem denkt es zu Ende.
Foto: Imago
Jonathan Lethem:
Der Stillstand. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach. Klett Cotta, Stuttgart, 2024. 328 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Allen, die sich wünschen, endlich mal so richtig abzuschalten, erfüllt Jonathan Lethem mit dem Roman „Der Stillstand“ einen Traum.
In jeder postapokalyptischen Fantasie steckt eine Pastorale, die eine Sehnsucht nach der Reinheit des Urzustands und der Befreiung vom Stress der Tech-Moderne bedient. Das ist die autodestruktive Seite der Nachhaltigkeitsmoral, die bei den meisten Linken und Progressiven beim Erwachsenwerden die Identitätspolitik ablöst. Wer wäre geeigneter, daraus einen Roman zu machen, als Jonathan Lethem, Meister des ironischen Subtexts und vor allem lange Jahre Bürger jenes Teils von Brooklyn, in dem diese Lebenshaltung ihr Zentrum hat.
Auch in seinem aktuellen Roman hat er wieder eine Figur gefunden, die nicht zum Helden taugt und gerade deswegen so glaubwürdig in eine Welt passt, die man sonst aus dem Kino kennt. Sein Tourette-geplagter Detektiv Lionel Essrog aus „Motherless Brooklyn“ war so einer oder der tödlich erkrankte Backgammon-Hustler Alexander Bruno aus „Anatomie eines Spielers“. Diesmal ist es Alexander Duplessis, den alle „Journeyman“ nennen, ein Skript Doctor aus Hollywood. Den hat der „Stillstand“ des Zusammenbruchs der Zivilisation beim Besuch seiner Schwester Madeleine auf einer Selbstversorgerfarm in einem Nordostküstendorf ganz gut erwischt.
Es ist keine Zombie- und auch keine Katastrophen-Apokalypse. Aus ungeklärten Gründen gaben zuerst sämtliche Elektrogeräte ihren Geist auf, dann alle Benzin-getriebenen Maschinen und schließlich die Schusswaffen. Niemand weiß, warum. Es ist einfach so. Und weil Alexander „Journeyman“ Duplessis nichts besonders gut kann, ein deutliches Defizit an Zivilcourage hat und auch nicht lernfähig ist, was die Fertigkeiten angeht, die man in diesem mit einem Male wieder prä-industriellen Amerika brauchen könnte, verdingt er sich in der Dorfgemeinschaft als Botenjunge und Gehilfe des Schlachters.
Lethem hat in einem Interview mal beschrieben, wie er selbst sich seine Rolle als Schriftsteller in der Postapokalypse vorstellen würde: „Das ist dann erst einmal so: ‚Du baust das Essen an, du machst das Feuer, du räumst die Straße, und ich schreibe die Romane!‘ Ich glaube, es würde nicht lange dauern, bis mir jemand sagen würde: ‚Wir brauchen heute eigentlich keinen Roman, aber wir könnten Hilfe beim Aufräumen gebrauchen.‘“
Auch Journeyman hat das Schreiben aufgegeben. Zu Beginn führt er ein etwas fades, aber zufriedenes Leben, wie es sich so viele aus dem Moralbürgertum jener Vergangenheit erträumten, die die Gegenwart der Leserschaft ist und für die Figuren des Buchs eine blasse Erinnerung. Es mag rau sein, das Leben in dieser Enklave im Nordosten Amerikas, aber alle werden satt und es geht ihnen eigentlich ganz gut. Die Verteidigung hat eine Horde Bewaffneter übernommen, die in jeden „Mad Max“-Film passen würde, sich aber nur selten blicken lässt. Die Dörfler nennen sie die Kordonisten und bezahlen sie mit Lebensmitteln dafür, dass sie die Gewalt der postapokalyptischen Welt an sie auslagern dürfen. So haben sie ihre Ruhe und nicht einmal eine Ahnung, was für Kämpfe da draußen toben.
Bis zu jenem Tag, der alles und auch Journeymans Leben verändert, weil es seine Vergangenheit ist, die die Dorfgemeinschaft da in Form eines Monsters von Wagen mit Atomantrieb und Chromhülle ereilt. Obendrauf in einer Kuppel aus Glas sitzt Peter Todbaum am Steuer, die Schlüsselfigur aus Journeymans früherer Existenz in Hollywood. Und so wird alles anders. Was nicht verraten werden soll, weil Jonathan Lethem nicht nur die Ironie und die Parabel beherrscht, sondern auch eine Erzählform, die die Handlung mit einem Tempo in immer größeren Trubel treibt, was oft an dicke Comicbände oder dreistündige Blockbusterfilme erinnert. Zu viel Exegese würde den Spaß nur verderben.
Eines kann man trotzdem noch verraten. Es gibt eine zweite Handlungsebene, in der Lethem die Dynamik zwischen Journeyman, seiner Schwester Madeleine und Todbaum im Hollywood der jüngeren, aber unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit auf Touren bringt. Todbaum und Journeyman leben da zu Beginn eine Zeit lang in den Starlet-Apartments, einem jener flachen motelhaften Komplexe rund um einen Swimmingpool, in dem im echten Los Angeles so viele von einer Karriere im Filmgeschäft träumen. Sie schreiben Drehbücher, die niemand dreht. Aber bald schon heben sie ab. Todbaum steigt sogar in die höchsten Sphären der Stadt auf, mit Macht und Reichtum, die er auf dem Ruhm der anderen aufbaut. Journeyman verdient in seinem Kielwasser als Skript Doctor gutes Geld. Madeleine kommt da in ihrer Anfangszeit als wunderschöne Erinnerung daran vor, in der Hollywood auch ohne Apokalypse eine bunte Blase der weltfremden Dauereuphorien ist.
Die Handlungsebene Hollywood dient Lethem nicht nur als Grundlage für die Verwicklungen der Hauptfiguren. Sie bleibt für die Lesenden eine Erinnerung daran, wie flüchtig eine Zivilisation ist, deren Erlebniswelt vor allem aus Popkultur und Technologie besteht. Immer wieder spickt Lethem den Roman mit Referenzen an all die Dinge, die nun nichts mehr bedeuten. Im fünften Kapitel lamentiert er eine Liste der Verluste: „Benzin, Patronen und geschmolzenen Kuchen ohne Mehl konnte man in den Wind schreiben. Kaffee konnte man sich abschminken. Schluss mit Bananen und Rihanna, mit Father John Misty, mit der Cloud, mit Newsfeeds über Kernschmelzen am anderen Ende der Welt, mit Seekühen, im Meer versunkenen Städten und anderen Tragödien, die Journeyman mit schlechtem Gewissen nicht betrauert hatte.“
Solche Referenzen gehören nicht nur bei Lethem zum Kern eines Stils, der von der europäischen Literaturkritik zu Unrecht als „Popliteratur“ verniedlicht wurde. Lethem ist Teil jener Generation amerikanischer Literaten, die das Drama nicht in ihrer Epoche, sondern im Privaten und in der Popkultur fanden. Sie sind die Kinder der goldenen Jahre, denen die Kriege und Krisen erspart blieben, mit denen sich die Generationen vor und nach ihnen herumschlagen müssen. Um das ein wenig einzuordnen: Lethem war ein Studienfreund von Bret Easton Ellis.
Rund um die Jahrtausendwende war er zusammen mit Franzen und Safran Foer einer der „drei Jonathans“ der jungen Literatur, die ein enormes Textniveau mit ebenso enormen Verkaufszahlen verbinden konnten. Seit vierzehn Jahren unterrichtet Jonathan Lethem außerdem am Pomona College auf jenem Lehrstuhl, den einst David Foster Wallace innehatte, der posthum zu so etwas wie dem Säulenheiligen dieser Alterskohorte wurde, die den sechzigsten Geburtstag bald vor oder gerade hinter sich haben.
In Haltung und in den Stoffen sind sie sich nicht besonders ähnlich. Lethem ist sehr viel freundlicher und liberaler als Ellis mit seinem tiefschwarzen Humor und seinem Konservatismus. Franzen ist epischer, Safran Foer politischer, Foster Wallace komplexer. Die gemeinsamen Nenner sind ihr ironischer Blick auf die Gesellschaft, ihre Fähigkeit, einen erzählerischen Sog zu erzeugen und ihr Umgang mit der Popkultur, die in der amerikanischen Hochkultur allerdings noch nie ein Antipode der Hochkultur war, sondern immer ihre Grundlage.
Das schlägt sich nicht nur inhaltlich, sondern auch im Schreiben nieder: Lethem und seine Zeitgenossen sind mit Fernsehen und Kino aufgewachsen. Zu den Idyll-Klischees ihrer Kindheit gehörten die Samstagmorgen im Schlafanzug vor dem Fernseher, um Zeichentrickserien anzuschauen, die Ausflüge in die Shoppingmalls, in denen die Kinos den planlosen Nachmittagen einen Anker gaben, die ersten Blockbuster des rebellischen Hollywoods der Siebzigerjahre und eine Popmusik, die vom Soundtrack der Jugendkultur zum Kanon Amerikas reifte. Das schlägt sich im Schreiben nieder. Die Verwendung von Pointen und Plot-Twists, die Dramaturgie des 90-Minüters, das Rhythmusgefühl, aber auch die poetische Verdichtung einer Popmusik, die mit Bob Dylan und den Beatles eine literarische Ebene gefunden hatte.
Wenn man als Leser in solche Romane eintaucht, fühlt man sich deswegen sofort zu Hause in den Gedankenwelten dieser Autoren, selbst wenn sie einen in exotische Welten wie die Hügel von Hollywood oder die postapokalyptische Pastorale des amerikanischen Nordostens führen. Das macht die Romane dieser Schriftstellergeneration aber vor allem zu einem so unendlichen Spaß. Das war eben nicht nur der Titel von David Foster Wallace’ Schlüsselwerk, sondern auch Programm.
ANDRIAN KREYE
Man fühlt sich in
diesen Gedankenwelten
sofort zu Hause
Wir haben doch alles, was wir brauchen, auch ohne stressige Technik, oder? Jonathan Lethem denkt es zu Ende.
Foto: Imago
Jonathan Lethem:
Der Stillstand. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach. Klett Cotta, Stuttgart, 2024. 328 Seiten, 25 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.07.2024Vom Pesthauch des Superautos
Jonathan Lethem hat keine Lust auf die Apokalypse, aber auf eine tolle Geschichte schon: "Der Stillstand"
Unverhofft kommt oft, heißt es, wenn auch nicht gleich so grundstürzend. Es geschah, als Journeyman, der in seiner früheren Existenz Alexander Duplessis hieß, seine Schwester Maddy, die in einer autonomistischen Ökokommune im amerikanischen Bundesstaat Maine lebt, besuchte: "Ohne jede Warnung, abgesehen von jeder erdenklichen Warnung, war er gekommen, der Stillstand. Der Zusammenbruch, die Abschottung und Umbesetzung von allem, der vertrauten Welt, wie Journeyman sie sein Leben lang gekannt hatte."
Das Fernsehen starb zuerst, gefolgt von "Gmail, SMS, Wischen, FaceTime, Tweets und dergleichen". Klimaanlagen versagten, Flugzeuge stürzten ab, Autos verendeten, endlich die letzten Schusswaffen. Und Kaffee gibt es seither auch nicht mehr. Die zuvor gern propagierte Präferenz fürs Lokale wird in jeder Hinsicht plötzlich Realität. Seit dem Stillstand arbeitet Journeyman als Gehilfe des Schlachters in der so entstandenen Community, deren Wurstproduktion sich auf der Halbinsel großer Beliebtheit erfreut. Mit den Würsten und Gemüselieferungen aus dem Anbau der Biofarm werden die postapokalyptisch hochgerüsteten "Kordonisten" versorgt und ruhiggestellt, von denen die Gemeinschaft abgeschirmt wird; vor was eigentlich beschützt, weil ja abgeschnitten vom Rest des Kontinents, des Globus überhaupt, oder nicht schlicht ausgebeutet, muss offenbleiben.
Im amerikanischen Original ist "The Arrest" schon 2020 erschienen, kurz bevor die Welt in weiten Teilen zu einer Art von Stillstand verurteilt wurde nach dem Ausbruch der Covid-Pandemie. Die deutsche Veröffentlichung erfolgt also vier Jahre später, was Jonathan Lethems Roman, der vage in einer nahen Zukunft angesiedelt ist, beinahe ein wenig gealtert erscheinen lässt, mit den Erfahrungen der Separation und ihrer Begleitumstände im Nacken, die das Virus der Menschheit aufgezwungen hatte. Was allerdings unverändert bleibt, ist die radikale Dystopie, die "Der Stillstand" mit der ungebremsten tragikomischen Wucht seines Autors umwerfend ausmalt.
Journeyman (auf Deutsch etwas wie Geselle) ist die inkarnierte Limitierung jeglichen Begreifens, was ihn aber gar nicht unsympathisch macht. Das prädestinierte ihn schon in seinem Vorleben, als zweitrangiger Drehbuchverfasser für Hollywood, zum Laufburschen und Ausputzer seines zunehmend erfolgreichen Freunds Peter Todbaume (im amerikanischen Original "Todbaum", in der deutschen Übersetzung, warum auch immer, "Todbaume"), der ihn dafür bezahlte. Gemeinsam laborierten sie am Projekt eines Science- Fiction-Films namens "Noch eine Welt" (im Original "Yet Another World"), irgendwie halt ein Horrorszenario. Im Zentrum standen zunehmend "die Vorboten der Klimakatastrophe, von Geflüchteten überrannte Grenzen, die Morgenröte der Künstlichen Intelligenz und der virtual reality - die zwanzig Jahre alte Geschichte gab sich alle Mühe, der Gegenwart hinterherzuhecheln". Alles Schnee von gestern.
Nun, da der Stillstand eingetreten ist, fährt just dieser Todbaume quer durch die Vereinigten Staaten mit seinem "Superauto", genannt "Blue Streak", einem metallisch "funkelnden Höllenkadaver von Menschenhand", "Pesthauch" ausströmend, in der inzwischen recht gut sortierten - und übrigens nach vorgängigen gesellschaftlichen Mustern hierarchisierten - Bioidylle vor, zuletzt geleitet von den Kordonisten. Wo der Blue Streak dann seine Versorgungstentakel tief in den Boden senkt, stirbt die umliegende Natur ab.
Es ist nicht unerheblich für den Fortgang des Geschehens, mithin das Schicksal von Todbaume und seinem Gefährt, das hier natürlich nicht verraten sei, dass der Blue Streak "wie eine Vision aus der Zukunft der Vergangenheit" erscheint. Und es wäre wohl ein Missverständnis, dass Todbaume den Kurs seiner irgendwie atomar betriebenen Maschine bestimmt, es ist vielmehr dieses "Ding", das sich und seinen Insassen zunächst dem Zugriff der Kordonisten entzieht: "Es ist eine KI, also ist es im Gegensatz zu diesen Kackdackeln lernfähig", bescheidet Todbaume seinem einstigen Freund Journeyman. Und es ist nur eine der furiosen Ideen Lethems, wie sich diese "KI" schließlich in einer tollen Volte mit einer nachgerade archaischen Mechanik schlagen wird.
Jedenfalls müssen Lethem all diese Verquickungen von Vorher und Nachher des Stillstands - bis hin zur Rolle, die Journeymans kluge Schwester Maddy dabei schon in den Tagen von Hollywood gespielt hatte - einiges Kopfzerbrechen bereitet haben. Und wir, die geneigten Leserinnen und Leser, dürfen ihm bei diesem Prozess folgen, in den er eine ganze Menge sehr spezieller Nebenfiguren verwickelt. Wie den alten Jerome Kormentz, der am "See der Müdigkeit" (was für ein wunderschöner Name) haust und an seinem "Kopfkissenbuch" fort und fort schreibt. Das ist, als Cameo, eine fast zärtliche Hommage an die um das Jahr 1000 entstandenen Aufzeichnungen der japanischen Hofdame Sei Shonagon, mithin an eine Literatur im Verborgenen.
Jonathan Lethem, Jahrgang 1964, unterrichtet am Pomona College im kalifornischen Claremont Literatur und kreatives Schreiben, als Nachfolger von David Foster Wallace, der als Erfinder des sogenannten postmodernen Romans gilt. Die einschlägige Gemeinde für seine erfolgreichen Erzählungen und Romane, die sich zumal mit Außenseitern beschäftigen, solchen, die sich von der zu lange dominierenden Fortschrittsideologie abwenden, hat er vor allem in seiner eigenen Generation. Dass Lethem eine Weile mit Bret Easton Ellis am Bennington College in Vermont studiert hat, wird immer wieder erwähnt. Während Ellis in seinen stark umstrittenen Büchern, allen voran "American Psycho" von 1991, auf psychische Grenzgänger und physische Brutalität setzt, gilt Lethems scharfer Blick besonders dem anderen, unaggressiven Teil dieser Kohorte, verkörpert im Roman von Journeyman.
Das 23. von insgesamt 79 zwischen verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen hin- und herspringenden Kapiteln ist überschrieben "Journeyman war ein Vermittler". Ihn macht Lethem, gegen allen Anschein, zu einer literarisch wirklich interessanten Figur, die ganz in die Gegenwart gehört. "Nichts verankerte ihn in irgendeiner Überzeugung oder Philosophie; sein Tun war irrelevant, sogar für ihn selbst. Es war schieres Glück gewesen, dass er den Stillstand überlebt hatte." Journeyman ist weder Nachfahre eines tumben Tors auf mittelalterlicher Queste, dem späte Erkenntnis blüht, noch Nerd im inzwischen auch schon wieder überholten Sinn. Es reicht nicht zum Antihelden, aber für Lethem zum gar nicht so blöden Zeugen der sich bald anbahnenden, dann überstürzenden Geschehnisse, darin womöglich gar nicht so unähnlich einem gescheiterten Helden des Bildungsromans der Klassik.
Doch während Lethem die Linearität des Erzählens mit allen Mitteln zu torpedieren versucht, kann er doch genau dieses Erzählen so wenig lassen wie sein Protagonist, den er trickreich als Beobachter zweiter Ordnung einsetzt und den jener erwähnte Kormentz, Wiedergänger eines japanischen Weisen, gleich anfangs fröhlich begrüßt hatte: "Geschichtenerzähler, erzähl mir eine Geschichte." Wie als Belege einer manchen noch nahen Vergangenheit versieht Lethem seinen Roman zusätzlich mit ein paar nostalgischen Bildern und Fotografien, als seinen Tribut an die von ihm geliebte Erzählform Comic. So ist der "Blue Streak" mit einer Szene aus der Serie "Superman's Pal Jimmy Olsen", die von den Fünfziger- bis in die Siebzigerjahre erschien, illustriert, aber auch mit dem Foto eines Furcht einflößenden Maschinenmonstrums aus ebenjenen verflossenen Zeiten. Lethem bereiten solche kleinen Sentimentalitäten offenbar Vergnügen, jedes nachfolgende der Batmobile sieht stromlinienförmiger aus, und sie stacheln die historische Phantasie der Leser zusätzlich an.
Zu dieser Strategie gehört auch, dass sich Lethem, während im Hintergrund der irre Showdown schon läuft, ein lustiges, quasididaktisches Metakapitel 44 gönnt, überschrieben "Postapokalyptische und dystopische Geschichten". Darin darf Todbaume, in einer Rückblende, über Cormac McCarthys düsteren Roman "Die Straße" von 2006 herziehen, um dann zu befinden: "Postapokalyptisches Trostfutter. Und damit meine ich keine Trivialliteratur. Selbst Kafka wollte in seinem Schloss leben, da kannst du aber einen drauf lassen." Nein, das wollte Kafka bestimmt nicht. Das ist nicht nur eine steile These, sondern einfach Quatsch, wie Journeyman (damals noch als Duplessis) weiß: "Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben." Todbaume befiehlt ihm: "So, und jetzt setz dich auf den Hosenboden und schreib genau die Geschichte. Postapokalyptischen, dystopisch-idyllischen Kuschelkitsch. Das alte Lied, nach dem wir uns alle sehnen."
Es soll hier wahrlich nicht gesagt sein, dass Jonathan Lethem mit "Der Stillstand" genau das gemacht hat; aber ein bisschen schon, ganz auf der Höhe seiner Kunst. Profund belesen, was er gern in diversen Subtexten ausstellt, hat er eine rätselvolle - ja, eben doch - Geschichte geschrieben, in der er seine stilistischen Möglichkeiten austobt, mitreißend bis zum Schluss: Mehr geht nicht, ziemlich großer Spaß. ROSE-MARIA GROPP
Jonathan Lethem:
"Der Stillstand".
Roman.
Aus dem
Amerikanischen
von Ulrich Blumenbach. Tropen Verlag,
Berlin 2024.
327 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Jonathan Lethem hat keine Lust auf die Apokalypse, aber auf eine tolle Geschichte schon: "Der Stillstand"
Unverhofft kommt oft, heißt es, wenn auch nicht gleich so grundstürzend. Es geschah, als Journeyman, der in seiner früheren Existenz Alexander Duplessis hieß, seine Schwester Maddy, die in einer autonomistischen Ökokommune im amerikanischen Bundesstaat Maine lebt, besuchte: "Ohne jede Warnung, abgesehen von jeder erdenklichen Warnung, war er gekommen, der Stillstand. Der Zusammenbruch, die Abschottung und Umbesetzung von allem, der vertrauten Welt, wie Journeyman sie sein Leben lang gekannt hatte."
Das Fernsehen starb zuerst, gefolgt von "Gmail, SMS, Wischen, FaceTime, Tweets und dergleichen". Klimaanlagen versagten, Flugzeuge stürzten ab, Autos verendeten, endlich die letzten Schusswaffen. Und Kaffee gibt es seither auch nicht mehr. Die zuvor gern propagierte Präferenz fürs Lokale wird in jeder Hinsicht plötzlich Realität. Seit dem Stillstand arbeitet Journeyman als Gehilfe des Schlachters in der so entstandenen Community, deren Wurstproduktion sich auf der Halbinsel großer Beliebtheit erfreut. Mit den Würsten und Gemüselieferungen aus dem Anbau der Biofarm werden die postapokalyptisch hochgerüsteten "Kordonisten" versorgt und ruhiggestellt, von denen die Gemeinschaft abgeschirmt wird; vor was eigentlich beschützt, weil ja abgeschnitten vom Rest des Kontinents, des Globus überhaupt, oder nicht schlicht ausgebeutet, muss offenbleiben.
Im amerikanischen Original ist "The Arrest" schon 2020 erschienen, kurz bevor die Welt in weiten Teilen zu einer Art von Stillstand verurteilt wurde nach dem Ausbruch der Covid-Pandemie. Die deutsche Veröffentlichung erfolgt also vier Jahre später, was Jonathan Lethems Roman, der vage in einer nahen Zukunft angesiedelt ist, beinahe ein wenig gealtert erscheinen lässt, mit den Erfahrungen der Separation und ihrer Begleitumstände im Nacken, die das Virus der Menschheit aufgezwungen hatte. Was allerdings unverändert bleibt, ist die radikale Dystopie, die "Der Stillstand" mit der ungebremsten tragikomischen Wucht seines Autors umwerfend ausmalt.
Journeyman (auf Deutsch etwas wie Geselle) ist die inkarnierte Limitierung jeglichen Begreifens, was ihn aber gar nicht unsympathisch macht. Das prädestinierte ihn schon in seinem Vorleben, als zweitrangiger Drehbuchverfasser für Hollywood, zum Laufburschen und Ausputzer seines zunehmend erfolgreichen Freunds Peter Todbaume (im amerikanischen Original "Todbaum", in der deutschen Übersetzung, warum auch immer, "Todbaume"), der ihn dafür bezahlte. Gemeinsam laborierten sie am Projekt eines Science- Fiction-Films namens "Noch eine Welt" (im Original "Yet Another World"), irgendwie halt ein Horrorszenario. Im Zentrum standen zunehmend "die Vorboten der Klimakatastrophe, von Geflüchteten überrannte Grenzen, die Morgenröte der Künstlichen Intelligenz und der virtual reality - die zwanzig Jahre alte Geschichte gab sich alle Mühe, der Gegenwart hinterherzuhecheln". Alles Schnee von gestern.
Nun, da der Stillstand eingetreten ist, fährt just dieser Todbaume quer durch die Vereinigten Staaten mit seinem "Superauto", genannt "Blue Streak", einem metallisch "funkelnden Höllenkadaver von Menschenhand", "Pesthauch" ausströmend, in der inzwischen recht gut sortierten - und übrigens nach vorgängigen gesellschaftlichen Mustern hierarchisierten - Bioidylle vor, zuletzt geleitet von den Kordonisten. Wo der Blue Streak dann seine Versorgungstentakel tief in den Boden senkt, stirbt die umliegende Natur ab.
Es ist nicht unerheblich für den Fortgang des Geschehens, mithin das Schicksal von Todbaume und seinem Gefährt, das hier natürlich nicht verraten sei, dass der Blue Streak "wie eine Vision aus der Zukunft der Vergangenheit" erscheint. Und es wäre wohl ein Missverständnis, dass Todbaume den Kurs seiner irgendwie atomar betriebenen Maschine bestimmt, es ist vielmehr dieses "Ding", das sich und seinen Insassen zunächst dem Zugriff der Kordonisten entzieht: "Es ist eine KI, also ist es im Gegensatz zu diesen Kackdackeln lernfähig", bescheidet Todbaume seinem einstigen Freund Journeyman. Und es ist nur eine der furiosen Ideen Lethems, wie sich diese "KI" schließlich in einer tollen Volte mit einer nachgerade archaischen Mechanik schlagen wird.
Jedenfalls müssen Lethem all diese Verquickungen von Vorher und Nachher des Stillstands - bis hin zur Rolle, die Journeymans kluge Schwester Maddy dabei schon in den Tagen von Hollywood gespielt hatte - einiges Kopfzerbrechen bereitet haben. Und wir, die geneigten Leserinnen und Leser, dürfen ihm bei diesem Prozess folgen, in den er eine ganze Menge sehr spezieller Nebenfiguren verwickelt. Wie den alten Jerome Kormentz, der am "See der Müdigkeit" (was für ein wunderschöner Name) haust und an seinem "Kopfkissenbuch" fort und fort schreibt. Das ist, als Cameo, eine fast zärtliche Hommage an die um das Jahr 1000 entstandenen Aufzeichnungen der japanischen Hofdame Sei Shonagon, mithin an eine Literatur im Verborgenen.
Jonathan Lethem, Jahrgang 1964, unterrichtet am Pomona College im kalifornischen Claremont Literatur und kreatives Schreiben, als Nachfolger von David Foster Wallace, der als Erfinder des sogenannten postmodernen Romans gilt. Die einschlägige Gemeinde für seine erfolgreichen Erzählungen und Romane, die sich zumal mit Außenseitern beschäftigen, solchen, die sich von der zu lange dominierenden Fortschrittsideologie abwenden, hat er vor allem in seiner eigenen Generation. Dass Lethem eine Weile mit Bret Easton Ellis am Bennington College in Vermont studiert hat, wird immer wieder erwähnt. Während Ellis in seinen stark umstrittenen Büchern, allen voran "American Psycho" von 1991, auf psychische Grenzgänger und physische Brutalität setzt, gilt Lethems scharfer Blick besonders dem anderen, unaggressiven Teil dieser Kohorte, verkörpert im Roman von Journeyman.
Das 23. von insgesamt 79 zwischen verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen hin- und herspringenden Kapiteln ist überschrieben "Journeyman war ein Vermittler". Ihn macht Lethem, gegen allen Anschein, zu einer literarisch wirklich interessanten Figur, die ganz in die Gegenwart gehört. "Nichts verankerte ihn in irgendeiner Überzeugung oder Philosophie; sein Tun war irrelevant, sogar für ihn selbst. Es war schieres Glück gewesen, dass er den Stillstand überlebt hatte." Journeyman ist weder Nachfahre eines tumben Tors auf mittelalterlicher Queste, dem späte Erkenntnis blüht, noch Nerd im inzwischen auch schon wieder überholten Sinn. Es reicht nicht zum Antihelden, aber für Lethem zum gar nicht so blöden Zeugen der sich bald anbahnenden, dann überstürzenden Geschehnisse, darin womöglich gar nicht so unähnlich einem gescheiterten Helden des Bildungsromans der Klassik.
Doch während Lethem die Linearität des Erzählens mit allen Mitteln zu torpedieren versucht, kann er doch genau dieses Erzählen so wenig lassen wie sein Protagonist, den er trickreich als Beobachter zweiter Ordnung einsetzt und den jener erwähnte Kormentz, Wiedergänger eines japanischen Weisen, gleich anfangs fröhlich begrüßt hatte: "Geschichtenerzähler, erzähl mir eine Geschichte." Wie als Belege einer manchen noch nahen Vergangenheit versieht Lethem seinen Roman zusätzlich mit ein paar nostalgischen Bildern und Fotografien, als seinen Tribut an die von ihm geliebte Erzählform Comic. So ist der "Blue Streak" mit einer Szene aus der Serie "Superman's Pal Jimmy Olsen", die von den Fünfziger- bis in die Siebzigerjahre erschien, illustriert, aber auch mit dem Foto eines Furcht einflößenden Maschinenmonstrums aus ebenjenen verflossenen Zeiten. Lethem bereiten solche kleinen Sentimentalitäten offenbar Vergnügen, jedes nachfolgende der Batmobile sieht stromlinienförmiger aus, und sie stacheln die historische Phantasie der Leser zusätzlich an.
Zu dieser Strategie gehört auch, dass sich Lethem, während im Hintergrund der irre Showdown schon läuft, ein lustiges, quasididaktisches Metakapitel 44 gönnt, überschrieben "Postapokalyptische und dystopische Geschichten". Darin darf Todbaume, in einer Rückblende, über Cormac McCarthys düsteren Roman "Die Straße" von 2006 herziehen, um dann zu befinden: "Postapokalyptisches Trostfutter. Und damit meine ich keine Trivialliteratur. Selbst Kafka wollte in seinem Schloss leben, da kannst du aber einen drauf lassen." Nein, das wollte Kafka bestimmt nicht. Das ist nicht nur eine steile These, sondern einfach Quatsch, wie Journeyman (damals noch als Duplessis) weiß: "Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben." Todbaume befiehlt ihm: "So, und jetzt setz dich auf den Hosenboden und schreib genau die Geschichte. Postapokalyptischen, dystopisch-idyllischen Kuschelkitsch. Das alte Lied, nach dem wir uns alle sehnen."
Es soll hier wahrlich nicht gesagt sein, dass Jonathan Lethem mit "Der Stillstand" genau das gemacht hat; aber ein bisschen schon, ganz auf der Höhe seiner Kunst. Profund belesen, was er gern in diversen Subtexten ausstellt, hat er eine rätselvolle - ja, eben doch - Geschichte geschrieben, in der er seine stilistischen Möglichkeiten austobt, mitreißend bis zum Schluss: Mehr geht nicht, ziemlich großer Spaß. ROSE-MARIA GROPP
Jonathan Lethem:
"Der Stillstand".
Roman.
Aus dem
Amerikanischen
von Ulrich Blumenbach. Tropen Verlag,
Berlin 2024.
327 S., geb., 25,- Euro.
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»[M]itreißend bis zum Schluss: Mehr geht nicht, ziemlich großer Spaß.« Rose-Maria Gropp, FAZ, 11. Juli 2024 Rose-Maria Gropp FAZ 20240710