"Der Tag vor dem Abend" - das meint die Jahre, in denen das Alter unwiderruflich voranschreitet, eine Rechenschaft fällig wird. In seinem achtzigsten Jahr legt Harald Hartung sein persönlichstes Buch vor: Aufzeichnungen aus den Jahren 1998 bis 2012. Sie verbinden die Sensibilität des Poeten mit der Gedankenklarheit des Kritikers. Sie mischen Denkstücke und Reflexionen, Momentaufnahmen und Rückblicke, in denen die Dinge der Welt aufleuchten. Neben luziden Reisebildern finden sich Überlegungen zu Kunst und Dichtung (auch der eigenen), Aphorismen über Alter und Produktivität sowie Erinnerungen an eine Kindheit im Dritten Reich. Aus vielen Komponenten entstand ein skeptisch-heiteres Merkbuch des Handwerks, ein Brevier des Lebens und der Kunst.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.11.2012Die Wahrheit liegt auch mal in Gips
Relevant ist, was für einen selbst relevant ist: Harald Hartungs Aufzeichnungen über sich und die Lyrik
Was Hans Blumenberg über die Philosophie sagte, gilt Harald Hartung zufolge auch für die Lyrik, nämlich dass sie ein Angebot ist, das nicht ausschließt, dass "die meisten Menschen anderes und Besseres zu tun haben, als Gedichte zu schreiben". Hartung hat sich als Dichter, Essayist, Literaturprofessor und Kritiker so intensiv mit der Lyrik beschäftigt wie wohl kein anderer, aber er stimmt nicht in die notorische Klage über die mangelnde Wertschätzung der Gattung ein. Die Frage "Für wen eigentlich?", die sich Blumenberg in seinen letzten Jahren gestellt haben soll, erübrigt sich, weil die Poesie bei allem Ernst der Beschäftigung mit ihr doch ein Spiel sei. Relevant ist, was für einen selbst relevant ist.
So weist Hartung Resignation ab, doch interessiert er sich in seinen Aufzeichnungen seit 1998 zunehmend für die Resignation anderer, für Aufhören, Rückblick, Trennung, Abschied und letzte Worte. Für jeden Menschen, zitiert er Helen Wolff im Zusammenhang mit Max Frischs Entschluss, das Schreiben bleibenzulassen, komme die Stunde der Resignation. Noch die jüngsten Aufzeichnungen aber zeugen von Neugier bei der Lektüre, der Menschenbeobachtung, von Freude am Reisen und der bildenden Kunst, von wacher Zeitgenossenschaft, auch was das Politische betrifft. Die tröstlichen und schönen Bemerkungen zum Alter, die das Bändchen reichlich enthält, changieren funkelnd zwischen Melancholie, Heiterkeit und ironisch relativierter Sorge um sich selbst.
"Diese Lyriker, sie können niemandem weh tun", hat Marcel Reich-Ranicki einmal zu Hartung gesagt und es für Karl Krolow noch einmal wiederholt. Auch eine befreundete Schriftstellerin meinte, Hartung müsse mutiger werden. Beides aber stimmt nicht durchweg. Hartung ist, wie den Lesern dieser Zeitung wohlbekannt ist, ein maßvoller, vorsichtiger und freundlicher Kritiker, der immer bereit ist, jeder intensiven Bemühung in der Gattung seinen Respekt zu erweisen. Wenn er aber Prätention und schlechtes Handwerk wahrnimmt, dann scheut er vor dem eindeutigen, oft auch spöttischen Verriss nicht zurück. Und wenn er daraufhin von einem gekränkten Poeten hasserfüllt angestarrt wird, dann gefällt ihm das "fast". Daran erkennt man den wahren, den leidenschaftlichen Kritiker, der sich freilich jederzeit bewusst ist, dass er "eine kurzfristige Magie" ausübt.
Auch dieses Büchlein zeugt von Warmherzigkeit, zugleich aber von Distanz. Stillosigkeit und falsche Töne geben Harald Hartung regelmäßig einen "Stich ins Herz", so wenn ein Büchner-Preisträger meint, den "lieben Georg" nun duzen zu müssen. Stephan Hermlin war besonders stolz auf die Zeile "Was ich ganz scheine, dessen bin ich bar". Das sei vollkommen wahr. Hartung liest das kühl als "das Eingeständnis, sich lebenslang maskiert zu haben". Im Übrigen sei das "als Formulierung ziemlich verschmockt". Ohne Eifer, eher amüsiert fügt er an, die Wahrheit komme eben manchmal in Gips daher.
Hartung berichtet auch von den kleinen und größeren Unannehmlichkeiten des Alters, lässt sich aber gern von dem Hirnforscher Ernst Pöppel belehren und trösten, das Alter bringe "eine verlangsamte, aber nicht wirklich reduzierte Informationsverarbeitung" mit sich. Wer sich mit Gedichten beschäftigt, dessen Gehirn hat Pöppel zufolge ohnehin von jeher und jederzeit viel zu tun: "Das Gedicht war eine ungeheure Erfindung. Bevor es die großen Schriften gab, wurde das ganze Menschenwissen in gebundener Sprache überliefert."
Es gibt vermutlich keine bedeutende Lyrik, die Harald Hartung nicht gelesen hätte. Das Schreiben wird er auch nach seinem kürzlich gefeierten achtzigsten Geburtstag zum Glück noch lange nicht bleibenlassen.
FRIEDMAR APEL
Harald Hartung: "Der Tag vor dem Abend". Aufzeichnungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 160 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Relevant ist, was für einen selbst relevant ist: Harald Hartungs Aufzeichnungen über sich und die Lyrik
Was Hans Blumenberg über die Philosophie sagte, gilt Harald Hartung zufolge auch für die Lyrik, nämlich dass sie ein Angebot ist, das nicht ausschließt, dass "die meisten Menschen anderes und Besseres zu tun haben, als Gedichte zu schreiben". Hartung hat sich als Dichter, Essayist, Literaturprofessor und Kritiker so intensiv mit der Lyrik beschäftigt wie wohl kein anderer, aber er stimmt nicht in die notorische Klage über die mangelnde Wertschätzung der Gattung ein. Die Frage "Für wen eigentlich?", die sich Blumenberg in seinen letzten Jahren gestellt haben soll, erübrigt sich, weil die Poesie bei allem Ernst der Beschäftigung mit ihr doch ein Spiel sei. Relevant ist, was für einen selbst relevant ist.
So weist Hartung Resignation ab, doch interessiert er sich in seinen Aufzeichnungen seit 1998 zunehmend für die Resignation anderer, für Aufhören, Rückblick, Trennung, Abschied und letzte Worte. Für jeden Menschen, zitiert er Helen Wolff im Zusammenhang mit Max Frischs Entschluss, das Schreiben bleibenzulassen, komme die Stunde der Resignation. Noch die jüngsten Aufzeichnungen aber zeugen von Neugier bei der Lektüre, der Menschenbeobachtung, von Freude am Reisen und der bildenden Kunst, von wacher Zeitgenossenschaft, auch was das Politische betrifft. Die tröstlichen und schönen Bemerkungen zum Alter, die das Bändchen reichlich enthält, changieren funkelnd zwischen Melancholie, Heiterkeit und ironisch relativierter Sorge um sich selbst.
"Diese Lyriker, sie können niemandem weh tun", hat Marcel Reich-Ranicki einmal zu Hartung gesagt und es für Karl Krolow noch einmal wiederholt. Auch eine befreundete Schriftstellerin meinte, Hartung müsse mutiger werden. Beides aber stimmt nicht durchweg. Hartung ist, wie den Lesern dieser Zeitung wohlbekannt ist, ein maßvoller, vorsichtiger und freundlicher Kritiker, der immer bereit ist, jeder intensiven Bemühung in der Gattung seinen Respekt zu erweisen. Wenn er aber Prätention und schlechtes Handwerk wahrnimmt, dann scheut er vor dem eindeutigen, oft auch spöttischen Verriss nicht zurück. Und wenn er daraufhin von einem gekränkten Poeten hasserfüllt angestarrt wird, dann gefällt ihm das "fast". Daran erkennt man den wahren, den leidenschaftlichen Kritiker, der sich freilich jederzeit bewusst ist, dass er "eine kurzfristige Magie" ausübt.
Auch dieses Büchlein zeugt von Warmherzigkeit, zugleich aber von Distanz. Stillosigkeit und falsche Töne geben Harald Hartung regelmäßig einen "Stich ins Herz", so wenn ein Büchner-Preisträger meint, den "lieben Georg" nun duzen zu müssen. Stephan Hermlin war besonders stolz auf die Zeile "Was ich ganz scheine, dessen bin ich bar". Das sei vollkommen wahr. Hartung liest das kühl als "das Eingeständnis, sich lebenslang maskiert zu haben". Im Übrigen sei das "als Formulierung ziemlich verschmockt". Ohne Eifer, eher amüsiert fügt er an, die Wahrheit komme eben manchmal in Gips daher.
Hartung berichtet auch von den kleinen und größeren Unannehmlichkeiten des Alters, lässt sich aber gern von dem Hirnforscher Ernst Pöppel belehren und trösten, das Alter bringe "eine verlangsamte, aber nicht wirklich reduzierte Informationsverarbeitung" mit sich. Wer sich mit Gedichten beschäftigt, dessen Gehirn hat Pöppel zufolge ohnehin von jeher und jederzeit viel zu tun: "Das Gedicht war eine ungeheure Erfindung. Bevor es die großen Schriften gab, wurde das ganze Menschenwissen in gebundener Sprache überliefert."
Es gibt vermutlich keine bedeutende Lyrik, die Harald Hartung nicht gelesen hätte. Das Schreiben wird er auch nach seinem kürzlich gefeierten achtzigsten Geburtstag zum Glück noch lange nicht bleibenlassen.
FRIEDMAR APEL
Harald Hartung: "Der Tag vor dem Abend". Aufzeichnungen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012. 160 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Es hat wohl kaum ein anderer so viel Ahnung von Lyrik wie der Dichter, Literaturprofessor und Kritiker Harald Hartung, bescheinigt ihm sein FAZ-Kollege Friedmar Apel. In "Der Tag vor dem Abend" sind Hartungs Aufzeichnungen aus den Jahren 1998 bis 2012 versammelt. Zu Beginn widmet er sich noch der Resignation jener Dichter, die beschlossen haben, das Schreiben aufzugeben, berichtet der Rezensent. Diese Resignation ist Hartung selbst vollkommen fremd, weiß Apel. Die Dichtung betreibt er als Spiel. Die Aufzeichnungen zeugen aber auch von seiner anhaltenden Neugier für Menschen, Kunst und Zeitgeschichte, verspricht der Rezensent. Besonders Hartungs Bemerkungen zum Alter findet Apel tröstlich und schön. Der Rezensent wünscht sich, dass Hartung sein Schreibspiel noch lange weiter betreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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