In zehn hochkonzentrierten Kapiteln legt Juliane Rebentisch Hannah Arendts politische Philosophie der Pluralität frei und diskutiert sie im Horizont gegenwärtiger Debatten. Politik und Wahrheit, Flucht und Staatenlosigkeit, Sklaverei und Rassismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus, Moral und Erziehung, Diskriminierung und Identität sowie Kapitalismus und Demokratie sind die Stichworte der entsprechenden Auseinandersetzungen. Indem sie den Fokus auf das Motiv der Pluralität legt, lässt Rebentisch in diesen unterschiedlichen thematischen Kontexten jeweils den Zusammenhang von Arendts Gesamtwerk ebenso greifbar werden wie die Widersprüche, die es durchziehen.
Das Buch macht vermittels genauer Lektüren und unter Einbeziehung zeitgeschichtlicher Hintergründe die weitreichenden Implikationen von Arendts Denken sichtbar, und zwar vor allem dadurch, dass es die begrifflichen Sperren, die Arendt selbst diesem Denken setzte, klar herausarbeitet und konsequent kritisiert. Gerade deshalb erweist sich der Streit um Pluralität, der hier mit und gegen Hannah Arendt auf beeindruckende Weise ausgetragen wird, als überaus passende Reverenz an eine Autorin, deren Liebe zur Welt sich auch in der Streitbarkeit ihrer Urteile gezeigt hat.
Das Buch macht vermittels genauer Lektüren und unter Einbeziehung zeitgeschichtlicher Hintergründe die weitreichenden Implikationen von Arendts Denken sichtbar, und zwar vor allem dadurch, dass es die begrifflichen Sperren, die Arendt selbst diesem Denken setzte, klar herausarbeitet und konsequent kritisiert. Gerade deshalb erweist sich der Streit um Pluralität, der hier mit und gegen Hannah Arendt auf beeindruckende Weise ausgetragen wird, als überaus passende Reverenz an eine Autorin, deren Liebe zur Welt sich auch in der Streitbarkeit ihrer Urteile gezeigt hat.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.02.2022Die Welt so eng
Warum hat die Liebe in der Politik nichts zu suchen? Juliane Rebentisch über die blinden Flecken Hannah Arendts - und ihre bleibende Bedeutung
Wegen eines Schneesturms ist Juliane Rebentisch gerade einen Tag verspätet auf dem Campus der Universität Princeton in New Jersey angekommen. Sie wird dort wie sonst an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach Philosophie unterrichten. Vor 63 Jahren hatte Hannah Arendt an der Eliteuniversität eine kleine Revolution eingeleitet: 1959 war sie die erste Frau, die als Gastprofessorin in Princeton Vorlesungen hielt. Heute gilt Arendt als eine der großen Figuren der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, ein Philosophiestudium ohne Arendt-Lektüre ist kaum denkbar. Säulenheilige aber dürfen nicht nur bewundert, sie müssen wiedergelesen werden. Nun erscheint Juliane Rebentischs neues Buch über ihre Auseinandersetzung mit Hannah Arendt: „Der Streit um Pluralität“. Rebentisch hadert darin besonders mit Arendts Interventionen in die amerikanische Politik der Sechziger.
SZ: Frau Rebentisch, kaum eine Denkerin wird heute so häufig zitiert wie Hannah Arendt, eine Ausstellung im Historischen Museum in Berlin stellte sogar ihr Zigarettenetui und ihr Nerzjäckchen in die Vitrine. Was fasziniert immer noch so an ihr?
Juliane Rebentisch: Ihre bewegte Biografie auf beiden Seiten des Atlantiks steht exemplarisch für das 20. Jahrhundert. Aber es gibt auch eine Faszination für die streitbare Intellektuelle, die mit ihren Interventionen heftige Kontroversen ausgelöst hat. Wie auch immer man zu ihren Urteilen im Einzelnen steht, beeindruckend ist bis heute Arendts Unabhängigkeit in ihren Urteilen. Dazu passt, dass man sie keiner Denktradition zuordnen kann. Die Argumente sind ja oft wirklich eigen. Die Arendt-Konjunktur erklärt sich aber auch über die Themen. Ihre Beschreibungen von Flucht und Staatenlosigkeit scheinen ebenso in unsere Zeit zu passen wie ihre Überlegungen zum Verhältnis von Wahrheit und Politik.
Auch die Pluralität, die Sie ja auch im Titel Ihres Buchs führen, ist ein sehr heutiger Begriff, manchmal auch ein Reizwort.
Arendts Begriff von Pluralität hat aber nichts mit dem indifferenten Nebeneinander unterschiedlicher Positionen zu tun, das diejenigen im Kopf haben, die sich heute so gerne auf eine Kultur der Pluralität berufen. Denn von Pluralität ist heute ja vor allem immer dann die Rede, wenn es darum geht, Streit zu beenden, am besten noch, bevor er überhaupt losgehen kann. Für Arendt gibt es Pluralität aber erst da, wo ordentlich gestritten und für die eigene Position gekämpft wird. Allein durch Auseinandersetzung kann zwischen den unterschiedlichen Positionen so etwas wie eine gemeinsame Welt entstehen. Arendts Pluralität lässt sich aber auch nicht in die Diversitätsforderung der gegenwärtigen Identitätspolitik übersetzen. Worum es ihr geht, ist eine viel radikalere Pluralität, die der singulären Weltzugänge der Einzelnen. Die Reduktion auf eine Gruppenidentität ist für Arendt eine Zumutung. Wenn man nur gehört wird als Repräsentantin einer Gruppe, erreicht man das Maß von Freiheit, das sie suchte, niemals. Man muss allerdings sagen, dass Arendt sich zu wenig für die Mechanismen interessiert hat, die das Erscheinen der, wie sie sagte, „Einzigartigkeit“ des Einzelnen im öffentlichen Raum verhindern.
Arendts Analysen sind scharf, etwa ihre Kritik an der Unzulänglichkeit der Menschenrechtserklärung. Dann aber erkannte sie die Dringlichkeit der Bürgerrechtsbewegung nicht an. Warum sah sie manches so klar und anderes nicht?
Arendt hat ihr Denken der Pluralität selbst zuweilen blockiert. Sie hat stets für eine Kultur der Pluralität gestritten, aber sie tat dies in den unterschiedlichen Kontexten, die ich mir in meinem Buch genauer angesehen habe, auf eine sehr streitbare Weise. In ihrer Auseinandersetzung mit den staatlichen Maßnahmen etwa zur Abschaffung der Segregation an Schulen in Little Rock, die sie kritisierte, hat sie die Logik sozialer Diskriminierung im Namen der Pluralität verteidigt. Da steckt eine Ignoranz gegenüber der Welt der Ausgeschlossenen drin. Außerdem zeigt sich eine gewisse Blindheit für ein problematisches Verständnis von politischer Freiheit der Herrschenden selbst. Denn die beschränkt sich durch den Ausschluss von anderen Perspektiven selbst. Eine Konsequenz ist, dass sie sich „entwirklicht“.
Welches Entwirklichungsproblem haben die Bewohner von Schwabing, Berlin-Mitte oder Princeton?
Na ja, in der Ignoranz der Herrschenden gegenüber großen Teilen der Welt zeigt sich ja eine Beschränktheit des Zugangs zur Welt. Statt, wie Arendt, immerzu von der vermeintlichen Weltlosigkeit der Ausgeschlossenen und Unterdrückten zu sprechen, muss man anfangen, so hat das Fred Moten einmal auf den Punkt gebracht, über die „verrückte Irrealität der Upper West Side“ zu sprechen.
Darum geht es auch in dem legendären Briefwechsel zwischen Arendt und James Baldwin von 1962.
James Baldwin hatte ein Problem, dem Arendt sich nicht nachdrücklich genug gestellt hat, nämlich, was es bedeutet, auf eine gemeinsame Welt zu beharren, wenn ein Teil, nämlich das weiße Amerika, die Gemeinsamkeit der Welt leugnet.
Als James Baldwin im „New Yorker“ den Rassismus der amerikanischen Gesellschaft beschrieb und den Schlüssel zur Veränderung in der Liebe sah, antwortete Arendt ihm recht belehrend in einem Brief, Liebe habe in der Politik nichts zu suchen. Warum war sie so streng?
Es ist bemerkenswert, wie oberflächlich sie Baldwin gelesen hat. Sehr voreilig sortiert sie ihn ein als Symptom ihrer kritischen Zeitdiagnose, nämlich der, dass der Raum der politischen Öffentlichkeit unzulässig überformt wird durch Motive, die sie als antipolitisch verstand, darunter die Liebe. Sie hat aber vollständig verfehlt, was Baldwin unter Liebe fasste, nämlich eine Arbeit, die das weiße Amerika vom Wahn der eigenen Unschuld zu erlösen versucht, um es so zur aufgeklärten Wirklichkeit zu befreien. Eine solche Liebe demonstriert sich in der Störung eines Weltbildes, das sich für andere Perspektiven unempfindlich gemacht hat. Sie steht, könnte man sagen, im Dienst einer Pluralität, deren Reichweite zu denken Arendt selbst verschlossen geblieben ist.
Wäre Arendt aus heutiger Sicht also der „weißen Ignoranz“ zu überführen?
Ich weiß nicht, ob dieses Label so produktiv ist im Fall Arendt. Die Krisen, in die Arendts Texte geraten, wenn es um Versklavung und antischwarzen Rassismus geht, entstammen unterschiedlichen Quellen. In dem Little-Rock-Text ist es beispielsweise ihre schräge Übertragung der jüdischen Erfahrung auf die der Schwarzen. In dem Imperialismus-Kapitel aus „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von 1955 ist es Arendts philosophischer Kolonialismus. Als ich dieses Kapitel für mein Buch wiedergelesen habe, fand ich alles noch viel schlimmer, als ich es ohnehin erwartet hatte. Sie will die Rassenideologie des 20. Jahrhunderts erklären, tut dies aber unter Rückgriff auf einen eigenen politischen Begriff der Rasse, der auf haltlosen Annahmen über den afrikanischen Kontinent, seine vermeintliche Weltlosigkeit und Grausamkeit, beruht. Sie übersieht die Bedeutung von vorimperialistischem Kolonialismus, transatlantischem Sklavenhandel und Versklavung für die Ideologien und Praktiken, die auch zu den Vorbedingungen der industriellen Massenvernichtung der europäischen Juden gehören. In anderen Zusammenhängen wiederum haben Arendts Bemerkungen eine erstaunliche Nähe zu einem um das Problem des sozialen Todes zentrierten Begriff der Sklaverei, wie er derzeit unter dem Titel „Afropessimismus“ diskutiert wird. Ohne dass Arendt selbst jedoch je aus diesen Überlegungen irgendeine Konsequenz für ihren eigenen Begriff öffentlicher Freiheit gezogen hätte. Wenn man diese Sachen liest, wirkt sie etwas alt, oder alteuropäisch eben.
Wollte Arendt eigentlich jemals die linke Gesellschaftskritikerin sein, als die sie jetzt häufig gelesen wird?
Dass man das versucht, ist Teil ihrer Stilisierung zur Säulenheiligen, würde ich sagen. Die Texte sperren sich eigentlich einer solchen Identifikation ganz deutlich. Einzelne Argumente lassen sich sehr unterschiedlichen Seiten des politischen Spektrums zuordnen.
Was bleibt von Hannah Arendt übrig?
Die Überzeugung, dass man urteilen muss, auch und gerade, wenn mit Gegenrede zu rechnen ist. Auch, dass die Bewegung und Dynamik, die aus der Auseinandersetzung entsteht, ein Geschenk ist. Auseinandersetzung ist bei Arendt Zuwendung, nicht Abkehr. Auch wenn das bei ihr manchmal in Rechthaberei überging, gab es eine leidenschaftliche Verpflichtung auf die Auseinandersetzung selbst. Das hat mich am meisten beeindruckt. Immer, wenn ich Arendt unterrichte, geht es heiß her im Seminar, ihre Texte fordern auf, Position zu beziehen. Da ist dann „fire in the classroom“.
INTERVIEW: MIRYAM SCHELLBACH
„Immer, wenn ich Arendt
unterrichte, geht es heiß her
im Seminar, ihre Texte fordern
auf, Position zu beziehen.“
Was für Juliane Rebentisch von Hanna Arendt übrig bleibt? „Die Überzeugung, dass man urteilen muss.“
Foto: Stefan Klüter/Suhrkamp Verlag
Juliane Rebentisch:
Der Streit um Pluralität – Auseinandersetzungen
mit Hannah Arendt.
Suhrkamp, Berlin 2021.
287 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Warum hat die Liebe in der Politik nichts zu suchen? Juliane Rebentisch über die blinden Flecken Hannah Arendts - und ihre bleibende Bedeutung
Wegen eines Schneesturms ist Juliane Rebentisch gerade einen Tag verspätet auf dem Campus der Universität Princeton in New Jersey angekommen. Sie wird dort wie sonst an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach Philosophie unterrichten. Vor 63 Jahren hatte Hannah Arendt an der Eliteuniversität eine kleine Revolution eingeleitet: 1959 war sie die erste Frau, die als Gastprofessorin in Princeton Vorlesungen hielt. Heute gilt Arendt als eine der großen Figuren der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, ein Philosophiestudium ohne Arendt-Lektüre ist kaum denkbar. Säulenheilige aber dürfen nicht nur bewundert, sie müssen wiedergelesen werden. Nun erscheint Juliane Rebentischs neues Buch über ihre Auseinandersetzung mit Hannah Arendt: „Der Streit um Pluralität“. Rebentisch hadert darin besonders mit Arendts Interventionen in die amerikanische Politik der Sechziger.
SZ: Frau Rebentisch, kaum eine Denkerin wird heute so häufig zitiert wie Hannah Arendt, eine Ausstellung im Historischen Museum in Berlin stellte sogar ihr Zigarettenetui und ihr Nerzjäckchen in die Vitrine. Was fasziniert immer noch so an ihr?
Juliane Rebentisch: Ihre bewegte Biografie auf beiden Seiten des Atlantiks steht exemplarisch für das 20. Jahrhundert. Aber es gibt auch eine Faszination für die streitbare Intellektuelle, die mit ihren Interventionen heftige Kontroversen ausgelöst hat. Wie auch immer man zu ihren Urteilen im Einzelnen steht, beeindruckend ist bis heute Arendts Unabhängigkeit in ihren Urteilen. Dazu passt, dass man sie keiner Denktradition zuordnen kann. Die Argumente sind ja oft wirklich eigen. Die Arendt-Konjunktur erklärt sich aber auch über die Themen. Ihre Beschreibungen von Flucht und Staatenlosigkeit scheinen ebenso in unsere Zeit zu passen wie ihre Überlegungen zum Verhältnis von Wahrheit und Politik.
Auch die Pluralität, die Sie ja auch im Titel Ihres Buchs führen, ist ein sehr heutiger Begriff, manchmal auch ein Reizwort.
Arendts Begriff von Pluralität hat aber nichts mit dem indifferenten Nebeneinander unterschiedlicher Positionen zu tun, das diejenigen im Kopf haben, die sich heute so gerne auf eine Kultur der Pluralität berufen. Denn von Pluralität ist heute ja vor allem immer dann die Rede, wenn es darum geht, Streit zu beenden, am besten noch, bevor er überhaupt losgehen kann. Für Arendt gibt es Pluralität aber erst da, wo ordentlich gestritten und für die eigene Position gekämpft wird. Allein durch Auseinandersetzung kann zwischen den unterschiedlichen Positionen so etwas wie eine gemeinsame Welt entstehen. Arendts Pluralität lässt sich aber auch nicht in die Diversitätsforderung der gegenwärtigen Identitätspolitik übersetzen. Worum es ihr geht, ist eine viel radikalere Pluralität, die der singulären Weltzugänge der Einzelnen. Die Reduktion auf eine Gruppenidentität ist für Arendt eine Zumutung. Wenn man nur gehört wird als Repräsentantin einer Gruppe, erreicht man das Maß von Freiheit, das sie suchte, niemals. Man muss allerdings sagen, dass Arendt sich zu wenig für die Mechanismen interessiert hat, die das Erscheinen der, wie sie sagte, „Einzigartigkeit“ des Einzelnen im öffentlichen Raum verhindern.
Arendts Analysen sind scharf, etwa ihre Kritik an der Unzulänglichkeit der Menschenrechtserklärung. Dann aber erkannte sie die Dringlichkeit der Bürgerrechtsbewegung nicht an. Warum sah sie manches so klar und anderes nicht?
Arendt hat ihr Denken der Pluralität selbst zuweilen blockiert. Sie hat stets für eine Kultur der Pluralität gestritten, aber sie tat dies in den unterschiedlichen Kontexten, die ich mir in meinem Buch genauer angesehen habe, auf eine sehr streitbare Weise. In ihrer Auseinandersetzung mit den staatlichen Maßnahmen etwa zur Abschaffung der Segregation an Schulen in Little Rock, die sie kritisierte, hat sie die Logik sozialer Diskriminierung im Namen der Pluralität verteidigt. Da steckt eine Ignoranz gegenüber der Welt der Ausgeschlossenen drin. Außerdem zeigt sich eine gewisse Blindheit für ein problematisches Verständnis von politischer Freiheit der Herrschenden selbst. Denn die beschränkt sich durch den Ausschluss von anderen Perspektiven selbst. Eine Konsequenz ist, dass sie sich „entwirklicht“.
Welches Entwirklichungsproblem haben die Bewohner von Schwabing, Berlin-Mitte oder Princeton?
Na ja, in der Ignoranz der Herrschenden gegenüber großen Teilen der Welt zeigt sich ja eine Beschränktheit des Zugangs zur Welt. Statt, wie Arendt, immerzu von der vermeintlichen Weltlosigkeit der Ausgeschlossenen und Unterdrückten zu sprechen, muss man anfangen, so hat das Fred Moten einmal auf den Punkt gebracht, über die „verrückte Irrealität der Upper West Side“ zu sprechen.
Darum geht es auch in dem legendären Briefwechsel zwischen Arendt und James Baldwin von 1962.
James Baldwin hatte ein Problem, dem Arendt sich nicht nachdrücklich genug gestellt hat, nämlich, was es bedeutet, auf eine gemeinsame Welt zu beharren, wenn ein Teil, nämlich das weiße Amerika, die Gemeinsamkeit der Welt leugnet.
Als James Baldwin im „New Yorker“ den Rassismus der amerikanischen Gesellschaft beschrieb und den Schlüssel zur Veränderung in der Liebe sah, antwortete Arendt ihm recht belehrend in einem Brief, Liebe habe in der Politik nichts zu suchen. Warum war sie so streng?
Es ist bemerkenswert, wie oberflächlich sie Baldwin gelesen hat. Sehr voreilig sortiert sie ihn ein als Symptom ihrer kritischen Zeitdiagnose, nämlich der, dass der Raum der politischen Öffentlichkeit unzulässig überformt wird durch Motive, die sie als antipolitisch verstand, darunter die Liebe. Sie hat aber vollständig verfehlt, was Baldwin unter Liebe fasste, nämlich eine Arbeit, die das weiße Amerika vom Wahn der eigenen Unschuld zu erlösen versucht, um es so zur aufgeklärten Wirklichkeit zu befreien. Eine solche Liebe demonstriert sich in der Störung eines Weltbildes, das sich für andere Perspektiven unempfindlich gemacht hat. Sie steht, könnte man sagen, im Dienst einer Pluralität, deren Reichweite zu denken Arendt selbst verschlossen geblieben ist.
Wäre Arendt aus heutiger Sicht also der „weißen Ignoranz“ zu überführen?
Ich weiß nicht, ob dieses Label so produktiv ist im Fall Arendt. Die Krisen, in die Arendts Texte geraten, wenn es um Versklavung und antischwarzen Rassismus geht, entstammen unterschiedlichen Quellen. In dem Little-Rock-Text ist es beispielsweise ihre schräge Übertragung der jüdischen Erfahrung auf die der Schwarzen. In dem Imperialismus-Kapitel aus „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von 1955 ist es Arendts philosophischer Kolonialismus. Als ich dieses Kapitel für mein Buch wiedergelesen habe, fand ich alles noch viel schlimmer, als ich es ohnehin erwartet hatte. Sie will die Rassenideologie des 20. Jahrhunderts erklären, tut dies aber unter Rückgriff auf einen eigenen politischen Begriff der Rasse, der auf haltlosen Annahmen über den afrikanischen Kontinent, seine vermeintliche Weltlosigkeit und Grausamkeit, beruht. Sie übersieht die Bedeutung von vorimperialistischem Kolonialismus, transatlantischem Sklavenhandel und Versklavung für die Ideologien und Praktiken, die auch zu den Vorbedingungen der industriellen Massenvernichtung der europäischen Juden gehören. In anderen Zusammenhängen wiederum haben Arendts Bemerkungen eine erstaunliche Nähe zu einem um das Problem des sozialen Todes zentrierten Begriff der Sklaverei, wie er derzeit unter dem Titel „Afropessimismus“ diskutiert wird. Ohne dass Arendt selbst jedoch je aus diesen Überlegungen irgendeine Konsequenz für ihren eigenen Begriff öffentlicher Freiheit gezogen hätte. Wenn man diese Sachen liest, wirkt sie etwas alt, oder alteuropäisch eben.
Wollte Arendt eigentlich jemals die linke Gesellschaftskritikerin sein, als die sie jetzt häufig gelesen wird?
Dass man das versucht, ist Teil ihrer Stilisierung zur Säulenheiligen, würde ich sagen. Die Texte sperren sich eigentlich einer solchen Identifikation ganz deutlich. Einzelne Argumente lassen sich sehr unterschiedlichen Seiten des politischen Spektrums zuordnen.
Was bleibt von Hannah Arendt übrig?
Die Überzeugung, dass man urteilen muss, auch und gerade, wenn mit Gegenrede zu rechnen ist. Auch, dass die Bewegung und Dynamik, die aus der Auseinandersetzung entsteht, ein Geschenk ist. Auseinandersetzung ist bei Arendt Zuwendung, nicht Abkehr. Auch wenn das bei ihr manchmal in Rechthaberei überging, gab es eine leidenschaftliche Verpflichtung auf die Auseinandersetzung selbst. Das hat mich am meisten beeindruckt. Immer, wenn ich Arendt unterrichte, geht es heiß her im Seminar, ihre Texte fordern auf, Position zu beziehen. Da ist dann „fire in the classroom“.
INTERVIEW: MIRYAM SCHELLBACH
„Immer, wenn ich Arendt
unterrichte, geht es heiß her
im Seminar, ihre Texte fordern
auf, Position zu beziehen.“
Was für Juliane Rebentisch von Hanna Arendt übrig bleibt? „Die Überzeugung, dass man urteilen muss.“
Foto: Stefan Klüter/Suhrkamp Verlag
Juliane Rebentisch:
Der Streit um Pluralität – Auseinandersetzungen
mit Hannah Arendt.
Suhrkamp, Berlin 2021.
287 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Martin Hartmann stockt der Atem, wenn Juliane Rebentisch Hannah Arendt zitiert. Da treten rassistische Klischees überdeutlich zutage, findet Hartmann. Dass es der Philosophieprofessorin Rebentisch jedoch nicht darum zu tun ist, Arendt zu verunglimpfen, wird für Hartmann ebenso deutlich. Es geht der Autorin vielmehr um eine Ehrenrettung Arendts, stellt er fest. Rebentischs akribische Analyse arbeitet laut Rezensent die Ambivalenzen im Denken Arendts heraus, vor allem, wenn die Autorin Arendts affirmatives Nachdenken über Pluralität untersucht. Bedauerlich findet Hartmann, dass Rebentisch ihm die Frage nicht beantwortet, wie es bei Arendt zu so eklatanten Widersprüchen kommen konnte.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.2022Eher knapp am Index vorbei
Juliane Rebentisch erörtert Zwiespältiges in Hannah Arendts politischer Philosophie
Eine Triggerwarnung sei vorweggeschickt: Die folgenden Sätze stammen von Hannah Arendt, aus ihrem berühmten Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", erstmals 1951 in englischer Ausgabe erschienen: "Der Rassebegriff der Buren entspringt aus dem Entsetzen vor Wesen, die weder Mensch noch Tier zu sein schienen und gespensterhaft, ohne alle faßbare zivilisatorische oder politische Realität, den schwarzen Kontinent bevölkerten und übervölkerten. Aus dem Entsetzen, daß solche Wesen auch Menschen sein könnten, entsprang der Entschluß, auf keinen Fall der gleichen Gattung Mensch anzugehören."
Was Arendt in dieser Passage zu etablieren suchte, ist nichts weniger als eine Theorie der Entstehung des Begriffs der "Rasse". Als Hintergrund dieser Theorie dienen Arendt die Erfahrungen der "europäischen Menschheit in Afrika"; die überwiegend weißen Siedler und Kolonisatoren sehen sich mit einheimischen dunkelhäutigen "Wesen" konfrontiert, deren moralischer Status als gleichwertiger Teil der Gattung Mensch offenbar leidenschaftlich bestritten werden musste. Man erfindet gewissermaßen - als "Notbehelf" - die Idee unterschiedlicher Rassen, um Abgrenzungen und Ausgrenzungen zu legitimieren und um den Begriff des vollwertigen Menschen für bestimmte Mitglieder der Gattung zu reservieren.
Das ist schockierend, zweifellos. Aber gibt Arendt nur eine Haltung wieder, die sie etwa den in der Passage genannten Buren unterstellt? Zitiert sie also nur die Haltungen anderer? Oder verraten die gewählten Formulierungen auch eigene Ansichten Arendts? Für Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, ist die Antwort klar: Arendts Thesen sind selbst "deutlich" rassistisch. In ihrem Buch erwähnt Rebentisch weitere Belege, die zeigen, dass Arendt selbst immer wieder in rassistische Klischees verfällt und gelegentlich sogar Bestandteile ihres politiktheoretischen Begriffsrepertoires heranzieht, um die Existenz unterschiedlicher "Rassen" zu belegen. So heißt es an späterer Stelle in der Totalitarismus-Studie, die Menschen in Afrika und Australien seien die "einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen", sie hätten keine Welt "erbaut" - Formulierungen, mit denen Arendt direkt an Begriffe wie den des Herstellens und den des Handelns anschließt, die sie in ihrem philosophischen Hauptwerk, "Vita Activa", ausführlicher theoretisch fundiert hat.
Das ist das eine. Doch Rebentisch bleibt an diesem Punkt nicht stehen, ihr Buch will das Werk Arendts nicht auf den Theorie-Index stellen. Mit großer Akribie und Zuneigung entwickelt sie vielmehr eine Lesart, die Arendt vor sich selbst, vor ihren eigenen Vorurteilen und Engführungen zu schützen vermag und allerlei Ambivalenzen herausarbeitet. Vor allem Arendts Nachdenken über Pluralität kann dazu dienen, etwa die rassistischen Passagen als unhaltbar zu entlarven. Im Grund nämlich, so Rebentisch, hätte Arendt eine große Abneigung "gegen alle Arten von Gemeinschaften, die auf Ähnlichkeit beruhen, seien diese Zwangs- oder Wahlgemeinschaften".
Pluralität ist dabei ein eminent politischer Begriff. Sie kommt dort zur Geltung, wo Menschen ihre von Geburt an bestehende Verschiedenheit im Rahmen eines kommunikativen Miteinanders in eine Einzigartigkeit transformieren, die den einen in seinem individuellen Weltzugang für die anderen nicht nur unverwechselbar macht, sondern zugleich ein "Geschehen" etabliert, das genau dann unvorhersehbares Handeln und Sprechen provoziert, wenn das kommunikative Miteinander offen und frei von verzerrenden privaten Interessen bleibt. In einer solchen kommunikativen Konstellation erweise sich das "Wer" der Person gerade nicht als fixiert, vielmehr ist die Konstellation offen für das "Sich-Ereignen von etwas, das anders ist als das, als 'was' es sich und anderen gerade erscheint".
Der politische Charakter dieses Begriffs von Pluralität mag nicht gleich ersichtlich sein. Freiheit aber ist für Arendt nichts anderes als das, was sich performativ ereignet, wenn Menschen miteinander sprechen und handeln und sich auf immer wieder unvorhersehbare Weise aufeinander beziehen. Nur wenn sie in dieser Weise offen für das Geschehen der Pluralität sind, werden sie gegebenenfalls ihre Meinungen und Haltungen ändern und sich von Vorurteilen, bloß privaten Vorlieben oder rein ökonomischen Interessen befreien. Sie sind gleichsam in ihrer Einzigartigkeit gleich und überwinden alle sie sonst trennenden Differenzen, um eine gemeinsame Welt politischer Gestaltung ausfindig zu machen. Wird die politische Sphäre von ökonomischen Interessen geflutet oder ethno-nationalistisch verengt, dann verliert sie die ihr eigene Offenheit und Pluralität und den Charakter des unvorhersehbaren Geschehens, das mit dieser Offenheit und Pluralität wesentlich verzahnt ist.
Es ist ersichtlich, wie Rebentisch diesen Pluralitätsgedanken immer wieder zur Verteidigung Arendts in Stellung bringen kann und so eine Theorie "mit und gegen Hannah Arendt" entwickelt. Leicht hat es diese Verteidigung dabei nicht, denn die Kritik an Arendts Politikbegriff ist Legion. Vor allem die scharfe Trennung der politischen Sphäre von der gesellschaftlichen und privaten Sphäre hat Kritik hervorgerufen, nicht zuletzt von feministischer Seite. Wenn Politik sich nur im öffentlichen Raum vollziehen darf, wenn sie ganz und gar abgetrennt von gesellschaftlichen Belangen sein soll, dann akzeptiert sie offenbar all die Ungleichheiten und Diskriminierungen, die sich im Raum des Privaten, aber auch im Raum des Ökonomischen ergeben.
Für Rebentisch ist diese Beschränkung des Raums der Politik inakzeptabel, das zeigen ihre sorgfältigen Rekonstruktionen einzelner politischer Interventionen der öffentlichen Intellektuellen, die Arendt immer auch war. Aber sie bleibt am Ende dabei, dass die von ihr an vielen Stellen geäußerte Kritik Arendts Werk nicht ganz und gar diskreditiert, auch wenn sie sich gelegentlich fast ein wenig ratlos fragt, wie es zu diesen Inkonsistenzen und Widersprüchen kommen konnte.
Eine Erklärung dafür liefert das Buch nicht, was schade ist, denn eine weniger entgegenkommende Lektüre könnte ja einen viel engeren Zusammenhang zwischen den systematisch-philosophischen Grundkategorien Arendts und den kritisierten Positionen zu erkennen versuchen. Das große Verdienst von Rebentischs Buch besteht darin, die Latte der Ehrenrettung Arendts ziemlich hoch gehängt zu haben. Kein Zweifel, sie überspringt diese Höhe, aber die Latte, um im Bild zu bleiben, schwingt doch deutlich nach. MARTIN HARTMANN
Juliane Rebentisch: "Der Streit um Pluralität". Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 287 S., geb.,
28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Juliane Rebentisch erörtert Zwiespältiges in Hannah Arendts politischer Philosophie
Eine Triggerwarnung sei vorweggeschickt: Die folgenden Sätze stammen von Hannah Arendt, aus ihrem berühmten Buch "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", erstmals 1951 in englischer Ausgabe erschienen: "Der Rassebegriff der Buren entspringt aus dem Entsetzen vor Wesen, die weder Mensch noch Tier zu sein schienen und gespensterhaft, ohne alle faßbare zivilisatorische oder politische Realität, den schwarzen Kontinent bevölkerten und übervölkerten. Aus dem Entsetzen, daß solche Wesen auch Menschen sein könnten, entsprang der Entschluß, auf keinen Fall der gleichen Gattung Mensch anzugehören."
Was Arendt in dieser Passage zu etablieren suchte, ist nichts weniger als eine Theorie der Entstehung des Begriffs der "Rasse". Als Hintergrund dieser Theorie dienen Arendt die Erfahrungen der "europäischen Menschheit in Afrika"; die überwiegend weißen Siedler und Kolonisatoren sehen sich mit einheimischen dunkelhäutigen "Wesen" konfrontiert, deren moralischer Status als gleichwertiger Teil der Gattung Mensch offenbar leidenschaftlich bestritten werden musste. Man erfindet gewissermaßen - als "Notbehelf" - die Idee unterschiedlicher Rassen, um Abgrenzungen und Ausgrenzungen zu legitimieren und um den Begriff des vollwertigen Menschen für bestimmte Mitglieder der Gattung zu reservieren.
Das ist schockierend, zweifellos. Aber gibt Arendt nur eine Haltung wieder, die sie etwa den in der Passage genannten Buren unterstellt? Zitiert sie also nur die Haltungen anderer? Oder verraten die gewählten Formulierungen auch eigene Ansichten Arendts? Für Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, ist die Antwort klar: Arendts Thesen sind selbst "deutlich" rassistisch. In ihrem Buch erwähnt Rebentisch weitere Belege, die zeigen, dass Arendt selbst immer wieder in rassistische Klischees verfällt und gelegentlich sogar Bestandteile ihres politiktheoretischen Begriffsrepertoires heranzieht, um die Existenz unterschiedlicher "Rassen" zu belegen. So heißt es an späterer Stelle in der Totalitarismus-Studie, die Menschen in Afrika und Australien seien die "einzigen ganz geschichts- und tatenlosen Menschen", sie hätten keine Welt "erbaut" - Formulierungen, mit denen Arendt direkt an Begriffe wie den des Herstellens und den des Handelns anschließt, die sie in ihrem philosophischen Hauptwerk, "Vita Activa", ausführlicher theoretisch fundiert hat.
Das ist das eine. Doch Rebentisch bleibt an diesem Punkt nicht stehen, ihr Buch will das Werk Arendts nicht auf den Theorie-Index stellen. Mit großer Akribie und Zuneigung entwickelt sie vielmehr eine Lesart, die Arendt vor sich selbst, vor ihren eigenen Vorurteilen und Engführungen zu schützen vermag und allerlei Ambivalenzen herausarbeitet. Vor allem Arendts Nachdenken über Pluralität kann dazu dienen, etwa die rassistischen Passagen als unhaltbar zu entlarven. Im Grund nämlich, so Rebentisch, hätte Arendt eine große Abneigung "gegen alle Arten von Gemeinschaften, die auf Ähnlichkeit beruhen, seien diese Zwangs- oder Wahlgemeinschaften".
Pluralität ist dabei ein eminent politischer Begriff. Sie kommt dort zur Geltung, wo Menschen ihre von Geburt an bestehende Verschiedenheit im Rahmen eines kommunikativen Miteinanders in eine Einzigartigkeit transformieren, die den einen in seinem individuellen Weltzugang für die anderen nicht nur unverwechselbar macht, sondern zugleich ein "Geschehen" etabliert, das genau dann unvorhersehbares Handeln und Sprechen provoziert, wenn das kommunikative Miteinander offen und frei von verzerrenden privaten Interessen bleibt. In einer solchen kommunikativen Konstellation erweise sich das "Wer" der Person gerade nicht als fixiert, vielmehr ist die Konstellation offen für das "Sich-Ereignen von etwas, das anders ist als das, als 'was' es sich und anderen gerade erscheint".
Der politische Charakter dieses Begriffs von Pluralität mag nicht gleich ersichtlich sein. Freiheit aber ist für Arendt nichts anderes als das, was sich performativ ereignet, wenn Menschen miteinander sprechen und handeln und sich auf immer wieder unvorhersehbare Weise aufeinander beziehen. Nur wenn sie in dieser Weise offen für das Geschehen der Pluralität sind, werden sie gegebenenfalls ihre Meinungen und Haltungen ändern und sich von Vorurteilen, bloß privaten Vorlieben oder rein ökonomischen Interessen befreien. Sie sind gleichsam in ihrer Einzigartigkeit gleich und überwinden alle sie sonst trennenden Differenzen, um eine gemeinsame Welt politischer Gestaltung ausfindig zu machen. Wird die politische Sphäre von ökonomischen Interessen geflutet oder ethno-nationalistisch verengt, dann verliert sie die ihr eigene Offenheit und Pluralität und den Charakter des unvorhersehbaren Geschehens, das mit dieser Offenheit und Pluralität wesentlich verzahnt ist.
Es ist ersichtlich, wie Rebentisch diesen Pluralitätsgedanken immer wieder zur Verteidigung Arendts in Stellung bringen kann und so eine Theorie "mit und gegen Hannah Arendt" entwickelt. Leicht hat es diese Verteidigung dabei nicht, denn die Kritik an Arendts Politikbegriff ist Legion. Vor allem die scharfe Trennung der politischen Sphäre von der gesellschaftlichen und privaten Sphäre hat Kritik hervorgerufen, nicht zuletzt von feministischer Seite. Wenn Politik sich nur im öffentlichen Raum vollziehen darf, wenn sie ganz und gar abgetrennt von gesellschaftlichen Belangen sein soll, dann akzeptiert sie offenbar all die Ungleichheiten und Diskriminierungen, die sich im Raum des Privaten, aber auch im Raum des Ökonomischen ergeben.
Für Rebentisch ist diese Beschränkung des Raums der Politik inakzeptabel, das zeigen ihre sorgfältigen Rekonstruktionen einzelner politischer Interventionen der öffentlichen Intellektuellen, die Arendt immer auch war. Aber sie bleibt am Ende dabei, dass die von ihr an vielen Stellen geäußerte Kritik Arendts Werk nicht ganz und gar diskreditiert, auch wenn sie sich gelegentlich fast ein wenig ratlos fragt, wie es zu diesen Inkonsistenzen und Widersprüchen kommen konnte.
Eine Erklärung dafür liefert das Buch nicht, was schade ist, denn eine weniger entgegenkommende Lektüre könnte ja einen viel engeren Zusammenhang zwischen den systematisch-philosophischen Grundkategorien Arendts und den kritisierten Positionen zu erkennen versuchen. Das große Verdienst von Rebentischs Buch besteht darin, die Latte der Ehrenrettung Arendts ziemlich hoch gehängt zu haben. Kein Zweifel, sie überspringt diese Höhe, aber die Latte, um im Bild zu bleiben, schwingt doch deutlich nach. MARTIN HARTMANN
Juliane Rebentisch: "Der Streit um Pluralität". Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 287 S., geb.,
28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Mit großer Akribie und Zuneigung entwickelt [Rebentisch] eine Lesart, die Arendt vor sich selbst, vor ihren eigenen Vorurteilen und Engführungen zu schützen vermag und allerlei Ambivalenzen herausarbeitet.« Martin Hartmann Frankfurter Allgemeine Zeitung 20220520